Peter Matussek

Faust I

  


Erschienen in: Goethe-Handbuch, Band 2: Dramen, hg. von Theo Buck; Stuttgart 1996, S. 352–390.

 




"Die schiere Fasssungskraft, dieses Werk in seinen unzähligen Anspielungen und Phantasmagorien in eine ebenso konzise wie souveräne Darstellung zu überführen, ist bewundernswert. ... Glanzlichter der Interpretationskunst ... setzt Maßstäbe für die Philologie."
Frankfurter Rundschau

      
 

Quellen

 

"Faust letztes Arrangement zum Druck." Mit dieser knappen Tagebuchnotiz besiegelte G. am 25. April 1806 das Ende einer über 35-jährigen Entstehungsgeschichte, die man eigentlich eine Unvollendungsgeschichte nennen müßte. Daß sie nun doch noch zum Abschluß kam, war auch für den Dichter nicht selbstverständlich. Noch weniger für seinen leidgeprüften Verleger: Cotta fuhr eigens nach Weimar, um das Manuskript abzuholen. Wegen der französischen Besatzung verzögerte sich der Druck um weitere zwei Jahre, dann erst konnte Faust. Eine Tragödie im achten Band der dreizehnbändigen Werkausgabe erscheinen. (Auf diesem Erstdruck - der sogenannten Ausgabe "A" - beruht auch die hier verwendete Textgrundlage, der von Werner Keller edierte Paralleldruck, der für alle drei Werkstufen des Faust die derzeit zuverlässigste Wiedergabe darstellt: Urfaust -  Faust Fragment -  Faust. Eine Tragödie. Frankfurt/Main 1985. Verszahlen aus den Frühstufen des Dramas werden durch die Siglen "U" und "Fr" kenntlich gemacht.)

Daß die Genese des Dramas mit ihren Spannungen und Krisen, ihrem Wechsel von Produktivitätsschüben und Schreibhemmungen selbst zum Drama wurde, lag vor allem an der engen Verknüpfung von Lebens- und Werkgeschichte. G., der ganze Theaterstücke in wenigen Tagen zu schreiben imstande war, brachte seinem Faust gegenüber die für ein planmäßiges Vorgehen nötige Distanz nicht auf. Der Stoff war so innig mit dem eigenen Leben verquickt, die weitere Ausarbeitung war so sehr Produkt der Gewohnheit geworden, neue Erlebnisse und Einsichten unter Schonung des bereits Vorhandenen hinzuzufügen, daß das derart Zusammengetragene sich konzeptionellen Ansätzen immer wieder entzog. Die Inspirationsquellen waren, wie der Dichter in der Zueignung erklärt, "schwankende Gestalten" (V. 1), und sie zeigten schon "früh sich einst dem trüben Blick" (V. 2). Diesen biographischen Schichten des Werkmaterials soll zunächst nachgegangen werden, bevor wir uns der durchaus eigenen Sphäre der dramatischen Struktur und ihrer Deutung zuwenden.

Zu Weihnachten 1753 bekam G. ein Puppentheater von der Großmutter geschenkt, und der Vierjährige dürfte dabei auch schon die Sage vom Teufelsbündner kennengelernt haben. Das wird u.a. durch die Kindheitsschilderung in Wilhelm Meisters Theatralischer Sendung  nahegelegt, die zugleich verdeutlicht, daß Faust-Requisiten zur Grundausstattung solcher Kleinbühnen gehörten (WA I 59, 5). Die "bedeutende Puppenspielfabel", die nach eigener Auskunft "gar vieltönig" in ihm "klang und summte" (WA I 27, 321), geht auf historische Quellen zurück. Melanchton, Luther, Ulrich von Hutten und andere berichten von einem obskuren Zeitgenossen namens Johann Faust (ca. 1480-1540), der durch magische Praktiken Aufsehen erregte. Genaues jedoch war über den Außenseiter der Wissenschaft nicht dokumentiert (vgl. Mahal), so daß sich um seinen angeblichen Teufelsbund eine Fülle von Legenden und Literarisierungen ranken konnten. Diese wurden auf zwei Wegen an das 18. Jh. überliefert.

Beider Ausgangspunkt ist das 1587 erschienene "Volksbuch" des Frankfurter Verlegers Johann Spies. Seine Historia von D. Johann Fausten  ist im Geist des Luthertums geschrieben; sie statuiert das abschreckende Exempel eines Menschen, der sich mit dem Teufel einläßt, um "die Elementa zu speculieren" (S. 22) und "alle Gruend am Himmel vnd Erden" zu "erforschen" (S. 15). Das Buch erfuhr schon bald nach seinem Erscheinen zahlreiche Neuauflagen und Bearbeitungen. G. hat es - vermutlich schon im Kindesalter -  in einer gekürzten Ausgabe der 1674 erschienenen Fassung von Nikolaus Pfitzer gelesen. Dort ist erstmals auch von Helena die Rede und von der Liebe zu einer schönen armen Magd. Der andere Überlieferungsstrang knüpfte sich an die Dramatisierung des Volksbuchs durch Christopher Marlowe, der es zwischen 1588 und 1593 in einer frühen englischen Übersetzung kennenlernte und verarbeitete. Das durch Wanderkomödianten nach Deutschland wiedereingeführte Faust-Drama fand hier insbesondere in der popularisierten Form der erwähnten Puppenspiele, zumeist auf Jahrmärkten, weitere Verbreitung.

Zu den ersten Berührungen mit dem Fauststoff in den beiden Kolportageformen Puppenspiel und Volksbuch, deren Parallelität der dramatisch-epische Zwitterstruktur des G.schen Faust zugrundeliegt, kommt der Einfluß durch zeitgenössische Deutungen, die sich in zahlreichen poetischen Verarbeitungen niederschlagen. Im Zuge der Spätaufklärung wird der Faustfigur wachsende Einfühlung zuteil. Von Lessings Faust-Fragment über das ebenfalls unvollendete Faust-Drama Friedrich Müllers (1749-1825) bis zum Faust-Roman von Friedrich Maximilian Klinger (1752-1831) - um nur die wichtigsten Stationen zu nennen - rückt der hybride Frevler, vor dem die Volksbücher und Puppenspiele gewarnt hatten, schließlich auf zum Identifikationsobjekt einer Verzweiflung an den bedrückenden Zeitumständen.

Die Möglichkeit zu einer solchen Identifikationstendenz, in die sich G.s Drama einreiht, beruhte auf grundsätzlichen Affinitäten zwischen den antiautoritären, antidogmatischen Impulsen des ausgehenden 18. Jhs. und der Aufbruchstimmung der Reformationszeit. Wie seine Zeitgenossen Paracelsus und Agrippa war Faust ein Dissident des scholastischen Wissenschaftsbetriebs, so daß es nahelag, sich seiner rebellischen Energie in der zu einer neuen Scholastik erstarrten Aufklärungskultur zu erinnern. Aber nicht nur solche allgemeinen Wiedererkennungseffekte waren es, die G. veranlaßten, ein Faust-Drama zu schreiben. Konkrete Lebensereignisse zogen ihn unmittelbar in das Weltbild des Magiers hinein.

 

 

"Urfaust"

 

 

Als G. im August 1771 mit dem Abschluß seines juristischen Examens von Straßburg nach Frankfurt zurückkehrte, lagen zwar noch keine Aufzeichnungen zu einem Faust vor (WA I 27, 321). Die beiden Kernelemente des Dramas aber, die im folgenden Winter "gleich so ohne Concept hingeschrieben" wurden (WA I 32, 288), hatten sich der Idee nach bereits in den Studienjahren herausgebildet: die sogenannte 'Gelehrten- bzw. 'Magiertragödie' mit der Universitätssatire und die 'Gretchentragödie'. (Die Angemessenheit dieser Bezeichnungen wird noch zu erörtern sein.)

