Peter Matussek

Spreng-Sätze im Kulturspeicher

Kleine Universalgeschichte der literarischen Gedächtniskritik.

 


Erschienen in: Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik und Naturerfahrung; Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, S. 223–237.

 

     
 

 

Schon ordinäre Jahreswechsel werden gern als Anlässe zur Rückbesinnung genommen. Die bevorstehende Jahrhundert- und Jahrtausendwende stellt ein solches Vorhaben vor monumentale, ja mnemopathische Anforderungen. Doch unser vergehendes Millenium scheint davor nicht kapitulieren zu wollen. Mit einer Sammelwut ohnegleichen sprengt es immer wieder die Grenzen seiner Speicherkapazitäten, die trotz rasanter Weiterentwicklung der Packungsdichte vom Zustrom an Informationen stets überfordert sind. Dem gesellt sich in Deutschland das Spezifikum eines Gedenkeifers, der – wie jüngst die Vorschläge zum Berliner Holocaust-Mahnmal wieder bewiesen haben – ebenfalls neuen Rekorden entgegeneilt. "Es scheint", schrieb Henryk Broder dazu, "als wollten die Organisatoren und Teilnehmer des Wettbewerbs um das Denkmal für die ermordeten Juden Europas sagen: 'Den Holocaust macht uns keiner nach – seine Bewältigung auch nicht!'"[1] Michael Bodemann spricht angesichts solcher Phänomene von Gedächtnistheater.[2] 

Der ambivalente Gebrauch des Worts macht zugleich auf ein grundsätzliches Problem aufmerksam; er hinterfragt das zentrale Gedächtnismodell des Abendlandes: Die Memoriatheater der Renaissance, auf die Bodemann aktualisierend anspielt, sind nur die epochentypische Form einer jahrtausendealten mnemotechnischen Inszenierung, deren Ursprünge auf die Gedächtnispaläste der antiken Rhetorik zurückgehen und deren Folgen sich bis in die graphischen Interfaces der heutigen Speichermedien hinein fortsetzen. Die Dramaturgie unseres Informationszeitalters sieht Computers as Theatre[3], und auch die Zukunft hat sich unter dem Stichwort Mapping the Next Millenium[4]dem Projekt der topographischen Wissensrepräsentation verschrieben. Je emsiger daran derzeit gearbeitet wird, um so energischer sind auch die Stimmen der Kritik, die darauf aufmerksam machen, daß das äußere Sammeln die innere Sammlung verhindert. Der ins Lager der Gegner konvertierte Internet-Pionier Clifford Stoll vergleicht die Informationssuche im Cyberspace mit dem Trinken aus einem Feuerwehrschlauch: "Man wird ziemlich naß und zieht doch durstig von dannen."[5] Und Tzvetan Todorov riskiert das Mißverständnis seiner Kritiker, wenn er sich in seinem neuen Buch über den Holocaust auch auf diesem Feld gegen Gedenkgebote ausspricht.[6] Er plädiert damit selbstverständlich nicht für das Vergessen der Vergangenheit, sondern im Gegenteil für die Freisetzung von Erinnerungspotentialen, die durch mnemonische Inszenierungen überdeckt werden. Aufklärung über das "Vergessen des Erinnerns im Gedenken" ist – auch nach dem Urteil von Richard David Precht – eine der vordringlichsten Aufgaben der gegenwärtigen Kulturwissenschaft.[7]

Neu ist dieses Programm freilich nicht. Es ist, wie noch zu zeigen sein wird, gleichurspünglich mit der Erfindung des künstlichen Gedächtnisses. Seinen ersten Höhepunkt findet es in Platons Kritik der Hypomnemata, der externen Speicherprothesen, deren Gebrauch er für die Verkümmerung wahrhaften Erinnerns, der Anamnesis, verantwortlich macht. Die einschlägigen Passagen aus dem Phaidros-Dialog werden heute, aus gegebenem Anlaß, immer wieder zitiert. Übersehen wird dabei freilich oft, daß Platon seine Verurteilung der wichtigsten Gedächtnisstütze seiner Zeit, der Schrift, ihrerseits in Schriftform niedergelegt hat. Was auf den ersten Blick paradox erscheint, ist eine konsequente Übertragung der sokratischen Methode auf das geschmähte Medium. Wie diese die auswendiggelernten Meinungen, die Doxa, unterläuft, um zur Anamnesis vorzudringen, so subvertieren Platons Dialoge ihren eigenen Aufzeichnungscharakter. Die Schrift wird selbstkritisch gegen ihre mnemonische Funktionalität gewendet, und genau das qualifiziert sie zur Literatur. Auf die universale Geltung dieses Grundprinzips spielt etwa Heimito von Doderer an, wenn er sagt: "Es brauchte sich einer nur wirklich zu erinnern und er wäre ein Dichter."[8] Im folgenden soll das an einigen historischen Beispielen verdeutlicht werden, die sich – dem chronologischen Maßstab unseres Heftthemas entsprechend – über Jahrtausende erstrecken. Immer spielt dabei das Vergessen eine entscheidende Rolle. Es handelt sich um eine Doppelrolle: Es erscheint zum einen als Effekt einer Gedächtnishypertrophie, zum anderen als Mittel ihrer Überwindung. In der ersten Gestalt wird es zum Anlaß literarischer Erinnerungstechniken, in der zweiten fungiert es als deren Katalysator.

 

 

I. Gedächtnispalästen entrinnend

 

Die paradoxe Feststellung, daß die Erfindung der Gedächtniskunst und das Projekt ihrer literarischen Kritik gleichursprünglich sind, geht aus der rhetorischen Überlieferung hervor. Nach Auskunft der einschlägigen Quellen – vom Autor der Rhetorica ad Herennium über Cicero und Quinitilian – war es ausgerechnet ein Dichter, ein Lyriker gar, der die poesiefeindlichen Grundregeln der Mnemonik erfand: der für seine Threnoi, gesungene Nachrufe, berühmte Simonides von Keos. Der müßte sich eigentlich, folgt man den Berichten, an jenem denkwürdigen Tag in einer labilen Verfassung befunden haben. Als Sänger war er zum Gastmahl im Palast des Skopas geladen. Das brachte ihm zunächst Ärger ein, da der Besungene mit der Gage geizte, dann wurde er vor die Tür gerufen und entkam damit gerade noch dem Einsturz des Palastes. Die Quellen erwähnen jedoch nichts über das Wechselbad der Gefühle, dem er vermutlich ausgesetzt war – nichts von Regungen der Erleichterung über das Entrinnen vor der Katastrophe, nichts von Trauer und Entsetzen darüber, sie ansehen zu müssen. Simonides soll stattdessen erbarmunglos nüchtern der Beobachtung nachgesonnen haben, daß es die so grausam fixierte Sitzordnung war, die ihn befähigte, den Angehörigen bei der Identifizierung ihrer Toten zu helfen.

Durch diesen Vorfall aufmerksam gemacht, erzählt man, machte er damals ausfindig, daß es besonders die Ordnung sei, die dem Gedächtnis Licht verschaffe. Es müßten daher die, die dieses Geistesvermögen üben wollten, gewisse Plätze auswählen, das, was man im Gedächtnis behalten wollte, sich unter einem Bild vorstellen und in diese Plätze einreihen.[9]

 

Die Episode ist in unserem kulturellen Gedächtnis fest verankert, doch von der Literaturgeschichte wird sie aus verständlichen Gründen ungern erinnert. Es entspricht nicht dem Bild vom Literaten, einen tragischen Vorfall lediglich als Anlaß für ein schnödes Gedächtnissystem zu nehmen, das die Getöteten einer wiederholten Mortifikation unterwirft, statt sie mit poetischen Mitteln in die lebendige Erinnerung zu rufen.

Daß "ein Dichter Neigung zu einem solchen Geschäft haben könnte", hält denn auch zum Beispiel Friedrich Georg Jünger für "unwahrscheinlich; Dichter heißt er ja eben deshalb, weil er nicht den erlernbaren Kunstgriffen der Mnemonik folgt, durch die Gedachtes zurückgerufgen wird, sondern der Mnemosyne selbst, welche die Göttin des Erinnerns und, als solche, die Mutter der Musen ist."[10] Doch der Verweis auf Mnemosyne ist untauglich, den Verdacht von der Literatur abzulenken, sie könne sich aus dem Gedächtnisgeschäft heraushalten. Was die Muse singt, wurde von den Dichtern aufgeschrieben, und damit war die Erbsünde der Literatur, ihre Mittäterschaft an der Informationsgesellschaft in der Welt.

