Interdisziplinäres Projekt am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (1992ff.)

Goethe und die Verzeitlichung der Natur

 

Die Studie erschien im Verlag C. H. Beck: München 1998.

 


 

     
 

Mein Kontakt zum KWI geht auf den Oktober 1991 zurück. Klaus Michael Meyer-Abich hatte mich damals eingeladen, Ideen zur Konzeption eines Goethe-Sonderbandes im Rahmen des Projekts „Kulturgeschichte der Natur“ vorzutragen. Dabei ging ich von folgenden Überlegungen aus:

Ähnlich wie bei Leonardo, dem ebenfalls ein Sonderband in der – ansonsten thematisch gegliederten – Kulturgeschichte der Natur gewidmet ist, macht auch Goethes Universalität eine synoptische Darstellung erforderlich. Beider Lebenswerke sind durch eine Bündelung und wechselseitige Durchdringung von Tätigkeits-feldern gekennzeichnet, die in einem sonst nicht erreichten Maße die institutionel-len und ideologischen Grenzen der Kultursphären über-winden. Synkretisten indessen sind beide nicht. Schon bei Leonardo, ähnlich wie dann bei Goethe, ergeben sich neben, ja gerade aus der Kooperation von Kunst und Wissenschaft Kontrasteffekte, die sich als mar-kante Spuren in die Problemgeschichte der Neuzeit ein-schreiben: Das Auseinandertreten von Idee und Erfahrung wird hier zum Anlaß alternati-ver Naturkonzepte, deren historische Potentiale unsere besondere Beachtung verdienen. Denn historisch sind sie nicht als über-holte Lösungen, sondern als offengebliebene Fragen; – bei Leonardo kreisen sie um das Verhältnis von Kraft und Bewegung, bei Goethe um das von Natur und Geschichte.

Das Verhältnis von Natur und Geschichte durchläuft in der Goethezeit einen dramatischen Transformationsprozeß: Die traditionell räumlich, als Tableaux konzipierten Natur-geschichten weichen der modernen Dynamisierung und Historisierung der Natur. Dieser Transformations-prozeß, der quer durch alle Kultur-bereiche geht, ist unter dem Stichwort der Temporalisierung von der Wissenschafts-geschichte bereits seit längerem beschrieben worden; seine kultur- und kunst-geschichtliche Dimension findet erst in neuerer Zeit systematische Beachtung. Die besondere Rolle aber, die Goethe bei der Verarbeitung des Verzeitlichungsprozesses spielt, indem er ihn in allen Bereichen und auf allen historischen Stufen zugleich partizipierend und subvertierend verarbeitet hat, ist bisher immer noch zu wenig hervorgehoben worden.

Diese Chance einer transkulturellen Neuaneignung der Goetheschen Naturwahrnehmung, die in der Fülle der Spezialuntersuchungen zu seinem wissenschaftlichen oder politischen oder künstlerischen Werk allzuleicht übersehen wird, sollte der geplante Sonderband nutzen. Dies zu tun, heißt sich von der Vorstellung verabschieden, es gäbe das Naturbild Goethes. Goethe hat viel zu sensibel und kreativ auf die Veränderungen seiner Zeit reagiert, und er war viel zu sehr involviert in die Ausdifferenzierung der kulturellen Wert-sphären, als daß eine solche Verein-heitlichung angemessen wäre. Daß er die Komplexität der Moderne nicht nivellierte, sondern daß er ihre Widersprüche in seinem Werk zutage förderte und somit transzendierte, gerade dies legitimiert unsere Erwartung, an ihm unser eigenes Sensorium für die Ambivalenzen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zu schulen. Goethes Naturbilder bieten uns Kontra-fakturen des Verzeitlichungsprozesses – Kontra-fakturen im doppelten Wortsinne der Nach-bildung und der Gegen-schöpfung.

Seit Juni 1992, als ich meine Promotion abgeschlossen hatte, konnte ich als Fellow des KWI ein zweijähriges Stipendium dazu nutzen, diese Leitidee zu konkretisieren und das Projekt in die Tat umzusetzen. Meine Herausgebertätigkeit begann ich damit, daß ich auf der Basis meiner Ideenskizze – im ständigen Austausch mit den Teilnehmern unserer Arbeitsgruppe – eine Konzeption erarbeitete, die folgende fünf Maximen zur Grundlage hat:

• Polyperspektivität (Goethe als transkulturelles, wissenschaftlich-künstlerisch-politisches „Kollektivwesen“)
• Kontextualität (Einbettung Goethes in seine Zeit statt Idolisierung des Individuums)
• Komplementarität von Kunst und Wissenschaft (d.h. Berücksichtigung ihrer – produktiven – Gegensätzlichkeit in der Auswahl und Anordnung der entsprechenden Artikel)
• Verhältnis von Natur und Geschichte als gemeinsamer Leitfaden aller Beiträge (vgl. das oben zur Temporalisierung Ausgeführte)
• Unterscheidung dreier Herangehensweisen an Goethe und der entsprechenden Darstellungsebenen als Grobgliederung des Bandes (historische Rekonstruktion, rezeptionsgeschichtliche Deutung, problemorientierte Aktualisierung).

Erst nach der Formulierung eines entsprechenden Konzeptpapiers und einer ersten Skizzierung der einzelnen Themenfelder für die Beiträge ging ich an die Autorenfindung. Denn ich wollte es vermeiden, ein bloßes Sammelsurium von Artikeln zu kompilieren; vielmehr sollte der Band bei aller Aspektenvielfalt eine einheitliche Grundstruktur aufweisen, der ihn zu der Idee des Gesamtprojekts in ein systematisches Verhältnis setzt. (Selbstverständlich sind aber viele der skizzierten Themen ihrerseits hervorgegangen aus Arbeiten herausragender und ob ihrer Relevanz dann auch angesprochener Goethe-Forscher.) In Verbindung mit Hartmut Böhme (seinerzeit ebenfalls am KWI), Karl Robert Mandelkow (Hamburg) und Klaus Michael Meyer-Abich sowie durch die Nutzung der besonderen Infrastruktur des KWI gelang es nach einer Phase intensiver Recherche und Korrespondenz, eine Gruppe in- und ausländischer Autoren zusammenzustellen, das eine ideale Besetzung für die Programmatik des Bandes darstellt.