Die Quellen der Gelehrtentragödie reichen zurück in die ersten Hochschulsemester, die G. von 1765-68 in Leipzig absolvierte. Daß hier das Anschauungsmaterial für die Schülerszene mit ihrer satirischen Studienberatung (U 249-444) zu gewinnen war, leuchtet unmittelbar ein. Aber auch der professorale Stoßseufzer "Hab nun ach..." (U 1) ist bereits von der psychologischen Situation des Jugendlichen geprägt. Das tragische Pathos ist weniger das Produkt eines übermäßigen Gelehrteneifers -  das Studium war fast eine Nebensache für G. - als vielmehr Symptom eines pubertären Imponiergehabes, das die eigenen Unsicherheiten altklug überdeckt. Es galt insbesondere der jüngeren Schwester Cornelia. Am 14.10.1767 zum Beispiel schrieb er ihr: "Die guten Studia die ich studiere machen mich auch manchmal dumm. [...] So ist mirs auch mit den Instituten mit der Historia Juris gegangen, die Narren schwätzen im ersten Buche einem zum Eckel die Ohren voll und die letzten da wissen sie nichts, das macht weil die Herren vornherein ihren Autorem etwas ausgearbeitet haben, aber nicht sonderlich weitgekommen sind. [...] Da kannst du dir eine Vorstellung von einem Studioso Juris machen, was der vollständiges Wissen kann". Die Charakterisierung Fausts, der sich über die "Docktors, Professors, Schreiber und Pfaffen" (U 14) erhaben dünkt und sich selbst kokett abspricht, "was rechts zu wissen" (U 18), ist in diesen aufschneiderischen Berichten schon vorgezeichnet. Im Unterschied zum jungen G. freilich hat sein Faust tatsächlich die aristotelischen Lehren studiert. Und was es bedeutet, wenn Faust, der Exponent der geistesgeschichtlichen Bewegung seiner Zeit, sich zum Neuplatonismus wendet, das mußte der in Leipzig gerade als Autor rokokohafter Liedchen in Erscheinung getretene G. erst noch lernen.

Er lernte es anläßlich einer physischen und psychischen Krise. Ein Blutsturz zwang ihn zur Rückkehr ins Elternhaus, wo er für die nächsten anderthalb Jahre mit Einflüssen konfrontiert wurde, die in der gesteigerten Sensibilität eines Rekonvaleszenten günstige Aufnahmebedingungen fanden: Die pietistisch-alchemistisch orientierte Mutter erkannte sogleich, daß der "Schiffbrüchige" (WA I 27, 196), als der G. sich empfand, an Leib und Seele erkrankt war. Und sie hatte gleichgesinnte Freunde, die ihn mit unorthodoxen Heilmethoden und Überzeugungen traktierten. Der herbeigerufene Arzt, Dr. Metz, war ein Paracelsist, der ihm ein geheimnisvolles Salz verabreichte (S. 202 f.), vermutlich einfaches Glaubersalz, das G. aber als Wundermittel erscheinen mußte, da es ihn von einer lebensbedrohlichen Konstipation befreite. Dankbar empfing er nun die Lehren Susanna von Klettenbergs (1723-1774), dem spirituellen Zentrum des Pietistenzirkels, deren Großonkel Hector nach einer glanzvollen Karriere bei August dem Starken 1720 in Leipzig wegen alchemistischer Praktiken enthauptet worden war. Die Schriften, die sie ihm anriet, verschlang er begierig. War ihm in den behüteten, vom väterlichen Bildungsehrgeiz geprägten Jugendjahren etwa die zufällige Lektüre von Agrippas Abhandlung Über die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften lediglichAnlaß einer vorübergehenden "Verwirrung" gewesen (WA I 26, 255), so fand der Studienabbrecher nun in eben diesem Gedankenkreis die Offenbarung seines Seelenzustandes. Insbesondere Paracelsus dürfte für G.s identifikatorische Beschäftigung mit Faust und seiner Zeit inspirierend gewesen sein. Schon der umstrittene Alternativ-Heiler wußte ja von sich zu berichten, "daß ich am ersten den alten Ge­schrifften gewaltig glauben geben hab und sie gleich dem Evangelio gehalten und nit zugeben, daß sie besser zumachen seyn. Habe aber nit verstanden, daß dieser Glaube auf ein Sandt ge­stellt ist worden. [...] Do verließ ich der alten Scribenten Bücher und Schriften mit sampt ihrem Ge­schwetz, das da pflegen die von den Hohenschu­len" (S. 633 ). Die Bekanntschaft mit Paracelsus, dem das Motiv der "Schau" von "Würkungskrafft und Saamen" (U 31) unmittelbar entlehnt ist, verdankte G. der Unpartheyischen Kirchen- und Ketzerhistorie von Gottfried Arnold (1666-1714). Hinzu kamen die "Ketzer" der aufklärerischen Wissenschaft von Franciscus Mercurius van Helmont (1579-1644) bis zu Emanuel Swedenborg (1688-1772), deren Schriften er sich nun mit einem neuen Studieneifer bemächtigte. Daß G. sich dabei recht genaue Kenntnisse der neuplatonistischen Tradition erwarb, war nur ein Nebeneffekt der Suche nach Artikulationshilfe für den eigenen Überdruß an der Schulwissenschaft, die dann in der Magiertragödie Gestalt annehmen sollte.

Das aus der sogenannten hermetischen Tradition hervorgegangene Weltbild (vgl. Zimmermann) faszinierte G. in dieser Zeit so sehr, daß er selbst alchemistische Experimente unternahm, die allerdings recht erfolglos verliefen. Enttäuscht mußte er feststellen, daß sein Retortengemisch "keineswegs irgend etwas Productives in seiner Natur spüren ließ, woran man hätte hoffen können diese jungfräuliche Erde in den Mutterstand übergehen zu sehen" (WA I 27, 207). Fausts Scheitern vor dem Erdgeist war in diesen Erfahrungen bereits vorgezeichnet.

Auch die Teufelsgestalt gewann in der Rekonvaleszenzphase ihre ersten gedanklichen Umrisse. Unter dem Einfluß der hermetischen Schriften gelangte G. zu einer Deutung der Schöpfungsgeschichte, in der das Böse ein notwendiger Bestandteil des Guten ist: Luzifer ist nach dieser Deutung, die im Achten Buch von Dichtung und Wahrheit referiert wird (WA I 27, 218 ff.), die Ursache der Materie, der Finsternis, die im Gegenzug die Entstehung des Lichts veranlaßte. In eben diesem Sinne wird sich Mephistopheles beim ersten Zusammentreffen mit Faust vorstellen (vgl. V. 1350).

Die erwähnten Einflüsse kristallisierten sich spontan zur Idee eines Dramas, als der Genesene im April 1770 zum Abschluß seines Studiums nach Straßburg ging. Insbesondere die Begegnung mit Herder erschloß ihm ein neues poetisches Niveau. Die geistige Welt des 16. Jhs., die bislang eher weltanschauliches Refugium für ihn gewesen war, wurde nun mit der Naturemphase der Geniebewegung aufgeladen und gegenwartskritisch zugespitzt. Herders Impulse mit ihren Leitideen der "Kraft" und des pindarischen "Odenfeuers" verhalfen G. dazu, aus dem humanistischen Stoff in der Folgezeit das zentrale Mythologem des Sturm und Drang herauszuarbeiten. Die neue Ausdrucksweise prägte sich schließlich Fausts Eingangsmonolog ein, wenn er etwa von der Erhöhung seiner "Kräffte" (U 109) spricht oder der Glut (U 110) der Begeisterung, die in der "Flammenbildung" (U 147) des Erdgeistes verkörpert wird.