Denn die Schrift – das wird Platon dann ein für allemal klarstellen – ist per se in die Aporie von Speichergewinn und Erinnerungsverlust verstrickt. "Diese Erfindung", läßt er im Phaidros den König Thamus auf die Werbung seines Gottes Theut für die Kulturtechnik des Schreibens erwidern, wird die Menschen nicht etwa "gedächtnisreicher" machen, sondern sie wird

den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. (274c–275b)

Zur Anamnesis befähigt – so die sokratische Schlußfolgerung aus der von ihm fingierten Geschichte – allein die "lebende und beseelte Rede des wahrhaft Wissenden, von der man die geschriebene mit Recht wie ein Schattenbild ansehen könne" (276a).

Doch indem uns diese Aussage schriftlich mitgeteilt wird, relativiert sie sich zugleich. Platons Dialog überwindet die hypomnematischen Fixierungen seiner medialen Form durch ihre autodestruktive Verwendung. Es handelt sich dabei um eine Literarisierung der sokratischen Mäeutik. Deren Mechanismus beruht auf dem Aporetischwerden der Doxa, der überkommenen Meinung, die in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben ist, und deren Durchbrechung erst die Seele für die wahre Erinnerung öffnet. Menons Sklave etwa, der zunächst nicht weiß, daß er nichts weiß, glaubt die ihm gestellte Aufgabe bereits gelöst zu haben, als Sokrates ihn durch bohrendes Nachfragen nach der Richtigkeit seiner Meinung, die alle seine Antworten zunichte macht, in den Verzweiflungsausruf treibt: "Aber beim Zeus, Sokrates, ich weiß es nicht" – und bestätigt dadurch dessen Methode:

Siehst du wohl, Menon, wie weit er schon fortgeht im Erinnern? … Indem wir ihn also in Verlegenheit brachten und zum Erstarren, wie der Zitterrochen, … haben wir vorläufig etwas ausgerichtet, wie es scheint, damit er herausfinden kann, wie sich die Sache verhält. Denn jetzt möchte er es wohl gern suchen, da er es nicht weiß; damals aber glaubte er, ohne Schwierigkeit vor vielen oftmals gut zu reden. (84a-b)

 

Die Zerstörung des falschen Glaubens gut zu reden ist die Voraussetzung für wahrhaft gutes Reden. Dasselbe Prinzip medialer Selbsttranszendenz macht sich Platons literarische Erinnerungstechnik im Phaidros-Dialog zunutze.[11] Im Gegensatz zu Phaidros, der das von ihm auswendiggelernte Manuskript der Lysias-Rede "unter dem Mantel" trägt (228d), deckt der Text des Dialoges seine schriftliche Verfaßtheit auf – zum Beispiel durch offensichtliche Fingierungen der Gesprächssituation, etymologische Wortspiele und ironisches "Zitieren" von Mythen, die sich dann als spontane Erfindungen des Sokrates herausstellen.[12]

Entsprechendes gilt für die römische Überlieferung der Simonides-Legende. Ciceros Abhandlung De Oratore, ebenfalls eine Schrift in Dialogform, läßt den Bericht über die Erfindung der Gedächtniskunst vom nüchternen Antonius vortragen, der die technischen Aspekte der Rhetorik: Stoffsammlung (inventio), Anordnung (dispositio) und Einprägung (memoria) zu referieren hat – im Gegensatz zu Crassus, der für die stilistische Gestaltung (elocutio) und den Vortrag (pronuntiatio) zuständig ist. Berücksichtigt man diese perspektivische Verengung der Ausführungen des Antonius, so darf man hinter den von ihm erzählten Umständen der Erfindung mehr vermuten als an Ort und Stelle gesagt wird. Daß Simonides nur die Hälfte seines Lohns bekommt, da er nur zur Hälfte den Ruhm des Skopas besungen hatte, bedeutet, daß auch die rhetorische memoria nur eine Halbheit ist, bloßes Gedächtnis. Die andere Hälfte aber, die Erinnerung, kommt von den Göttern, die den Palast einstürzen lassen und so die Reduktion augenfällig machen, die der mnemonischen Gebäudemetapher inhäriert.

So gibt sich die rhetorische Legende über Simonides selbst als interessengebundene Fingierung der historischen Fakten zu erkennen. Daß die Berichte nicht authentisch sind, läßt sich an den Quellen belegen: Zwar rühmte sich der historische Simonides damit, ein großes Gedächtnis zu haben,[13] dieses jedoch verdankte er der Einnahme von Drogen,[14] nicht etwa seiner angeblichen Erfindung. Letztere hat man ihm erst rund zwei Jahrhunderte später in den Mund gelegt. Noch bei Kallimachos steht die Aussage, Simonides habe die Gedächtniskunst erfunden, völlig unverbunden neben dem Bericht vom Einsturz des Skopas-Palastes.[15] Aus der Tatsache, daß die antike Mnemotechnik der Rhetoren sich erstmals bei Theodektes nachweisen läßt,[16] deduziert Stefan Goldmann eine nachträglich gebildete "Deckerinnerung", die das historische Material verfälscht habe, um Simonides zur "Projektionsfigur" eines sich wandelnden religiösen und ökonomischen Weltverständnisses machen zu können.[17] Indessen unterschlägt auch die römische Überlieferung nicht die kathartischen Aspekte seiner Lyrik, die schwerlich ins Bild vom nüchternen Mnemotechniker passen. Die "Weckung des Mitleids" wird noch von Quintilian als "besondere Stärke" des Simonides hervorgehoben.[18] Wenn also die römischen Rhetoriker das ursprüngliche Motiv des Totengedenkens zur ordnungsfunktionalen Gedächtniskunst umdeuteten, dann hielten ihre Schriften doch das Bewußtsein dafür aufrecht, daß dies bereits eine Reduktion des weitergefaßten literarischen Anspruchs war, den affektgebundenen Prozeß des Erinnerns zu aktivieren. Daß ihre fiktive Selbstlegitimierung sich ausgerechnet auf die Katastrophe des Palasteinsturzes beruft, spricht für die These einer – sei es auch nur latenten – Selbstkritik am mortifizierenden Charakter der Mnemotechnik.

Hierfür bedarf es freilich des Vermögens, zwischen den Zeilen zu lesen. Das Spezifikum literarischer Erinnerungstechnik aber ist es, diesem Vermögen zuzuarbeiten. Die neuere Semiotik spricht in diesem Zusammenhang von "Intertextualität".[19] In Platon können wir einen der ersten Schriftsteller sehen, der das intertextuelle Verfahren avant la lettre zur bewußten Anwendung brachte – als literarisierte Mäeutik, die den von der Schrift errichteten Gedächtnisraum mit ihren eigenen Mitteln überschreitet.

Das transitorische Modell bleibt für alle nachfolgenden Typen literarischer Erinnerungstechnik gültig. In der Spätantike ist es insbesondere Augustinus, an dem sich das verifizieren läßt. Im 10. Buch seiner Bekenntnisse durchschreitet er die "weiten Hallen des Gedächtnisses", die nach rhetorischem Vorbild Merkbilder an bestimmten Orten aufbewahren. So "unermeßlich" aber dieser Gedächtnisraum auch ist – Augustinus gelangt schließlich zu der Einsicht, daß seine Suche nach Gott hinausgehen muß "selbst über diese meine Kraft, die Gedächtnis heißt, hinaus will ich über sie, um an Dich zu reichen, süßes Licht!"[20] In neuplatonischer Manier wird hier das mnemotechnische Modell als bloß ephemer überschritten zugunsten einer wahren Erinnerung der göttlichen Essenz. Für einen langen historischen Zeitraum bleibt dies der letzte Versuch, einer Metaphorik zu entrinnen, die das Erinnern in Gedächtnisräume einschließt.