Indem er sich unter den despektierlichen Kommentaren des Mentors von seiner alchemistischen Passion löste, gewann G. nicht nur eine neue poetische Sprache, sondern zugleich jene selbstironische Distanz gegenüber dem akademischen Imponiergehabe, die sich dann in der Universitätssatire niederschlagen sollte. Ausgestattet mit dem neuen Geniebewußtsein der Straßburger Zeit, blickte er aber auch auf die Eskapaden des Leipziger Studententreibens nur mehr abschätzig zurück. Sie waren ihm - das bezeugt die Szene in Auerbachs Keller, dem G. wohlbekannten, mit Faust-Bildern geschmückten Lokal -  zum Inbegriff einer dumpfen Säuferbegeisterung geworden.

Die neue Gegenwartsorientierung konnte freilich das Mittelalter nur insoweit überwinden, als dieses aus der eigenen Lebenswelt verschwunden war. Das war es aber nur teilweise. Noch im Jahre 1782 wurde eine "Hexe" in Glarus geköpft. Solche Relikte voraufklärerischer Rechtssprechung waren ein zentraler Gesprächsstoff im Kreis der Stürmer und Dränger, als G. 1771, zum 'Licentiat der Rechte' examiniert, in seine Heimatstadt zurückkehrte. Eines davon lernte er unmittelbar aus den Prozeßakten kennen: Am 14. Januar 1772 wurde in Frankfurt die Dienstmagd Susanna Margaretha Brandt wegen Kindesmordes hingerichtet. Die aus den Geheimhaltungszwängen einer repressiven Moral hervorgegangene Verzweiflungstat gab dem dichtenden Anwalt den Anstoß zur Gretchentragödie.

Die Figur der Margarete teilt das Schicksal der Susanna Margaretha Brandt; zugleich enthält sie Züge von Jugendgeliebten G.s. Vielleicht schon Züge der in Dichtung und Wahrheit ebenfalls"Gretchen" genannten Frankfurter Freundin, der G. sich zunächst vergeblich, bevorzugt beim Herausgehen aus der Kirche, zu nähern suchte, sie jedoch "nicht [...] anzureden, noch weniger sie zu begleiten" traute (WA I 26, 267). Gewiß aber trägt Margarete Züge der Sesenheimer Geliebten Friederike Brion, die in Dichtung und Wahrheit als 'Unschuld vom Lande' typisiert wird. Die Pfarrerstochter dürfte die freisinnigen Reden des jungen Genies mit eben den gemischten Gefühlen aufgenommen haben wie die Geliebte Fausts dessen pantheistische Bekenntnisreden. G. liebte Friederike um ihrer Naivität willen - und verließ sie aus dem gleichen Grunde, abrupt, ohne erklärende Aussprache. Die Schuldgefühle über den plötzlichen Abbruch der Beziehung haben diversen Figuren ihre Spuren eingezeichnet, und so läßt sich der Wunsch ihrer Verarbeitung auch an der psychologischen Subtilität der Margaretenhandlung ablesen (vgl. Silver).

Die erwähnten Einflüsse und Motive waren in der Form eines losen Ensembles von Szenen ausgestaltet, als G. 1775 seine Stelle am Weimarer Hof antrat. Dort las er, wie schon in Frankfurt, aus seinen Papieren vor. "Die Herzoginnen waren gewaltig gerührt bei einigen Szenen", berichtete Graf Stolberg am 6.12.1775 seiner Schwester. Das Hoffräulein Luise von Göchhausen fertigte eine Abschrift an, die erst 1887 durch den Germanisten Erich Schmidt in ihrem Nachlaß aufgefunden wurde. Dieses Manuskript enthält aber wahrscheinlich nicht alle bis dahin vorliegenden Szenen des 'Frankfurter Faust' (vgl. Nollendorfs). Schmidt selbst edierte die Göchhausensche Abschrift unter dem Titel Faust in ursprünglicher Gestalt - eine im doppelten Sinne mißverständliche Formulierung, da Schmidt nicht nur offensichtliche Orthographiefehler der Kopistin korrigierte und diverse Stellen sprachlich modernisierte, sondern mit seinem Publikationstitel auch die Tatsache verwischte, daß es sich hier bereits um eine auswählende Bearbeitung der ursprünglichen Manuskripte handelte. Ob Albrecht Schönes Sprachregelung, die die dennoch eingebürgerte Bezeichnung "Urfaust" durch "Faust. Frühe Fassung" ersetzt, durchgreift, bleibt abzuwarten. Die von ihm herausgegebene Frankfurter Ausgabe folgt der seit Werner Kellers Paralleldruck gültigen Maxime, sich möglichst nahe an die ursprüngliche Orthographie des Manuskripts zu halten. Damit wird ein problematisches Erbe älterer "Urfaust"-Editionen abgestreift: die Modernisierung und Angleichung der stark mundartlich geprägten Schreibweise des Manuskripts ans Hochdeutsche, wie sie noch Erich Trunz für die Hamburger sowie Ernst Grumach und Inge Jensen für die Berliner Ausgabe vornahmen. Diese, auch Akademie-Ausgabe genannt, bringt im Ergänzungsband 3 zusätzlich einen Paralleldruck der drei Faust-Fassungen. Doch wurde auch hier manches nach Gutdünken korrigiert und so die mit dieser Editionsform verbundene Chance vertan, mutmaßliche wie offensichtliche Irrtümer dem vergleichenden Urteil des Lesers zu überlassen. Diese Chance nutzte erst die von Werner Keller im übersichtlichen Querformat herausgegebene Synopse, die sich - im Rahmen des typographisch Möglichen -  eng an das Göchhausen-Manuskript hält. Nach wie vor bietet sie die für werkgenetische Studien beste Textdarstellung. Zumindest eine falsche Wiedergabe der Vorlage indessen ist bisher noch allen Editoren unterlaufen (vgl. Ehrenzeller): Im Manuskript heißt es richtig "Menschheit" (U S. 600, Z. 2; entspricht V. 4406), nicht "Menscheit" – ein kontinuierlich tradierter Lesefehler Schmidts.

 

 

Faust. Ein Fragment

 

 

In der Zeit seiner Weimarer Faust-Lesungen wurde G. vielfach gedrängt, das Drama publikationsreif zu machen. Doch die Amtsgeschäfte und die neuen naturwissenschaftlichen Interessen schoben sich in den Vordergrund. Die spärliche Freizeit war der platonisch geliebten Charlotte von Stein sowie Rückzügen in die Einsamkeit der thüringischen Wälder vorbehalten. Und doch, ohne daß die Arbeit am Faust fortgesetzt wurde, verdichteten sich diese Eindrücke des ersten Weimarer Jahrzehnts zu Motiven, die in das Stück eingehen sollten: In der Szene Wald und Höhle  zieht sich ein völlig verwandelter, nämlich liebevoll sich den Eindrücken hingebender Faust in die Natur zurück, befriedigt, ein wohlbestelltes "Königreich" (Fr 1892) darin finden zu können, und fasziniert von der dort betrachteten "Reihe" (Fr 1897) der Lebewesen - wie es mit einem naturwissenschaftlichen Zentralbegriff G.s in diesen Jahren heißt. Niedergeschrieben wurde die Szene wahrscheinlich erst in Italien, Skizzen jedoch dürfte es vorher gegeben haben, denn die Verwandtschaft zu dem Gedicht Harzreise im Winter (1777)und zur Abhandlung Über den Granit (1784) ist nicht übersehbar. Auch wenn G. nicht am Faust arbeitete, 'arbeitete' der Faust doch in ihm.

Freilich war der erlebnisgebundene Produktionsvorgang einer Fertigstellung des Dramas eher abträglich. Obwohl G. das Manuskript mit nach Italien nahm, um es für die erste Ausgabe seiner Werke bei Göschen endlich zu vollenden, schob er die Überarbeitung weiter vor sich her: "An Faust gehe ich ganz zuletzt, wenn ich alles andre hinter mir habe. Um das Stück zu vollenden, werd ich mich sonderbar zusammennehmen müßen. Ich muß einen magischen Kreis um mich ziehen, wozu mir das günstige Glück eine eigne Stäte bereiten möge" (an Carl August, 8.12.1787). In Rom gelang ihm dann immerhin eine für die Logik des Dramas wichtige Szene, die Hexenküche, die nötig war, um plausibel zu machen, daß ein verdrießlicher Stubengelehrter sich plötzlich in ein leidenschaftliches Liebesabenteuer verwickeln kann. Stolz wurde berichtet, daß es ihm gelungen sei, die neue Szene dem "Ton des Ganzen" anzupassen: "Und wenn ich das Papier räuchre, so dächt' ich, sollte sie mir niemand aus den alten herausfinden" (WA I 32, 288). Gerade die Konzentration auf den "Ton" aber engte den Blick für die Konzeption ein. Da er "eine ganz besondre Neigung" zu dem Stoff hegte, wie er Carl August am 28.3.1788 versicherte, brachte G. die für eine Fertigstellung nötige Distanz nicht auf. Lieber brachte er neue Aspekte ein und nahm damit weitere Risse in Kauf, als daß er sich hätte entschließen können, das bereits Geschriebene konzeptionell zu bündeln und zu glätten. Iphigenie und Egmont konnte er in Italien abschließen, den Faust brachte er unvollendet wieder mit nach Weimar und beschloß: "Faust will ich als Fragment geben aus mehr als einer Ursache" (an Carl August, 5.7.1789). Bemerkenswert ist nun, daß er den Fragmentcharakter bewußt und mit Sorgfalt als solchen kenntlich machte: Der Prosaschluß des "Urfaust" wurde gestrichen und die Szene Wald und Höhle  so weit nach hinten gerückt, daß sie dem dramatischen Geschehen offensichtlich zuwiderläuft. Diese Verwerfungen sind nicht Ausdruck von Nachlässigkeit, sondern des konsequenten Bemühens um Verdeutlichung der für das Stück charakteristischen Brüche. "Ich bin wohl und fleißig gewesen", berichtete G. am 5.11.1789 seinem Herzog, "Faust ist fragmentirt, das heißt in seiner Art für dießmal abgethan". Im darauffolgenden Jahr erschien Faust, ein Fragment in Band 7 der Werkausgabe Göschens.

Die Ausgabe als solche war ein geschäftliches Desaster für den Verleger; es fanden sich nur rund 300 Subskribenten. Faust. Ein Fragment erschien im selben Verlag zugleich als Separatdruck sowie in zahlreichen Titelauflagen (s. Hagen Nr. 204 a-q). Obschon G. die Breitenwirkung vermißte - die bei einem als unfertig angekündigten Werk schwerlich zu erreichen war -, hinterließ das Stück unter Eingeweihten doch einen tiefen Eindruck. Die Schlegel-Brüder, Schelling und Hegel erkannten auch und gerade in dem Fragment das Drama des modernen, zerrissenen Bewußtseins. Und die Herzogin Luise schrieb völlig hingerissen an ihren Bruder: "Ich empfehle Dir ganz besonders, so schnell wie möglich, den Doktor Faust zu lesen. Wenn Du dann nicht ganz begeistert bist, nicht ganz außer Dir, nicht ganz aus allen Angeln, nicht ganz aus dem Häuschen, usw., usw., wenn Du dann nicht eingestehst, daß es ein Meisterwerk einzig in seiner Art ist, dann, mein Prinz, werde ich vor Erstaunen starr sein, in mein Nichts zurücksinken und in Ohnmacht fallen" (Bräuning-Oktavio, S. 142).

Die Druckvorlage des Faust-Fragments von 1790 ist nicht erhalten, was viele Editionen - so die Hamburger und die Frankfurter Ausgabe - veranlaßte, eine mutmaßliche Rekonstruktion gar nicht erst aufzunehmen. Die unvermeidliche Spekulation über die Gestalt des Originals indessen dürfte durch die gründlichen Studien von Waltraud Hagen und Martin Boghardt auf ein Minimum begrenzt sein. Ihren Ergebnissen schließt sich - unter Hinzufügung weiterer, sorgfältig recherchierter Berichtigungen - die Münchner Ausgabe an, wobei sie allerdings gelegentliche Modernisierungen vornimmt und insofern mit Werner Kellers Synopse wissenschaftlich nicht konkurrieren kann. Der Paralleldruck ist auch im Hinblick auf das Fragment für genetische Studien hilfreich mit seiner Maxime, selbst offensichtliche Druckfehler stehen zu lassen, da sie der Leser aus dem Textvergleich mit der nächsten Werkstufe selbst erschließen kann.

 

 

Faust. Eine Tragödie

 

 

Natürlich weckte der fragmentarische Charakter des Werks bei vielen Lesern den Wunsch, es vollendet zu sehen. Besonders einen Systematiker wie Schiller mußte die Frage reizen, wie die einzelnen Partikel sich zu einer Einheit zusammenfügen ließen. Gleich zu Beginn der Zusammenarbeit mit G., am 29.11.1794, schrieb er ihm: "Aber mit nicht weniger Verlangen würde ich die Bruchstücke von ihrem Faust, die noch nicht gedruckt sind, lesen, denn ich gestehe Ihnen, daß mir das, was ich von diesem Stücke gelesen, der Torso des Herkules ist". Doch G. erwiderte nur, er fühle "keinen Muth", das Werk wieder vorzunehmen (2.12.1794). Jahrelang schwieg er zu dem Thema.

Dann jedoch, am 22.6.1797 teilte er Schiller völlig überraschend mit, daß er die Arbeit fortsetzen wolle, "indem ich das was gedruckt ist, wieder auflöse und, mit dem was schon fertig oder erfunden ist, in große Massen disponire, und so die Ausführung des Plans, der eigentlich nur eine Idee ist, näher vorbereite. [...] Nun wünsche ich aber daß Sie die Güte hätten die Sache einmal, in schlafloser Nacht, durchzudenken, mir die Forderungen, die Sie an das Ganze machen würden, vorzulegen, und so mir meine eignen Träume, als ein wahrer Prophet, zu erzählen und zu deuten". Die schlaflose Nacht Schillers war schon durch diese Mitteilung gesichert. Am nächsten Tag erhielt G. ein Schreiben, in dem der Kantianer darlegt, das disparate Stück könne nur dann zu einer Einheit finden, wenn es einer philosophischen Konzeption folge; "die Einbildungskraft" müsse sich "zum Dienst einer Vernunftidee bequemen".

G. fertigte tatsächlich nun ein "ausführlicheres Schema" an. Das geht aus dem Tagebucheintrag vom 23.6.1797 hervor. Das Schema selbst ist zwar verloren gegangen, doch läßt sich aus dem Kontext der zeitgleichen Briefe und Schriften immerhin erschließen, was es offenbar nicht enthielt: eine Erfüllung von Schillers Forderung nach einem "poetischen Reif" im Sinne der klassischen Dramentheorie (26.6.1797). "Der Dramatiker", so heißt es in dem von beiden gemeinsam formulierten Aufsatz Über epische und dramatische Dichtung, stehe "meist auf Einem Puncte fest" (WA I 41.2, 222); er stelle die Begebenheiten als "vollkommen gegenwärtig" dar (S. 220), und zwar durch eine "Vorwärtsschreitende" (S. 221) Motivierung. Für G.s Faust aber mit seinem ziellosen Hin- und Hergerissensein gilt das genaue Gegenteil. Er erfüllt die Kriterien des "epischen Gedichts", denn dieses ist die angemessene Form für "jede Art von Unternehmung, die eine gewisse sinnliche Breite fordert" (ebd.). Hierfür gab es ein Vorbild, mit dem das Faust-Fragment seinerzeit häufig verglichen wurde, nämlich Shakespeare. Und wenn G. Schiller gegenüber von einer "barbarischen Composition" spricht (27.6.1797), so ist das nicht wertend zu nehmen, sondern beschreibend; es ist eine fremdartige Komposition, die nicht am klassischen Drama, nicht am Süden, sondern am Norden, an Shakespeare ihr Paradigma hat. Und in der Tat zog G. die paradox anmutende Konsequenz: "Bey dem Ganzen, das immer ein Fragment bleiben wird, mag mir die neue Theorie des epischen  (Hervorhebung von P. M.) Gedichts zu statten kom­men" (an Schiller, 27. 6. 1797). In diesem Zusammenhang, den Thomas Zabka einschlägig erörtert hat (S. 37-44), wurde vermutlich der später fallengelassene Faust-Epilog formuliert, der sich in seiner ersten Entwurfsfassung so liest: "Des Men­schen Leben ist ein episches Gedicht: / Es hat wohl Anfang, hat ein Ende, / Allein ein Ganzes ist es nicht" (WA I 15.1, 344 und 15.2, 188).