 

 

II. Memoriatheater sprengend

 

 

Denn es ist die mnemotechnische Gebäudemetapher, die sich historisch durchsetzt. Albertus Magnus und Thomas von Aquin machten nicht die Transzendierung, sondern das Festhalten am Prinzip der loci et imagines zur religiösen Pflicht. Als Höhepunkt dieser Entwicklung können die Memoriatheater der Renaissance angesehen werden. Berühmt wurde insbesondere das Theatro von Giulio Camillo. Aber hier tritt nun eine Merkwürdigkeit zutage: So sehr die Architektur dieser Gedächtnistheater der rhetorischen Tradition verpflichtet zu sein scheint, wird ihre Funktion nicht primär im rationalen Zweck der gesteigerten Speicherkapazität gesehen, sondern in ihrer magisch-okkulten Wirkung. Das neuplatonische Erbe kehrt, vermittelt über hermetische und kabbalistische Einflüsse, ausgerechnet in der äußeren Gestalt seines größten Gegensatzes, der systematischen Anordnung, zurück. Diese Ambivalenz zwischen kognitiven und affektiven Aspekten zieht sich durch das gesamte Memoria-Schrifttum der frühen Neuzeit und wird dabei immer mehr zugunsten der ersteren vereindeutigt. Zu den wichtigsten Vertretern der Gegenposition gehört Giordano Bruno, wie erst unlängst Elisabeth von Samsonow zu zeigen vermocht hat: In der Nachfolge Camillos entwirft Bruno Gedächtnisarchitekturen, die er aber derart extrem mit hermetischem Gedankengut durchdringt, daß es die Metapher des Theaterraums schließlich sprengen muß. Sein Memoria-Begriff steht im Zeichen einer "Anthropologie der Entgrenzung"; sie verfolgt ekstatische Erkenntnisziele, die jede topographische Ordnung notwendig hinter sich lassen, da sie diese als Einengung empfinden. Die in seinen Schriften dargelegte Kosmologie begreift die Schöpfung als leiblich-konkreten "Ausdruck" Gottes, das heißt als Effekt "eines übermäßigen, jedenfalls aber nicht unerheblichen inneren Drucks."[21]  Das erinnernde Eingedenken der göttlichen Substanz kommt daher nicht in ihrer äußeren Repräsentation zustande, sondern nur durch den affektiven Nachvollzug jenes Ausdrucksgeschehens. Brunos literarische Technik ist dementsprechend – wie Hartmut Böhme feststellt – von einer "Disproportion zwischen Wissen und unendlichem Universum" geprägt, "einer Haltung, die zum ästhetischen Ausdruck dieser Zerrissenheit drängt" sowie einer "Poetisierung des Erkenntnisaugenblicks" durch die Verwendung von Allegorien, "die im Ereignis des Augenblicks selbst verlöschen und nur noch als poetische Zeichen der sprachlich unausdrückbaren Wahrheitserfahrung figurieren."[22]

Erst im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts kommt es zu einem Wiederaufleben dieser literarischen Erinnerungstechnik durch die expressive Allegorik des Sturm und Drang. Hiervon zeugt insbesondere die Eingangsszene zu Goethes Faust[23], die nicht zufällig in der Zeit Girodano Brunos spielt. Sie entstand unter den atmosphärischen Bedinungen einer neuen Platznot im kulturellen Gedächtnisspeicher: dem Erfahrungsdruck des neuzeitlichen Erkenntniszuwachses, der mit den epochenspezifischen Formen der Wissensorganisation, Tableau und Taxonomie, nicht mehr zu bewältigen war. Hinzu kommt ein Überdruß am externalisierten Gedächtnis der Schrift, wie er sich seit Platon nicht mehr in solcher Deutlichkeit geäußert hatte. Auch die Schriftkritik Goethes freilich vollzieht sich nicht in abstrakter Negation, als "nostalgische Verklärung von Mündlichkeit"[24], sondern im Medium des literarischen Schreibens. Sein Drama zeigt uns Faust in einer Gelehrtenstube, die er als "Kerker" (V. 398) empfindet: "Beschränkt" von einem "Bücherhauf" (V. 402), "Mit Instrumenten vollgepfropft / Urväter-Hausrat drein gestopft" (V.407f.) – so, in ein "Museum gebannt" (V. 530), wird er von den Insignien des kulturellen Gedächtnisses gleichsam erdrückt. Aus dieser mnemischen Struktur möchte er ausbrechen. Er macht zwei Befreiungsversuche, die beide scheitern, ehe er zu einer spontanen Erinnerung findet.

Der erste besteht im Übergang von der Schrift zum Piktogramm. Das Makrokosmoszeichen vermittelt ihm eine Vision des Lebenszusammenhangs, den er in den Buchstabenschriften nicht finden konnte:

Ich schau' in diesen reinen Zügen
Die wirkende Natur vor meiner Seele liegen. […]
Wie alles sich zum Ganzen webt,
Eins in dem andern wirkt und lebt! (V. 440–448)

 

Die Dynamik dieses visuell repräsentierten Gewebes, das an den ursprünglichen Sinn des "Text"-Begriffes erinnert, geht auf die Idee der "Kette der Wesen" zurück, hermetische Wurzeln mithin, wie sie auch der Memoria-Literatur der Renaissance, der Zeit des historischen Faust, zugrundeliegen. Dieses bilderreiche Schrifttum, aus dem der Topos des Teatro della memoria hervorgeht, nimmt auch im Faust eine ambivalente Zwischenstellung zwischen Gedächtnis und Erinnerung ein: Einerseits sucht es Anschluß an die (neu)platonische Anamnesis, die in der Ideenschau die höhere Welt findet, andererseits beerbt es die loci und imagines der klassischen Mnemotechnik. Beide Aspekte, das erinnernde Aneignen ebenso wie die externe Speicherung kommen hier in dem Sinne zusammen, wie ihn Frances Yates am Beispiel Camillos erläutert: "Der Mikrokosmos kann den Makrokosmos ganz verstehen und ganz in Erinnerung behalten, kann ihn in seinem göttlichen mens oder göttlichen Gedächtnis festhalten."[25]

Diesen Doppelcharakter der Renaissance-Memoria erlebt Faust, ähnlich wie Giordano Bruno, als inneren Widerspruch: Nachdem er, der Mikrokosmos, den Makrokosmos visionär erinnert hat, wendet er sich von ihm ab, enttäuscht von der Leibferne des Gedächtnistheaters: "Welch Schauspiel! Aber ach! ein Schauspiel nur!" (V. 454). Authentische Erinnerung verspricht sich Faust nunmehr einzig von der unmittelbaren Teilhabe an der Naturproduktivität. Er beschwört den Erdgeist in einem Akt der alchemistischen Selbsttransformation. Und tatsächlich scheint ihm damit ein leibhaftiges Innewerden der Naturkraft zu gelingen:

Wie anders wirkt dies Zeichen auf mich ein!
Du, Geist der Erde, bist mir näher;
Schon fühl' ich meine Kräfte höher (V. 460 ff.)

 

Der Geist erscheint, und Faust, der bei der Makrokosmos-Vision Zuschauer bleiben mußte, kann die Er-Innerung der Naturkraft am eigenen Leibe verifizieren: "Ich bin's, bin Faust, bin deinesgleichen" (V. 500). Sobald er jedoch versucht, diese Erfahrung zu objektivieren, gerät er in eine neue Aporie. Indem er den Erdgeist dazu bringt, sein "glühend Leben" auszusprechen und es somit begreiflich zu machen, reduziert er ihn auf einen Text, das heißt auf die bloß mnemische Struktur, über die er hinausgehen wollte:

So schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid. (V. 507 ff.)

 

Als 'natura textor' expliziert, gleicht der Erdgeist einer Textilmaschine. Sein eigentliches Wesen bleibt hinter dieser instrumentellen Metapher verborgen. Deshalb weist er Faust, der nur den Text, nicht aber die intertextuelle Dynamik wahrzunehmen vermag, zurück:

Du gleichst dem Geist, den du begreifst,
Nicht mir! (V.512 f.)

 

Die Objektivation leibhaftiger Erinnerung reduziert sie auf ein bloßes Gedächtnissystem. Diese Aporie aber wird mäeutisch produktiv, als Faust in seiner Ausweglosigkeit schon die Giftphiole zum Mund führt. Im Moment der Selbstaufgabe nach der vergeblichen Anspannung vermögen "Glockenklang und Chorgesang" (nach V. 736) einen anamnetischen Prozeß hervorzurufen:

Erinnrung hält mich nun mit kindlichem Gefühle,
Vom letzten ernsten Schritt zurück.
O tönet fort ihr süßen Himmelslieder!
Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder! (V. 781–784)

 

Die emotionale Erinnerung stellt sich spontan ein. Sie kam weder durch das faszinierte Betrachten des Makrokosmoszeichens noch durch das willkürliche Herbeirufen des Affekts zustande, sondern nur im Moment des Loslassens – vermittelt über die unerwartete Klangwahrnehmung.[26] Goethe wußte, daß "Musik und Gesang" die "besondere Kraft" haben, "Erinnerungen zu wecken"[27]. Denn Klänge überwinden die Verstandeskontrolle eher als Bilder.

Diese Abgrenzung von Platon wird geradezu lehrstückhaft deutlich in der Mütterszene des Faust II, wo das Urbild der Schönheit in einer Explosion verpufft, und dem sich anschließenden Gegenmodell, der Klassischen Walpurgisnacht.[28] Darauf soll hier nicht näher eingegangen werden. Für unseren Themenzusammenhang genügt die Feststellung, daß Goethes nichtplatonische Anamnesis jede ästhetische Idealisierung von Erinnerungsbildern, wie sie die Romantik propagierte, kritisch unterläuft.[29]

 

 

III. Speichertode überwindend

 

Ein neues historisches Stadium mnemischer Beengung ergibt sich als Effekt der Museums- und Archivkultur des 19. Jahrhunderts. Die Versuche ihrer Überwindung bringen eine weitere Konjunktur literarischer Erinnerungstechniken hervor. Ihr bedeutendster Vertreter ist Hugo von Hofmannsthal. Nicht zufällig greift der frühreife Goethekenner in seinem Jugenddrama Der Tor und der Tod[30] von 1893 Motive aus der Eingangsszene des Faust wieder auf. Wie Goethes Faust, so sitzt auch Hofmannsthals Claudio in einem museal hergerichteten Studierzimmer, erdrückt in einer "Rumpelkammer voller totem Tand" (S. 115). Auch er wird aus der zu Tode erstarrten mnemischen Struktur durch Klänge erlöst. Hier sind es nicht Glockengeläute und Chorgesang, sondern es ist das "Spiel einer Geige" (S. 118), das die emotionale Erinnerung weckt,

Als strömte von den alten, stillen Mauern
Mein Leben flutend und verklärt herein.
Wie der Geliebten, wie der Mutter Kommen,
Wie jedes Langverlornen Wiederkehr,
Regt es Gedanken auf, die warmen, frommen,
Und wirft mich in ein jugendliches Meer
[…]
Tön fort, Musik, noch eine Weile so
Und rühr mein Innres also innig auf. (S. 119)

 

Als sei die intertextuelle Bezugnahme auf Fausts Osternacht nicht so schon überdeutlich, läßt Hofmannsthal das Violinenspiel, in dem Moment, als es den Erinnernden mit "kindisch-tiefen Tönen angefaßt" hat, schließlich doch noch übergehen in "Glockenläuten" (S. 120). Doch die – von der Hofmannsthal-Forschung oft nur als Oberflächenphänomen wahrgenommenen – Parallelen gehen über solche äußerlichen Reminiszenzen weit hinaus. So wie Fausts Selbstvergessenheit, die sich bis zur Todesbereitschaft steigerte, die Voraussetzung war, daß die "Erde" ihn schließlich erinnernd "wieder" hatte, so ist es auch bei Claudio der Tod, der ihn dazu bringt, sich "an die Erdenscholle klammern" (S. 123) zu wollen. Denn er ist es, der die Geige spielt, um Claudio zu "lehren, / Das Leben […] einmal ehren." (S. 124) Er läßt die Mutter vor ihm erscheinen, die er nun erst, als Gedächtnisbild, das er vergeblich zu berühren sucht, mit "alle[n] Wurzeln … nach ihr sich zuckend" fühlt (S. 126). Entsprechendes vollzieht sich mit dem Gedenken an die verlassene Geliebte. Wie bei Faust, so kehrt auch hier die Kindheitserinnerung wieder in der Reflexion auf den letalen Charakter der eigenen Existenzform: "Da tot mein Leben war, sei du mein Leben, Tod!" (S. 130). Die Erweckung des Gedächtnisbildes zur emotionalen Erinnerung geschieht auch hier um den Preis der Selbstaufgabe:

Wenn einer träumt, so kann ein Übermaß
Geträumten Fühlens ihn erwachen machen,
So wach ich jetzt, im Fühlensübermaß
Vom Lebenstraum wohl auf im Todeswachen. (S. 131)

 

Gerade die Intensität der Anspielungen auf Goethes "Faust" läßt die spezifische Form des Hofmannsthalschen Jugenddramas hervortreten: Es handelt sich um die Form einer transformatorischen Intertextualität, die den zum Bildungskanon erstarrten Gedächtnisraum der Schrift in einem virtuell unendlichen Verweisungsregreß – der von Goethe über Bruno bis in die neuplatonische Mystik und weiter zurück reicht – reanimiert.[31]

Ein prinzipieller Unterschied zwischen Hofmannsthals und Goethes Behandlung des Motivs tritt erst mit der Zäsur des Weltkriegs in Erscheinung. Noch im Libretto zu Ariadne auf Naxos kommteinunbefangenes Plädoyer für die Ekstase der Selbstvergessenheit zum Ausdruck, das durch die musikalische Illustrierung von Richard Strauss noch unterstrichen wird. "Wer leben will", schrieb Hofmannsthal in seinem Ariadne-Brief an Strauß, "der muß über sich selber hinwegkommen, muß sich verwandeln: er muß vergessen."[32] Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs freilich führt ihn zu einer wesentlich stärkeren Betonung des Gedächtnisgebots. In der ägyptischen Helena wird das Erinnerungsmotiv buchstäblich eingepaukt – als Mahnung zum kollektiven Eingedenken des Schreckens. Helena und Menelaos werden solange von ihren Horrorvisionen gepeinigt, wie sie sich nicht wirklich erinnern.

Die kollektive Verdrängung des Holocaust in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit, die die Gespenster der Vergangenheit unter ihrem Wiederaufbauwillen zu begraben versuchte, stellte dieses psychoanalytische Prinzip auch im Bereich der Literatur vor neue Herausforderungen. Das schon von Proust entwickelte Verfahren der "sich aufschichtenden Erinnerungsbilder"[33] war dahingehend zu erweitern, daß die polyperspektivisch sich ergänzenden und kommentierenden Schichten des textuellen Gewebes als Verhüllungszusammenhang erkennbar, ihre gemeinsame Verstrickung ins Unheil offenbar wurde.

Ein gelungenes Beispiel hierfür ist Wolfgang Koeppens Roman Tod in Rom.[34] Er spiegelt die angesprochene poetische Problematik in der Gestalt des Komponisten Siegfried Pfaffrath, der die Gedächtnisbilder der Vergangenheit in musikalische Erinnerungen zu überführen sucht. Die Uraufführung seiner Zwölftonsinfonie verdichtet das Netz der Personenbezüge, das der Roman entwirft, und das schließlich in eine unheilvolle Verstrickung führt, in einem Knotenpunkt: Verwandte und Bekannte Siegfrieds kommen im Konzertsaal zusammen und reagieren mit unterschiedlichen Erinnerungen bzw. Formen ihrer Abwehr auf die Musik, an der sie alle durch ihre Vergangenheit in irgendeiner Weise Teil haben.

Ilse Kürenberg, die jüdische Frau des Dirigenten, vernimmt mit ihrem geschulten Gehör, daß ihr Mann die deutsche "mystische Weltempfindung" der Urkomposition "lateinisch gebändigt" hat. Dennoch durchbricht deren "mystisches Drängen" den humanistischen Zähmungsversuch: "Es war zu viel Tod in diesen Klängen, und ein Tod ohne den heiteren Todesreigen auf antiken Sarkophagen." Immer wieder versucht sie, sich an den Gedächtnisbildern festzuhalten, die sie ihrer Kenntnis der römischen Antike entlehnt, ihrer Deckerinnerung, und glaubt diese zeitweilig auch in der Musik bestätigt zu finden.

Zuweilen bemühte sich die Musik um diese Sinnenfreude der alten Grabmale, aber dann hatte Siegfried falsche noten geschrieben, hatte sich in den Tönen vergriffen, sie wurden trotz Kürenbergs kühler Konduktion grell und maßlos, die Musik verkrampfte sich, sie schrie, das war Todesangst, das war nordischer Totentanz, eine Pestprozession, und schließlich verschmolzen die Passagen durch eine Nebelwand. (S. 144)

 

Die Vergangenheit holt sie ein, was der Roman dann buchstäblich auch verifizieren wird: Sie wird von Gottlieb Judejahn, einem ehemaligen SS-General umgebracht.

Ihr Mörder ist von der Musik "gelähmt". Das Unbehagen, das die Musik bei ihm auslöst, reicht nicht soweit, daß es seinen Gefühlspanzer durchbrechen kann, aber es versetzt ihn in den Zustand der Regression auf eine kindliche Stufe, auf der er bereits die abgespaltenen Empfindungen, den inneren Tod, durch triebhafte Impulse abwehrte:

Hunger grimmte in seinem Magen, Durst trocknete die Zunge, aber der kleine Gottlieb traute sich nicht, aufzustehen und zu gehen. … Die Geräusche des Orchesters paralysierten ihn. Judejahn konnte bei diesen Klängen nicht denken, er konnte nicht überlegen, wer die Frau bei Adolf war, er konnte nicht klären, ob er mit Laura schlafen möchte oder lieber mit dieser Frau in der Loge. (S. 145)

 

Siegfrieds Eltern, einst hochgestellte Vertreter des NSDAP-Establishments, nun der christlich-konservativen Kommunalpolitik, "entsetzten sich. Sie waren enttäuscht. Die Musik war anders als alle Musik, die sie kannten. Sie entfernte sich von aller Vorstellung, die Pfaffraths von Musik hatten." Auch sie vermissen die Bestätigung ihrer Deckerinnerungen. Diese sind von den Klischees der Beethoven- und Wagner-Rezeption der NS-Zeit besetzt:

Das Ehepaar Pfaffrath vermißte den Edelklang, den hohen erhabenen Ton oder die eingängige Harmonie, sie suchten den wohligen Fluß der Melodie, sie horchten vergebens nach dem ihnen, wie sie meinten, verständlichen Sphärengesang aus höherer Region (S. 145).