Wenn es eine Regel gab, der G. folgte, so war es die offene Regel der Reihenbildung. Sie geht ursprünglich nicht auf poetologische, sondern auf naturwissenschaftliche Überlegungen zurück, die bereits im ersten Weimarer Jahrzehnt in Opposition zur statischen Klassifikation Linnés formuliert wurden: "Da alles in der Natur, besonders aber die allgemeinern Kräfte und Elemente in einer ewigen Wirkung und Gegenwirkung sind, so kann man von einem jeden Phänomene sagen, daß es mit unzähligen andern in Verbindung stehe. [...] Die Vermannigfaltigung eines jeden einzelnen Versuches ist also die eigentliche Pflicht eines Naturforschers" (WA II 11, 32). G.s Weiterführung des Faust folgte diesem Prinzip der Vermannigfaltigung. Er registrierte sehr genau, daß ihm die allzu "deutliche Baukunst die Luftphantome [...] verscheucht" (an Schiller, 1.7.1797). Er unterlief deshalb die Einheitsforderungen Schillers durch eine Szenenreihung, die dem zu dieser Zeit als unabschließbar gefaßten Verständnis organischer Naturen entsprach. Das Werk sollte "zu männiglicher Verwunderung und Entsetzen, wie eine große Schwammfamilie (d.h. eine Pilzkolonie, P.M.), aus der Erde wachsen" (ebd.). Den Entstehungsprozeß eines solchen polyzentrischen, nur durch ein untergründiges Fadengeflecht zusammengehaltenen Gebildes suchte er durch eine entsprechende Arbeitsorganisation zu begünstigen: "Ich lasse jetzt das Gedruckte (das Fragment von 1790, P. M.) wieder abschreiben und zwar in seine Theile getrennt, da denn das neue desto besser mit dem alten zusammenwachsen kann" (ebd.). Diesen Neuansatz der dezentralen Organisation durch Vereinzelung baute er schließlich zu einer regelrechten Technik aus. Am 5.5.1798 erklärte er Schiller: "Die Theile sind in abgesonderten Lagen, nach den Nummen eines ausführlichen Schemas hinter einander gelegt. Nun kann ich jeden Augenblick der Stimmung nutzen, um einzelne Theile weiter auszuführen und das ganze früher oder später zusammen zu stellen." (Zur Edition des überlieferten Materials nach der Ordnung des bezifferten Schemas vgl. Bohnenkamp.)

Die neue Arbeitsform gestattete es G., auch entfernt liegendes, ja urspünglich gar nicht für den Faust gedachtes Material einzubeziehen, wie zum Beispiel einige Xenien, die er für Schillers Musenalmanach geschrieben hatte: Nachdem es dort nicht zu einer Veröffentlichung der Verse kam, verfiel er auf die Idee, sie für ein Intermezzo in der Walpurgisnacht zu verwenden. Aber hatte er sich mit der Erwartung, die Vielfalt der Werkpartikel werde sich irgendwann schon zu einem Ganzen "zusammenstellen" lassen, nicht übernommen? Zwar sorgte er durch eine Versifizierung der früheren Prosa-Passagen, von der er lediglich die Szene Trüber Tag. Feld ausnahm, für eine gewisse Einheitlichkeit der poetischen Distanz. Doch die inhaltlichen Brüche blieben; die Arbeit stockte abermals. Und Schiller ersann eine neue Taktik. Er schrieb am 24.3.1800 an Cotta: "Ich fürchte, G. läßt seinen Faust, an dem schon viel gemacht ist, ganz liegen, wenn er nicht von außen und durch anlockende Offerten veranlaßt wird, sich noch einmal an die große Arbeit zu machen und sie zu vollenden". Kurz darauf schon hielt G. einen Brief Cottas in Händen, der ihm, wie er Schiller am 11.4. berichtete, "sehr angenehm" war, und er nahm sofort die Arbeit wieder auf. Es entstand ein neues Schema, die sogenannte klassische Faust-Konzeption. Die Struktur dieses Schemas ist nun entschieden aporetisch; ihre Quintessenz steckt in dem Vorhaben: "Diese Widersprüche statt sie zu vereinigen disparater zu machen" (WA I 14, 287). Darin mag bereits G.s später immer deutlicher hervortretende Skepsis gegenüber der Identitätsphilosophie anklingen - auf jeden Fall aber die Ablehnung einer Lösung des poetischen Problems in einer philosophischen Synthese. Und als Schiller ihm, wiederum freundlichen Druck ausübend, am 16.3.1801 aus Jena schrieb, daß die "hiesigen Philosophen ganz unaussprechlich gespannt" seien auf die Fortsetzung des Faust, antwortete G. zwei Tage später mit selbstbewußter Ironie, da hätte er sich "freilich zusammen zu nehmen".

Gleichwohl war es die identitätsphilosophische Vorstellung, daß die Natur sich aus Polaritäten zu neuen Formen zu steigern vermöge, die G. für die Konzeption des Dramas fruchtbar machte. Wie in der Naturforschung, so schien G. die Realisierung dieser Vorstellung auch in der Kunst geeignet, zu verhindern, daß die Natur "in ihrer großen Breite [...] sich in's Gleichgültige verliert" (WA I 47, 18). Der im Faust-Fragment bereits angelegte Wechsel von Zuständen und Situationen wurde nun nach dem Prinzip von Polarität und Steigerung durchkomponiert: G. vertiefte den Gegensatz von Depression und Euphorie in der Szene Nacht bis zum Selbstmordversuch, führte Faust dann kontrapunktisch mit der Szene Vor dem Tor ins Freie und ans Licht, um aus der erneuten Resignation in die dunkle Enge des Studierzimmers schließlich das Eingehen des Teufelsbündnisses als gesteigerte Weltzuwendung hervorgehen zu lassen. Die neuen szenischen Elemente füllten die "große Lücke" (V. 606-1769) nach dynamischen Strukturgesetzen und beseitigten so die Motivierungsmängel des theatralischen Geschehens. Dramaturgisch konsequent, rückte nun auch die Szene Wald und Höhle vom Ende an den Beginn der Gretchentragödie.

Nach wie vor jedoch fehlte ein umfassender Rahmen, aus dem die dramaturgische Funktionder kontrapunktischen Szenenreihung ersichtlich gewesen wäre. Wie in der Naturwissenschaft, so kam G. auch hier ohne typisierende und stilisierende Hilfskonstruktionen nicht aus. Um die "große Breite" von übergeordneten Gesichtspunkten aus faßbar zu machen, relativierte er die Darstellungsebene. Und zwar gleich dreifach: Den Auftakt des Dramas bildet nun eine Zueignung, die aus der erzählenden Perspektive des Dichters die Werkgenese beschreibt. Ihr folgt ein Vorspiel auf dem Theater, das die epische Struktur der Szenenreihung legitimiert und den Gang der Handlung umreißt: "Vom Himmel, durch die Welt, zur Hölle" (V. 242). Ein Prolog im Himmel schließlich konzentriert den Blick auf das Zentralmotiv des folgenden Geschehens: das durch den Irrtum zur Wahrheit führende Streben. Dieser dreifacheRahmen indessen vermag weniger die Einheit des Werks zu befestigen als dessen Uneinheitlichkeit durch Perspektivenwechsel zu erläutern. Die Selbstkommentierung des Stücks im Stück - nicht nur durch die drei Vorspiele, sondern auch etwa durch die Revueszenen Vor dem Tor und Walpurgisnacht oder durch das Intermezzo des Walpurgisnachtstraums - schafft eine ästhetische Distanzierung im Sinne eines "epischen Theaters" avant la lettre.