 

Das verdrängte Empfinden, das bei Ihnen die Musik wachruft, stellt sich hier in den ihnen gemäßen Assoziationen ein: nicht als "nordischer Pesthauch", wie bei Ilse Kürenberg, sondern als "Urwald", als "Negerkral voll Entblößung und Gier", als "Dschungel entarteten Getöses" (S. 146).

Adolf Judejahn, der wie Siegfried in einer nationalsozialistischen Ordensburg aufwuchs und wie dieser den Kontakt zu seinen Eltern nach 1945 abgebrochen hat, um als Priester deren Schuld zu sühnen, empfindet auf seine Art Mißfallen an der Musik. Sein Gedächtniskonstrukt orientiert sich an den klerikalen Vorgaben des Umgangs mit der Vergangenheit. "Die Kirche würde diese Musik nicht billigen; sie wäre auf dem Konzil zu Trient nicht als vorbildlich anerkannt worden. Durfte Adolf, der Diakon, die Musik seines Vetters billigen? Er billigte sie nicht." Aber Adolf fragt sich auch: "Mußte er sie verdammen? Er verdammte sie nicht" (S. 147). So hält er sich eine Hintertür offen für die Umgehung der klerikalen Zensur, die es ihm als einzigem der geschilderten Rezipienten ermöglicht, die eigene Biographie aus der Musik herauszuhören:

Manchmal glaubte Adolf, sich selbst in den Tönen zu erkennen. Es war ihm, als würde ihm in einem zerbrochenen Spiegel die Kindheit reflektiert. Auch die Ordensburg war in der Musik, die Sportwiese, der Wald, die Sonnenaufunduntergänge und die Träume in den Schlafsälen. (S. 147)

 

Diese Erinnerung bleibt nicht in der faktischen Biographie befangen, sondern schließt die darüber hinausweisenden Sehnsüchte und Utopien mit ein:

Es war auch Erinnerung an eine Zeit vor aller Schuld in den Klängen, an die Schönheit und den Frieden des Paradieses und Trauer um den in die Welt gesetzten Tod, es war viel Verlangen nach Freundlichkeit in den Noten, kein Lied an die Freude zwar, kein Panegyrikus, aber doch Sehnsucht nach Freude und Schöpfungslob. (S. 147)

 

Die Musik wird am Ende vom Publikum einhellig verurteilt – durch Pfiffe von den billigen Plätzen, also von denen, die seine Musik nicht verstehen konnten, weil deren Erinnerungsgehalte ihnen fremd sind, und durch ein Klatschen von den teuren Plätzen, von denen, die nicht erinnert werden wollten und mit dem Jubel nur die eigene Ablehnung tarnen. Die Erinnerungstechnik des Romans, der in der Konzertszene seine immanente Poetik offenbart, besteht im konsequenten Scheitern aller Versuche, anamnetische Erfahrungen in positiven Bildern einzufangen und so einen Frieden mit der Vergangenheit zu schließen. Dieses antiplatonische Moment, das dem Publikum die Zuflucht zu überhistorischen Erinnerungsbildern verweigert, kommt auch darin zum Ausdruck, daß Siegfrieds "Ernährer und Förderer" (S. 138), die sich aus den von ihm kritisierten Gesellschaftsschichten rekrutieren, ihm nur die Hälfte des ausgesetzten Förderpreises zubilligen. Wie Simonides hat Siegfried seine Finanziers nur zur Hälfte bedient, indem er das kulturelle Gedächtnis der Institution Kunst durch seine Zwölftonsinfonie einerseits bestätigte, andererseits aber Instanzen jenseits des mnemischen Horizonts der rahmengebenden Situation anrief. Dieser Anruf freilich rettet den Künstler nicht, wie es bei Simonides der Fall war, der rechtzeitig von seinen Göttern vor die Tür gerufen wurde. Siegfried muß im Gebäude des sozialen Gedächtnisses, dem er angehört, bleiben und sich immanent mit ihm auseinandersetzen.

Die aktuelle Gestalt des unentrinnbaren Eingesperrtseins im Gedächtnisspeicher ist das Leben im virtuellen Raum der Computersimulationen. William Gibson, der Schöpfer des Wortes Cyberspace, hat die Inklusionen des Erinnerns unter den Bedingungen der Informationsgesellschaft in seinem Roman Neuromancer[35]konsequent ausphantasiert. Er ironisiert das platonische Erinnerungsbild, indem er es nicht als ein die Gedächtnistechnik transzendierendes, sondern in dieser befangenes beschreibt. Die Problemstellung ist nicht unbedingt neu. Gilles Deleuze etwa hat plausibel gemacht, daß Bergsons Begriff der Traumerinnerung trotz der Gegnerschaft des Philosophen zum Kino von dessen Grammatik doch wesentlich bestimmt wird. Dieser Zusammenhang bleibt allerdings bei Bergson – wie auch bei Proust – immanent; er setzt sich hinter dem Rücken der Autoren durch, was schon Adorno ihnen vorgeworfen hat: 

Seit der Platonischen Anamnesis ist vom noch nicht Seienden im Eingedenken geträumt worden, das allein Utopie konkretisiert, ohne sie an Dasein zu verraten. Dem bleibt der Schein gesellt: auch damals ist es nie gewesen. Der Bildcharakter der Kunst aber, ihre imago, ist eben das, was unwillkürliche Erinnerung nach der These von Bergson und Proust an der Empirie zu erwecken trachtet, und darin freilich erweisen sie sich als genuine Idealisten. Sie schreiben der Realität das zu, was sie erretten wollen, und was nur in der Kunst um den Preis seiner Realität ist. Sie suchen dem Fluch des ästhetisten Scheins zu entgehen, indem sie dessen Qualität in die Wirklichkeit versetzen.[36]

 

Das Novum bei Gibson ist demgegenüber, daß er das Erinnerungsbild explizit als technisch induziertes beschreibt und seinem ästhetischen Schein dadurch eine Wirklichkeit verleiht, die ihre willkürliche Herkunft offenlegt. Case, der Held des Romans, sieht im Schlaf das Land seiner Hoffnung und Heimat: Cyberspace, "die Matrix, helle Gitter der Logik, die sich vor der farblosen Leere entfalteten". Er versucht im Traum "nach der Konsole zu greifen […], die nicht da war" (17). Denn er hat durch einen chirurgischen Unfall seine Identität verloren; Der Chip in seinem Gehirn wurde zerstört. "Seine Träume endeten […] mit […] Standfotos" (46). Er ist nun nicht mehr in der Lage, sich mit einem Cyberspace-Deck zusammenzuschließen, "das sein entkörpertes Bewußtsein in die Konsens-Halluzination der Matrix projizierte" (18).

Der Unterschied von Gedächtnis und Erinnerung bleibt aber trotz ihrer gemeinsamen Silikon-Substanz erhalten. Dies wird in dem folgenden Dialog deutlich, den Case mit Dix führt, dessen Identität nur noch als Speicher eines Computers existiert. Denn Dix ist eine "Flatline", die Aufzeichnung einer Persönlichkeitsmatrix ohne Zeitgedächtnis:

"Was ist das letzte, woran du dich erinnerst, bevor ich mit dir gesprochen habe, Dix?"
"Nichts." […]
"Erinnerst Du dich, daß du gerade eben noch hier warst?"
"Nein"
"Weißt du, wie 'ne ROM-Persönlichkeitsmatrix funktioniert?"
"Klar, Bruder […]" (S. 105)

 

Dix hat keine Erinnerung, aber sein Gedächtnisspeicher kann alle gewünschten Daten abrufen. Das eine liegt in der Zeit, das andere im Raum. Die Flatline verfügt zwar über eine mnemonische Topographie, nicht aber über eine anamnetische Biographie. "Was mich stört", sagt Dix, "ist, daß mich nichts stört." Konsequenterweise bittet er Case um einen Gefallen: "Wenn du mit deiner Scheiße fertig bist [gemeint ist die Nutzung der Flatline als Archiv], lösch dieses verdammte Ding!" (S. 135)

Gibsons Roman holt die Differenz zwischen Gedächtnis und Erinnerung schließlich doch noch ein, indem er eine neue Schnittstellengeneration beschreibt, die über ein temporäres Gedächtnis verfügt: Das Sense/Net. "Im Nichtraum" dieser neuen "Matrix besaß das Innere einer beliebigen Datenkonstruktion grenzenlose subjektive Ausmaße" (S. 91), da die vorherigen Erinnerungslücken nun durch sensorische Daten gefüllt werden. Der platonische Ideen-Kosmos, in dem das Individuum durch Anamnesis die überpersönlichen Urbilder der Dinge auffindet, ist nun in die Person hineinverlegt, denn die quasi überpersönliche Welt des Cyberspace wird nun seinerseits aus den persönlichen Erinnerungen konstruiert: Case findet sich am Ende gefangen in der holographischen Projektion seiner Erinnerungsbilder – eine Strandlandschaft mit einer Hütte, in der er gemeinsam mit seiner virtuellen Geliebten lebt. "Etwa jede Stunde stand er auf, ging zu dem behelfsmäßigen Ofen und legte frisches Treibholz vom Stapel daneben nach. Nichts von alledem war real, aber Kälte war Kälte" (S. 284f.).

Unter den Voraussetzungen dieses Romanexperiments kann die Differenz zwischen Mneme und Anamnesis nicht mehr erfahren werden. Die vollständig mediatisierte Erinnerung macht das Authentizitätserlebnis  als Kriterium hinfällig. Was nach Gibsons Roman einzig dem Zusammenfallen der Erinnerung mit dem Gedächtnis zu entrinnen vermag, ist die "quantitativ unbestimmbare Qualität" idiosynkratischer Affekte. Sie zeigen sich zum einen in der Gestalt eines Monstrums namens Riviera, das eine perverse Lust am grundlosen Morden findet, zum anderen im Selbsthaß des Protagonisten.

"Der Haß bringt dich da durch", sagte die Stimme. "Gibt so viele kleine Auslöser im Hirn, und du betätigst sie alle. Laß deinem Haß freien Lauf! Die Sperre, die Abschrimung für die Festverdrahtung ist unter den Türmen, die die Flatline dir gezeigt hat, als ihr hereingekommen seid." […]

Er riß das Programm in eine Kurve und […] kam steil herunter, vom Selbsthaß angespornt. […] Das Informations gefüge lockerte sich.

Und dann – alte Alchemie des Gehirns und seiner reichen Apotheke – strömte sein Haß in seine Hände. (S. 313)

 

Das leibliche Empfinden der Situation, an einer Computerkonsole zu sitzen, erlöst ihn vom toten Leben im Gedächtnisspeicher.

 

 

IV. Unmapping the Next Millenium?

 

 

Was die erwähnten Beispiele literarischer Erinnerungstechnik bei allen Unterschieden in der Darstellungsweise gemeinsam haben ist, daß sie jeweils Aspekte des kulturellen Gedächtnisses aufgreifen und in bestimmter Weise aporetisch machen, um aus dieser Destruktion Erinnerungen aufsteigen zu lassen. Dabei trifft schon auf Platon zu, was Wolfgang Düsing als das Kennzeichen moderner Erinnerungstechnik ausmacht: "Erinnerungen, die zum Anlaß ästhetischer Darstellung werden, steigen ungerufen auf, sie sind spontan und das Gegenteil von willentlich reproduzierten Gedächtnisleistungen." Das aporetische Kernelement der Mäeutik, das Düsings Kriterium literarischer Erinnerungstechnik, dem "Abbau aller zweckbestimmten Beziehungen"[37] entspricht, findet sich offenbar nicht erst in der Moderne.

Allerdings scheint das platonische Erinnerungsbild mit zunehmend mediatisierter Erfahrung seine Differenz zum künstlichen Gedächtnis einzubüßen. Das liegt nicht an seinem Bildcharakter als solchem, sondern an der Reduktion des Bildes auf seine topographischen Merkmale, die es zum bloßen Gedächtnisbild, zur kognitiven Karte[38], erstarren lassen. Das kulturelle Gedächtnis der Zukunft wird durch die bildgebenden Verfahren der Computertechnik bestimmt. Deren Modelle wirken zurück auf unsere Vorstellungen über das Funktionieren des menschlichen Gedächtnisses. So schreibt Stephen Hall in seinem Buch Mapping the Next Millenium:

"Storage" is another word for memory, and humans appear to have evolved an inordinately large cerebral warehouse for precisely these maplike memories: the neocortex. […] So it may be that the human brain not only perceives but stores the essentials of a visual scene using the same geometrical, quasi-symbolic, minimalist vocabulary found in maps.[39]

 

Die Aufgabenstellung literarischer Erinnerungstechniken bleibt angesichts dieser ungebrochenen Kontinuität der mnemonischen Topologie dieselbe: Durchbrechung der starren Bildordnung, Öffnung der Zwischenräume zugunsten der Freisetzung imaginativer Erinnerungsakte. Paradoxerweise aber sind es gerade die bildgebenden Verfahren der neuen Medien, die sich als adäquate Mittel zur Bewältigung dieser Aufgabe anbieten. Das Prinzip der Intertextualität werde erst durch den Hypertext zur technischen Vollendung gebracht, versprechen seine Protagonisten.[40] Denn Mapping Hypertext[41]ist eine Form der Textpräsentation, die das notwendig lineare Erscheinungsbild herkömmlicher Texte durchbricht und die Öffnung virtuell unendlicher Zwischenräume gestattet. Sind also die literarischen Erinnerungstechniken der vergangenen Jahrtausende damit obsolet geworden?

In der Tat wird bereits Platon von der Hypertexttheorie gerne als unvollkommener Vorläufer des Mediums in Anspruch genommen. David Bolter etwa schreibt über die platonischen Dialoge: "The form invites the reader to participate in a conversation and then denies him or her full participation."[42]Ähnlich argumentiert David Kolb in seinem Hypertext-Essay Socrates in the Labyrinth.[43] Sein Leitbegriff ist die "intermediate form" – die von Platon vorgedacht, aber mangels technischer Möglichkeiten nicht vollständig durchgeführt wurde, da ihr das Moment der Interaktivität fehle. Nun seien die technischen Möglichkeiten da; es fehle nur noch der neue Inhalt. "So perhaps hypertext will make a new kind of philosophical writing possible."[44]

Diese Aussicht besteht durchaus. Sie kann aber nur dadurch Realität werden, daß die neuen Schreibformen die mnemotechnische Funktionalität des Mediums überwinden. So wie die traditionelle Schrift ihren Aufzeichnungscharakter transzendierte, indem sie gegen ihn anschrieb, so muß der Hypertext, wenn er tatsächlich zu einer innovativen literarischen Erinnerungstechnik führen soll, in ein Spannungsverhältnis zu sich selbst als eines Informationssystems treten. Die bisher vorliegenden Exponate sogenannter Hyperfiction lassen diese Sensibilität für die Differenz zwischen Speicherlogik und deren narrativer Transzendenz in der Regel vermissen. Ihr Gründungsmythos, der sie in eine Genealogie stellt, die von Platons Dialogregie bis in die Polyperspektivik der Postmoderne reicht, beruht auf einem Selbstmißverständnis. Wenn etwa Stuart Moulthrop sein Hypertext-Experiment The Garden of Forking Paths[45] als eine Realisierung dessen begreift, was in der gleichnamigen Erzählung von Borges an den Grenzen herkömmlicher Literatur scheitern mußte, so verkennt er die ästhetische Qualität dieses Scheiterns. Bei Borges lesen wir von einer "alten chinesischen Enzyklopädie" eines legendären Autors mit dem Namen Ts'ui Pên, die ein Netz simultan verknüpfter Handlungsstränge enthält und damit die sequentielle Beschränkung des herkömmlichen Erzählens überwindet:

In allen erdichteten Werken entscheidet sich ein Mensch angesichts verschiedener Möglichkeiten für eine und scheidet die anderen aus; im Werk des schier unentwirrbaren Ts'ui Pên entscheidet er sich – gleichzeitig – für alle. Er erschafft so verschiedene Zukünfte, verschiedene Zeiten, die ebenfalls auswuchern und sich verzweigen. Daher die Widersprüche im Roman. Fang (sagen wir) hütet ein Geheimnis; ein Unbekannter klopft an seine Türe; Fang beschließt, ihn zu töten. Natürlich gibt es verschiedene mögliche Lösungen. Fang kann den Eindringling töten, der Eindringling kann Fang töten; beide können davonkommen, beide können sterben usw. Im Werk von Ts'ui Pên kommen sämtliche Lösungen vor; jede einzelne ist der Ausgangspunkt neuer Verzweigungen…[46]

 

Der fiktive Charakter dieser Erzählung wird durch seine technische Realisierung zerstört. Der Leser, der sich interaktiv durch den elektronischen "Story-Space" bewegt, indem er die von ihm gewünschten Handlungsfortsetzungen wählt, wird mit jedem seiner Schritte um den Reiz der Imagination gebracht. Die einzige Phantasieleistung, die er aufbringt, ist die Illusion seiner Entscheidungsfreiheit, während er sich durch das algorithmisch vorgefertigtes Gewebe klickt. Er glaubt, den Verlauf einer Geschichte zu steuern, bedient aber in Wirklichkeit nur ein Informationssystem. Um die tatsächlichen Potentiale des neuen Mediums als einer neuen literarischen Erinnerungstechnik auszuschöpfen, gilt es zunächst, ihre mnemotechnische Struktur transparent werden zu lassen.