Durch den weitgesteckten Rahmen stellte G. außerdem klar, daß Faust nur als umfassendes Menschheitsdrama seinen Abschluß finden könnte, daß also auf die "kleine Welt" der Gelehrten- und Gretchentragödie die Fortsetzung einer "großen Welt" würde folgen müssen. Die Anfänge hierfür waren mit 'Helena im Mittelalter' bereits gemacht.

Reihenbildung, Polarisierung, Episierung - die beschriebenen Kompositonstechniken hat G. später unter dem Begriff Wiederholte Spiegelungen (WA I 42.2, 56 f.) zusammengefaßt. Diesen - aus optischen Experimenten gewonnenen - Begriff erläuterte er in einem Brief an Iken vom 27.9.1827 so: "Da sich gar manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direkt mitteilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenüber gestellte und sich gleichsam in einander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren." Dabei blickte G. wohl auch auf die Entstehungszeit des ersten Faust-Teilszurück. Vom 21.3. bis zum 21.4.1806 arbeitete er konzentriert an der Schlußredaktion mit Riemer. Auch wenn er diesem gegenüber den Faust I weiterhin als "fragmentarisch" bezeichnete (zu Riemer, Bd. 2, S. 568; an Boisserée, 8.9.1831), konnte er dem Besuch seines Verlegers gelassen entgegensehen. Er hatte ein Werk vollendet, das sich mit tausenden von Editionen in allen Sprachen weltweit verbreiten sollte.

Zu G.s Lebzeiten bereits erschienen über ein Dutzend Einzelausgaben von Faust I (s. Hagen Nr. 310-322); außerdem war der Text natürlich auch in allen Werkausgaben bei Cotta und ihren verschiedenen Derivaten enthalten. Schon mit dem Erstdruck, der als Faust. Eine Tragödie in Band 8 der ersten Cottaschen Gesamtausgabe und kurz darauf auch als Separatdruck veröffentlicht wurde, war G. offenbar nicht unzufrieden. Ein Fehlerprotokoll von Riemers Hand, ein Jahr nach der Publikation angelegt (WA III 4, 374), vermerkt lediglich drei Irrtümer. Daneben aber hat es in der Druckgeschichte zahlreiche Irrtümer und Entstellungen mit bisweilen törichten Modernisierungsversuchen gegeben. Weichenstellend hierfür war die Entscheidung der Weimarer Ausgabe, sich an die 1829 erschienene Oktav-Version der Ausgabe letzter Hand  zu halten. Ihr folgten die meisten späteren Drucke. Nach der Einschätzung von Ernst Grumach, der die Akademie-Ausgabe besorgte, ist jedoch die ein Jahr früher erschienene Taschenausgabe letzter Hand die von G. mit weitaus größerer Sorgfalt durchgesehene. Die Frankfurter Ausgabe schließt sich diesem Urteil an und restituiert - mit dem nicht gerade skrupulösen Anspruch, in ihr liege "zum ersten Mal ein von Entstellungen befreiter und authentischer Text" (Schutzumschlag) vor -  weitgehend die urspüngliche Interpunktion, die in früheren Ausgaben nach Maßgabe der jeweils geltenden Rechtschreibregeln modernisiert worden war. Problemfälle jener Restitution sind insbesondere die Semikola, die zu G.s Zeit eine erheblich von der heutigen abweichende Bedeutung hatten. Der Herausgeber, der hier von Fall zu Fall unterschiedlich entscheidet, mag letztlich auf modernisierende Eingriffe doch nicht ganz verzichten, um "eine gewisse Leseerleichterung" zu "schaffen" (Schöne, S. 99). Offen indessen bleibt die Frage, ob nicht schon die Basis dieser Rekonstruktions- und Korrekturversuche falsch gewählt ist, denn auch die Taschenausgabe letzter Hand ist in einem beträchtlichen Maße von G.s Sekretären und den Setzern verfremdet worden, so daß es trotz G.s passiver Duldung problematisch ist, diese Ausgabe als den "höchst autorisierten, letztwilligen Text" (Schöne, S. 74) anzusehen. Der Rückgriff auf den Erstdruck dürfte angesichts dessen der wissenschaftlich konsequentere Weg sein. Ihm folgte Werner Kellers Synopse, die sich - dem bereits erwähnten Editionsprinzip gemäß -  strikt an die originale Schreibweise hält, wobei sie außerdem über das Verhältnis zwischen den beiden Publikationsvarianten präzise Auskunft gibt. Textauslassungen bei "anstößigen" Stellen durch sogenannte Anstandsstriche, wie sie G. selbst verwendete - und ihm folgend selbst noch die Hamburger Ausgabe -, sind hier freilich, wie in allen neueren Ausgaben, durch Klammerzusätze ergänzt. Das kann durchaus als autorintentional verstanden werden, da G.s Streichungen kenntlich machen, daß sie lediglich aus zeitbedingten moralischen Rücksichten vorgenommen wurden. Die Zumutungen des Textes, die in dieser Hinsicht heute nicht mehr existieren, sind auf einem anderen Gebiet freilich unvermindert groß: dem Gebiet des poetischen Ausdrucks, dessen Vielgestaltigkeit kaum ein anderes Werk erreicht.

 

 

Die Vorspiele

 

 

Den Auftakt des Dramas bilden die feierlich-getragenen Stanzen der Zueignung. Sie sind nur indirekt, auf eine subtil vermittelte Weise, eine Zueignung an das Publikum: Sie beschreiben in erster Linie, wie der Dichter sich selbst dem Stoff erinnernd widmet, und sie werden zur Widmung an das Publikum erst dadurch, daß sie es teilnehmen lassen an der Intimität der persönlichen Erinnerung. Die gefühlvolle Rückschau in das "Geisterreich" (V. 26) der ersten Faust-Entwürfe und die Schilderung der Empfindungen, die beim wiederholten Versuch aufsteigen, "schwankende Gestalten" (V. 1) des früh Erlebten "fest zu halten" (V. 3), sind Einstimmungen im buchstäblichen Sinne. Ihre Sprache sucht Dichter und Werk, Werk und Publikum in Einklang zu versetzen – mit ungewissem Erfolg, denn alle drei Dimensionen sind "schwankend": "Bang" (V. 22) präsentiert der Dichter ein Lied von "unbestimmten Tönen" (V. 27) einer "unbekannten Menge" (V. 21).