Diese besteht nach den Worten ihres Erfinders, des Computerwissenschaftlers Vannevar Bush in folgendem Prinzip:

Consider a future device for individual use, which is a sort of mechanized private file and library. It needs a name, and to coin one at random, 'memex' will do. A memex is a device in which an individual stores all his books, records and communications and which is mechanized so that it may be consulted with exceeding speed and flexibility. It is an enlarged intimate supplement to his memory.

 

Die Bedienung dieser Maschine, so Bush, folge der assoziativen Struktur des menschlichen Denkens:

With one item in its grasp, it snaps instantly to the next that is suggested by the association of thoughts, in accordance with some intricate web of trails carried by the cells of brain.[47]

 

Die "memex"-Technik, das Ted Nelson Ende der 60er Jahre unter dem Begriff "Hypertext" in die Realität umsetzte[48], eignet sich somit hervorragend für die Zwecke des information retrieval, des Speicherns und Abrufens von Daten. Hypertext ist deshalb zum Standard im Bereich der elektronischen Informations- und Dokumentationssysteme avanciert – nicht nur als Navigationsinterface des "Word Wide Web", sondern auch etwa von Ersatzteilkatalogen und Bedienungsanleitungen in der Automobilindustrie. Nicht zufällig erläutert der Hypertext-Theoretiker Charles Deemer die Rezeption des Mediums am Beispiel eines Supermarkteinkaufs:

Imagine that you are walking down the aisle in a grocery store, looking for your favorite box of cereal. You find it – and next to it another brand that you like is on sale. You have to decide which to buy and move on. … 'What do you want to read next?' is the question that hypertext asks again and again[49]

 

Eben diese Frage aber ist im Bereich der Literatur tödlich. Die von Musil beschriebene "Gewohnheit, in Büchern zu lesen, in denen kein Wort von seinem Platze gerückt werden durfte, ohne den geheimen Sinn zu stören, das vorsichtige, achtungsvolle Abwägen eines jeden Satzes nach Sinn und Doppelsinn",[50] findet mit dem Hypertext ein Ende, da er diesen "Möglichkeitssinn"[51] des Lersers durch die Verflüssigung der Komposition liquidiert. So mag man etwa Prousts Recherche zwar einen hypertextartigen Aufbau attestieren. Diesen aber technisch zu realisieren, würde die "Kathedrale" zerstören, als die Proust sein Werk bezeichnete,

um der dummen Kritik zu begegnen, ich hätte es in meinem Buch an innerer Architektur fehlen lassen, während ich Ihnen im Gegenteil zeigen möchte, daß sein einziges Verdienst im soliden Aufbau auch noch der geringfügigsten Partien besteht.[52]

 

Die Komposition verleiht den einzelnen Episoden der Handlung und ihren leitmotivischen Erinnerungsbildern erst durch die dem Roman eigene Rhythmik ihre Intensität, die verloren ginge, wenn die kunstvoll aufgebauten Vor- und Rückgriffe den Mausklicks der Leser überlassen wären.

Nun könnte man demgegenüber zugunster der Hyper-Fiction einwenden, daß die Delegation der Regie an den Leser neue Lektüreerfahrungen ermögliche, die durch wechselnde Akzentuierungen einzelner Passagen zustande kämen. "Each unit", schwärmt Bolter, "may be approached from a different perspective with each reading".[53]Wenn dies tatsächlich zu neuen Qualität führen soll, müßte ein Leser vorausgesetzt werden, der Adornos Diktum wiederlegt, es gehöre zur "Höflichkeit Prousts, dem Leser die Beschämung zu ersparen, sich für gescheiter zu halten als den Autor."[54] Der Hypertext-Leser kann aber schon deshalb nicht gescheiter sein, da er noch weit weniger als der Leser eines Buches in der Lage ist, die Proportionen des Ganzen zu überblicken, um etwa durch diagonale Lektüre zu anderen Passagen zu springen. Die Sprünge des Hypertext-Lesers sind blind. Er wird noch weit mehr auf das sequentielle Abschreiten des Erzählraums verpflichtet, den er von einem Netzknoten zum anderen durchlaufen muß, wenn er dessen Komposition erfassen will, in die er doch nicht eingreifen kann.

Versuche, dieses Manko durch eine weitere Öffnung der Hypertext-Strukturen zu beheben, die das Fortschreiben einer Geschichte durch die Leser im kollaborativen Story-Space gestatten, zielen in die falsche Richtung. Ihr Ergebnis ist, wie die Erfahrung lehrt, jenes "Rührei", das schon Friedrich Schlegel Novalis' synkretistischem Enzyklopädie-Projekt prognostizierte,[55] und vor dem es nur dadurch bewahrt wurde, daß seine Durchführung Imagination blieb.

Formen der Intermedialität, die im Cyberspace das kreative Zerstörungswerk fortführen, mit dem die Verfahren der Intertextualität dem Gedächtnisraum der Schrift entkamen, sind erst noch zu entwickeln. Ob diese Aufgabe gelingt, oder ob die im Digitalisierungswahn mehr denn je in Bedrängnis geratene Erinnerung von ihrer multimedialen Unterstützung vollends entkräftet wird wie der Intertext vom Hypertext, mag das nächste Jahrtausend zeigen.

 



[1]Der Spiegel 16 (1995), S. 224.

[2]Bodemann, Michal Y.: Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung; Hamburg 1996.

[3]Laurel, Brenda: Computers as Theatre; Reading (Mass.) 1991.

[4]Hall, Stephen S.: Mapping the Next Millennium; New York 1992.

[5]Stoll, Clifford: Die Wüste Internet. Geisterfahrten auf der Datenautobahn; Frankfurt am Main 1996, S. 318.

[6]Todorov, Tzvetan: French Tragedy; Hanover (New Hampshire) 1996.

[7]Precht, Richard David: Kultur. Ein Plädoyer gegen die kulturelle Belanglosigkeit der Kulturwissenschaft. In: Die Zeit, 12.7.1996, S. 29.

[8]Doderer, Heimito von: Die Wiederkehr der Drachen. Aufsätze, Traktate, Reden. Vorwort von W. H. Fleischer, hg. v. W. Schmidt-Dengler; München 1970, S. 158.

[9]Cicero; Marcus Tullius: Vom Redner / De Oratore. Übersetzt, eingeleitet und erläutert von Raphael Kuhner; München o.J., II, 353f., S. 250.

[10]Jünger, Friedrich Georg: Gedächtnis und Erinnerung;  Frankfurt am Main 1957, S. 8.

[11]Vgl. hierzu ausführlich meinen Aufsatz Erinnerungserfahrung und Mnemotechnik. In: Lynkeus. Studien zur Neuen Phänomenologie. "Lebenserfahrung und Denkform"; Berlin 1997 (in Vorbereitung).

[12]So läßt sich zusammenfassend zum Phaidros mit Michel Narcy sagen, "que Platon y donne d'abord un échantillon de l'art de Lysias, qui consiste à écrire comme on parle, puis fait parler Socrate comme un livre. Donner la parole de Socrate comme le modèle de la vrai rhétorique, c'est dire adieu à l'oralité". [Narcy, Michel: Platon, l'écriture et les transformations de la rhétorique. In: Rossetti, Livio (ed.): Understanding the Phaedrus: Proceedings of the II. Symposium Platonicum; Sankt Augustin 1992, S. 275–279, hier S. 279.]

[13]Vgl. Frgm. 77 Diehl.

[14] Vgl. Blum, Herwig: Die antike Mnemotechnik; (Spudasmata 15) Hildesheim / New York 1969, S. 44.

[15]Frgm. 64, V. 10 Pfeiffer.

[16]Vgl. Blum a.a.O.

[17]Goldmann, Stefan: Statt Totenklage Gedächtnis. Zur Erfindung der Mnemotechnik durch Simonides von Keos. In: Poetica 21 (1989), S. 43–66, hier: S. 58.

[18]Quintilianus, Marcus Fabius: Ausbildung des Redners [institutionis oratoriae]; 12 Bücher hg. u. übers. v. Helmut Rahn, 2. Teil, Buch VII–XII, 2. Aufl., Darmstadt 1988, X 1, 64, S. 455ff.

[19]Der auf Julia Kristeva zurückgehende Terminus wurde von Renate Lachmann systematisch zur Spezifizierung der Gedächtnisfunktion der Literatur erweitert. Vgl. dies.: Gedächtnis und Literatur; Frankfurt am Main 1990.

[20]Augustinus: Bekenntnisse. Zweispr. Ausg., aus d. Latein. v. Joseph Bernhat; Frankfurt am Main 1987, S. 503, 527 u. 529.

[21]Samsonow, Elisabeth von: The Conception of modal ontology on the basis of a new grammar: The World as Divine Body in Giordano Bruno; Ts. Wien 1996, S. 1.

[22]Böhme, Hartmut: Giordano Bruno. In: Gernot Böhme (Hg.): Klassiker der Naturphilosophie. München 1989, S. 117–136, hier S. 122.

[23]Die allegorische Struktur dieser Szene habe ich eingehend spezifiziert in meinem Buch Naturbild und Diskursgeschichte. »Faust«-Studie zur Rekonstruktion ästhetischer Theorie; Stuttgart 1992, S. 119–135.

[24]Assmann, Aleida / Assmann, Jan: Schrift [Wörterbuchartikel]. In: Ritter, Joachim / Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8 R–Sc; Basel Stuttgart 1992, Sp. 1417–1431, hier Sp. 1425.

[25]Yates, Frances A: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare; 3. Aufl. Berlin 1994, S. 137.

[26]Vgl. ausführlich über die Erinnerungsstufen in Fausts Osternacht-Monolog: Michel, Christoph: Fausts Tränen.  In: Das weinende Säkulum; Heidelberg 1983, S. 115–122.

[27]Gespräch mit E. Förster, 9.11.1825. In: Goethe, Johann Wolfgang v.: Gespräche. Gesamtausgabe. Neu hrsg. v. Flodoard Frhr. v. Biedermann. 5 Bde. Leipzig 1909-1911, Bd. 3.

[28]Vgl. Zabka, Thomas: Faust II – Das Klassische und das Romantische. Goethes 'Eingriff in die neueste Literatur'; Tübingen 1993, S. 140–198. Vgl. Hölscher-Lohmeyer, Dorothea: Natur und Gedächtnis. Reflexionen über die klassische Walpurgisnacht. In: Keller, Werner (Hg.): Aufsätze zu Goethes 'Faust II'; Darmstadt 1991, S. 93–122, hier insbes.: S. 98f. u. S. 122.

[29]Ausdruck dieser Kritik ist z.B. auch die Figur des Epimetheus in der 'Pandora' (HA V): Der "Nach-Sinnende" genießt seine Fähigkeit, ganz in der Vergangenheit zu leben: "O göttliches Vermögen mir, Erinnerung! / Du bringst das hehre frische Bild ganz wieder her" (V. 597). Gerade diese ästhetizistische Selbstgenügsamkeit ist es, die seine Träumerei in blinden Aktionismus umschlagen läßt. (Vgl. Meyer-Abich, Klaus Michael / Matussek, Peter: Skepsis und Utopie. Goethe und das Fortschrittsdenken. In: Goethe-Jahrbuch 110 (1993), S. 185–207, hier: S. 199–203.)

[30]Ich zitiere nach Hofmannsthal, Hugo von: Der Tor und der Tod. In: ders.: Die Gedichte und kleinere Dramen; 2. Aufl. Leipzig 1912, S. 112–131.

[31]Diese Beobachtung habe ich ausführlich dargestellt in meinem Aufsatz: "Intertextueller Totentanz. Die Reanimation des Gedächtnisraums in Hofmannsthals Drama 'Der Tor und der Tod'. In: Böhme, H. / Danneberg, L. u.a. (Hg.):  Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert (im Erscheinen).

[32]Hofmannsthal, Hugo von: Ariadne. Aus einem Brief an Richard Strauß. In: ders.: Gesammelte Werke. Dramen V – Operndichtungen; Frankfurt am Main 1979, S. 279–300, hier: S. 297.

[33]Warning, Rainer: Claude Simons Gedächtnisräume: La Route des Flandres. In: Haverkamp, Anselm / Lachmann, Renate (Hg.): Gedächtniskunst. Raum - Bild - Schrift. Studien zur Mnemotechnik; Frankfurt am Main 1991, S. 356–387, hier S. 363.

[34]Ich zitiere nach Koeppen, Wolfgang: Der Tod in Rom; Frankfurt am Main 1980.

[35]Ich zitiere nach Gibson, William: Neuromancer. In: ders.: Die Neuromancer-Trilogie; Frankfurt am Main 1996, S. 7–324.

[36]Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie; Frankfurt am Main 1977, S. 200.

[37]Düsing, Wolfgang: Erinnerung und Identität. Untersuchungen zu einem Erzählproblem bei Musil, Döblin und Doderer; München 1982, S. 175.

[38]Vgl. etwa Downs, Roger M. / Stea, David: Kognitive Karten: Die Welt in unseren Köpfen; New York 1982. – Hartl, Anton: Kognitive Karten und kognitives Kartieren. In: Freska, Christian C. / Habel, Christopher (Hg.): Repräsentation und Verarbeitung räumlichen Wissens; Berlin u.a. 1990, S. 34–46.

[39]A.a.O., S. 16f.

[40]Vgl. etwa Landow, George P.: What's a Critic to Do? Critical Theory in the Age of  Hypertext. In: Landow, George P. (Hg.): Hyper/Text/Theory, Baltimore, London 1994, S. 1–48, hier S. 1. Das Glossar in Klepper, Martin / Mayer, Ruth / Schneck, Ernst-Peter (Hg.): Hyperkultur. Zur Fiktion des Computerzeitalters; Berlin, New York 1996 erläutert "Intertextualität" als "Verweisstruktur von Texten auf andere Texte. … Hypertexte besitzen eine Art direkte, offene Intertextualität, da sie per definitionem aus vielen verschiedenen Texten und Textversatzstücken nebeneinander und übereinander bestehen, die per Maus-Klick aktualisiert werden können." (S. 278).

[41]Horn, Robert E.: Mapping Hypertext. Analysis, Linkage, and Display of Knowledge for the Next Generation of On-Line Text and Graphics; Waltham 1989.

[42]Bolter, J. David: Writing Space; Hillsdale (NJ) 1991, S. 111.

[43]Als Diskette: Eastgate Systems; Watertown 1995. Als gekürzte Printfassung in: Landow, a.a.O., S. 323–344.

[44]Ebd., S. 336 u. 326.

[45]Vgl. hierzu seinen Aufsatz Rhizome and Resistance: Hypertext and the Dreams of a New Culture. In: Landow, a.a.O., S. 299–323.

[46]Borges, Jorge Luis: Der Garten der Pfade, die sich verzweigen. In: ders.: Erzählungen 1935–1944; München 1981, S. 155–167, hier S. 164.

[47]Bush, Vannevar: As We May Think. In: Atlantic Monthly Nr. 176, July 1945, S.101–108, hier S. 106f.

[48]Vgl. Nelson, Ted: The Hypertext. In: Proceedings of the World Document Foundation 1965. Vgl. Nelson, Ted: A Hypertext Editing System for the 360; llinois 1969.

[49]Deemer, Charles: What is Hypertext? Auf: http://www.teleport.com/~cdeemer/essay/html..

[50]Musil, Robert: Die Verwirrungen des Zöglings Törless. In: ders.: Sämtliche Erzählungen; Reinbek bei Hamburg 1979, S. 5–140, hier S. 19.

[51]Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften; Reinbek bei Hamburg 1978, Kap. 4.

[52]Zit. nach Mauriac, Claude: Proust; Reinbek bei Hamburg 1993, S. 115.

[53]A.a.O., S. IX.

[54]Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1944–47); Frankfurt am Main 1980, S. 55.

[55]Brief Friedrich Schlegels an Friedrich Schleiermacher v. Ende Juli 1798; zit. nach Körner, Josef (Hg.): Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis; 3 Bde. 2. Aufl. Bern und München 1969, hier Bd. 1, S. 7.