Diese Ungewißheiten zu erörtern und in eine gelingende "Unternehmung" (V. 36) zu übersetzen ist der Inhalt des Vorspiels auf dem Theater. Hier hat sich der Dichter, der am liebsten nur seiner inneren Eingebung folgen möchte, den äußeren Bedingungen der Kunstproduktion zu stellen, den Anforderungen von Intendanz und Schauspielerei. Der Theaterdirektor, der natürlich auf volle Kassen erpicht ist, möchte dem Publikum durch einen möglichst umfassenden Einsatz der Bühnentechnik imponieren. Die Lustige Person, die ihre Fähigkeiten ausspielen will, fordert das "volle Menschenleben" bei der Charaktergestaltung. Der Autor des Faust ist in diesem Trio nicht etwa mit dem Dichter zu identifizieren. Vielmehr gehen die Anforderungen, die G. mit dem Werk zu realisieren suchte, aus den Spannungen des dargestellten Trilemmas hervor. Das Vorspiel thematisiert wesentliche dramaturgische Prinzipien des folgenden Stücks - nicht als einheitliche Idee, sondern als wechselseitige Steigerung widerstrebender Tendenzen. Der Dichter, der in manchen Zügen an Schiller erinnert, nimmt zwar zunächst Motive (V. 12 u. 65) und das Metrum (V. 59-74) aus der Zueignung auf, doch steigert er die dort angesprochene Sehnsucht nach dem "Geisterreich" unter dem Druck der an ihn herangetragenen Forderungen zu einer Position betonter Innerlichkeit, die bereits das Pathos der ersten Faust-Verse anklingen läßt (V. 184-197). Sein Idealismus verstärkt auf der anderen Seite den Realismus der Lustigen Person, die auf Lebensnähe besteht: "So braucht sie denn die schönen Kräfte" (V. 158). Der Direktor ist es schließlich, der zwischen den heterogenen Forderungen pragmatisch vermittelt ("Gebt ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken!" - V. 99) und sein Machtwort spricht, mit dem er zu "Thaten" (V. 215) auffordert, die alle erhobenen Forderungen nach der Maxime epischer Totalität in sich vereinen: "So schreitet in dem engen Breterhaus / Den ganzen Kreis der Schöpfung aus, / Und wandelt, mit bedächtger Schnelle, / Vom Himmel, durch die Welt, zur Hölle" (V. 239-242).

Der - an mittelalterliche Mysterienspiele und das barocke Welttheater erinnernde - Prolog im Himmel entfaltet in einer heterogenen Mischung aus biblischen, pythagoreisch-aristotelischen und kopernikanischen Motiven eine kosmologische Ordnung, die das folgende Geschehen in den göttlichen Schöpfungsplan integriert. Das Gute und das Böse gehören ihm zufolge ebenso zusammen wie Licht und Dunkel, selbst Katastrophen bleiben letztlich doch eingebettet in das "sanfte Wandeln" (V. 266) der göttlichen Natur. So verhält es sich auch mit dem Verhältnis zwischen dem Herrn und Mephisto: Dieser "reizt und wirkt und muß, als Teufel, schaffen" (V. 343) - und erfüllt damit doch nur den Willen Gottes, der den Menschen durch alle Versuchungen hindurch zum Licht führt. Das biblische Motiv der Prüfung aus dem Buch Hiob, das G. hier für die Exposition der Fausthandlung heranzieht (Eckermann 18.1.1825, Müller 10.12.1825), ordnet dem Irrtum, dem Abfall vom rechten Pfad, eine konstruktive Funktion im Heilsplan zu. Das Wettangebot Mephistos ist vor diesem Hintergrund eigentlich ein Selbstwiderpruch: Indem er seine Wette zu erfüllen sucht, bestätigt er ja gerade, was er widerlegen möchte, nämlich die göttliche Fügung: "es irrt der Mensch so lang er strebt" (V. 317). Wenn es also stimmt, daß der Irrtum eine Bedingung der Wahrheit ist, ja daß man - wie G. es an anderer Stelle formulierte - "oft dem Irrthum nicht schaden darf, weil man zugleich der Wahrheit schadet" (WA I 42.2, 124), dann muß Mephisto, je erfolgreicher er ist, seine Wette um so gewisser verlieren. Der Herr geht deshalb auch gar nicht erst auf das Angebot ein, sondern nimmt gleich das gute Ende vorweg (V. 323-329).

Die für eine Tragödienexposition erstaunlich optimistische Grundidee erscheint allerdings in einem widersprüchlichen Kontext, der ihre Zuverlässigkeit in Frage stellt: Der kosmologische Entwurf, der ihre Legitimität verbürgen soll, ist seinerseits als Ansichtssache gekennzeichnet. Er kennt zwar schon die kopernikanische Erklärung für den Wechsel von Tag und Nacht, die Erdbewegung (V. 252 ff.), folgt aber zugleich noch dem ptolemäischen Weltbild (V. 245), der kirchlichen Lehrmeinung zur Zeit des historischen Faust. Indem G. den Faust-Himmel derart historisiert, relativiert er die darin verkündeten Wahrheiten. Er zeigt die höhere Ebene, die das folgende Geschehen als bedingt einführt, ihrerseits als bedingtdurch die Vorstellungswelt der Akteure. Es bleibt also durchaus offen, ob der in einem derart uneinheitlichen Kosmos angesiedelte "Herr" Faust wirklich am Ende in "die Klarheit führen" (V. 309) kann.

 

 

Die Gelehrtentragödie

 

 

Das Drama beginnt als Gelehrtentragödie. Diese läuft konsequent auf Fausts Wettverbindung mit Mephisto zu, den Höhepunkt einer sich steigernden Spannung zwischen Innen und Außen, Denken und Handeln, Wort und Tat.

Faust, Absolvent aller vier scholastischen Fakultäten, will aus den Grenzen der Schuldoktrin ausbrechen, um zu erkennen, "was die Welt / Im Innersten zusammenhält" (V. 382 f.). Wie die Alchemisten seiner Zeit hofft er, durch Rückgriff auf Magie einen unmittelbaren Zugang zu den "Quellen alles Lebens" (V. 456) zu finden. Zwei Varianten von Magie werden uns vorgeführt: die theoretische der Makrokosmosvision und die praktische der Erdgeistbeschwörung. In der ersten kontempliert Faust ein kosmologisches Piktogramm und gerät darüber in Verzückung. Doch diese visio beatifica bleibt äußerlich, bloßes "Schauspiel" (V. 454), das die Wirkkräfte der Natur zwar sichtbar, nicht aber erlebbar macht. Das Zeichen des Erdgeistes hingegen vermag eine Verwandlung zu bewirken: Faust fühlt seine "Kräfte" immer "höher" (V. 462), bis ihm der Erdgeist erscheint.

Der historische Prozeß, der hier zur Darstellung kommt, ist eingebettet in ein Sprachgeschehen, das die poetologische Entwicklung zur Zeit des jungen G. nachvollzieht. Dem Vordringen der alchemistischen Praxis im ausgehenden Mittelalter entspricht die Emanzipation der Ausdruckssprache in der Spätaufklärung: Die neue "Scholastik" der aufklärerisch-wortgläubigen Schulphilosophie wird überwunden zunächst durch die "Makrokosmosvision" einer in den Naturgedichten des Rokoko und der Empfindsamkeit aufgewerteten poetischen Bildlichkeit. Deren Verhaftung an der bloßen Erscheinung veranlaßt eine Kritik, die vom Bild zum Klang, von der Deskription zur Expression übergeht. Nicht durch "trocknes Sinnen" (V. 426), sondern mit den lebendigen "Sinnen" (V. 479) beschwört Faust den "Erdgeist", indem er jede sprachliche Festschreibung zugunsten eines reinen Gefühlsausdrucks überwindet: durch den inflationären Gebrauch poetischer Metaphern (V. 463-467) etwa, die elliptischen Sätze mit ihren Interjektionen oder die Auflösung der prosodischen Ordnung in freie Rhythmen (V. 468 ff.).

Es ist angesichts dieser Ausdrucksorientierung nicht verwunderlich, wenn die philologische "Ahnenforschung" zur Erdgeistfigur keine eindeutigen Quellen anführen kann (vgl. Arens, S. 90). Der Erdgeist erinnert zwar an verschiedene hermetische Quellen, etwa an Giordano Brunos anima terrae und Paracelsus' archeus terrae, doch er ist seinem Wesen nach keine faßliche Figur. Als Verkörperung genialischer Produktivität muß er jeden Versuch der Bestimmung negieren. Die Beschwörung kulminiert somit notwendig in der Zurückweisung des Beschwörers selbst: "Du gleichst dem Geist, den du begreifst, / Nicht mir!" (V. 511 f.). Faust erfährt das Dasein des Erdgeistes nur als unbegreifliches ganz.

Auch der zweite Ausbruchsversuch aus dem Gefängnis der Wortgelehrsamkeit mißlingt also, ja erweist sich selbst als das "Schauspiel", dem er reale Unmittelbarkeit entgegensetzen wollte. Ironisch verdeutlicht das der Auftritt seines Famulus Wagner. Dieser glaubte ihn "declamiren" (V. 522) zu hören. Damit aber entlarvt sich nicht nur der "trockne Schleicher" (V. 521); es ist zugleich ein deutlicher Seitenhieb G.s gegen den epigonalen, aufgesetzten Zug der Genie-Pathetik. Hatte doch Faust seinen rousseauistischen Ruf "Flieh! auf! hinaus ins weite Land!" (V. 418) selbst nur durch Bücher zu realisieren gesucht. Seine Ausbrüche waren literarisch angeleitete Phantasien.

Mit Wagners Auftritt beginnt die erste von drei intermezzoartig eingeschalteten Szenen, die zusammen die Universitätssatire bilden. Es sind Nachspiele - im Sinne von Satyrspielen - und zugleich Überleitungen, die durch den Kontrasteffekt dramaturgischer Entspannung die nächste Anspannung vorbereiten. Das Historiengespräch zwischen dem Assistenten und seinem Professor ist das Nachspiel zur Erdgeistbeschwörung. Es reflektiert die Vergeblichkeit von Fausts Rückgriff auf die hermetischen "Quellen" der Erkenntnis: "Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit / Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln. / Was ihr den Geist der Zeiten heißt, / Das ist im Grund der Herren eigner Geist, / In dem die Zeiten sich bespiegeln" (V. 575-579). Mit dieser Belehrung, die er gerade selbst vom Erdgeist hinnehmen mußte, kann Faust seine erlittene Demütigung an Wagner abreagieren.

Wieder allein, findet er zur Selbstkritik. Er hatte sich "vermessen" (V. 623), als natürlich bedingtes Wesen der unbedingten Naturkraft gleichen zu wollen. Um so tiefer ist die Depression nach der manischen Hybris. Faust entschließt sich zum Selbstmord. Doch dieser Entschluß steht selbst noch im Zeichen des hybriden Wollens. Faust hofft, dadurch "Zu neuen Sphären reiner Tätigkeit" (V. 705) vorzudringen. In demselben Moment holen ihn die Osterklänge in die irdische Existenz zurück. Mit "kindlichem Gefühle" (V. 781) besinnt er sich zurück. In dieser Erinnerung seiner conditio humana liegt nicht nur Verzicht, sondern auch eine Bereicherung, denn die Kindheit ließ ihm "eine Welt entstehn" (V. 778). Die kirchliche Überlieferung spielt dabei nur eine äußere, ironisch gebrochene Rolle. Faust nimmt den Stellvertretertod Christi an, ohne die Bedingungen zu akzeptieren: "Die Botschaft hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube" (V. 765). Daß er dennoch einer symbolischen Auferstehung teilhaftig wird, die ihn vom Selbstopfer suspendiert, führt er nicht auf das christliche Mysterium zurück, sondern auf die Selbstheilung durch das wiedergefundene Gefühl: "Die Thräne quillt, die Erde hat mich wieder!" (V. 784). Fausts Sehnsucht nach Tatengenuß richtet sich fortan auf das irdische Leben.

Nach dem nächtlichen Durchgang durch die "Pforten" individueller Beschränkung geht Faust nun tatsächlich "hinaus ins weite Land", das er zuvor nur im Literarischen suchte. Am Ostertag Vor dem Tor  zeigt sich das Leben in seiner konkreten Wirklichkeit. Revueartig werden Vertreter verschiedener Bevölkerungschichten in typischen Äußerungsformen präsentiert. Zu den Osterspaziergängern gehören auch Faust und Wagner. Doch sie bleiben zur Menge auf Distanz. Faust führt seinen Assistenten auf einen Hügel vor der Stadt. Von dort oben imaginiert er das Wahrgenommene als Panorama des "auferstandenen" Lebens in Natur und Gesellschaft, das freilich - seinem Verhältnis zum Christentum entsprechend - nur äußerlich, kalendarisch mit der "Auferstehung des Herrn" koinzidiert (V. 921 f.). Die Sonne ist es, die alles neu belebt; sie vertreibt den Winter ebenso, wie sie die Städter "aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht" heraustreibt "ans Licht" der Frühlingslandschaft (V. 927 f.). Daß es sich bei deren Aktivitäten nur um ein kompensatorisches Freizeitgebaren handle, dem die Symptome alltäglicher Unterdrückung anzumerken seien, ist die nüchterne Perspektive Wagners (V. 944). Faust hingegen verhält sich wie ein Ästhet, der die reale Biederkeit zu einem idealen Bild verklärt. Die zur Anhöhe heraufdringenden Laute, die sein Begleiter als "Schreien" (V. 945) identifiziert, komponiert er um in einen Hymnus der Humanität.  "Zufrieden jauchzet groß und klein: / Hier bin ich Mensch, hier darf ich's seyn." (V. 939 f.).

Dieses Selbstbild kann er nur solange aufrechterhalten, bis er seine Menschlichkeit im Kontakt zu erweisen hat. Die Begrüßung und Dankbarkeitsbezeugungen des einfachen Volks für seine ärztliche Hilfe nimmt er zwiespältig auf. Denn er weiß um die Projektionen, auf denen sie beruhen, und zieht sich mit einer Bescheidenheitsfloskel aus der Affäre (V. 1009 f.). Der anschließende dreigeteilte Monolog entwickelt aus der Reflexion Fausts über sein Scheitern im praktischen Leben als Arzt (V. 1022-1055), die sich zur allgemeinen Betrachtung über die Inkongruenz von geistiger und physischer Existenz erweitert (V. 1064-1099), das Leitmotiv des Seelenkonflikts, der den Teufel anlockt: "Zwey Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, / Die eine will sich von der andern trennen; / Die eine hält, in derber Liebeslust, / Sich an die Welt, mit klammernden Organen; / Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust, / Zu den Gefilden hoher Ahnen. / O giebt es Geister in der Luft, / Die zwischen Erd' und Himmel herrschend weben, / So steiget nieder aus dem goldnen Duft, / Und führt mich weg, zu neuem buntem Leben!" (V. 1112-1121). Da nähert sich Mephisto in der Gestalt eines Pudels. Das kleine Wesen scheint nicht geeignet, Fausts Lebenshunger zu befriedigen; doch der Vereinsamte ist gerührt über das anhängliche Tier und nimmt es mit nach Hause.

Zurück im Studierzimmer findet Faust seinen Seelenfrieden in nächtlicher Kontemplation: "Entschlafen sind nun wilde Triebe, / Mit jedem ungestümen Thun" (V. 1182 f.). Es ist bemerkenswert, daß G. den Teufelspakt dramaturgisch so einleitet. Just aus der Versenkung in einen Zustand, wo die "bessre Seele" (V. 1181) erwacht, die "Liebe Gottes" (V. 1185) sich regt, treten "die wilden Triebe" und das "ungestüme Tun" um so enthemmter hervor - ironischerweise im Vollzug einer Bibelübersetzung. Der Zeitgenosse Luthers rekapituliert in seinen wiederholten Anläufen, den Logos-Begriff des Johannesevangeliums zu verdeutschen (V. 1224-1237), die zuvor unternommenen Versuche der Selbstentgrenzung zum Absoluten: Das "Wort" (der Schulwissenschaft) wird als geistlos abgetan; der "Sinn" (der Makrokosmosvision) ist geistige Schau, aber ohne existentielle Erfahrung; die "Kraft" (der Erdgeistbeschwörung) wird leibhaftig erfahren, kann aber nicht erfaßt werden; faßlich ist sie allein in der konkreten "Tat". Das ist nun - nach der Vorbereitung des Motivs durch das symbolische Selbstopfer und die Begegnung mit der gesellschaftlichen Praxis, die beide nicht den erhofften Durchbruch zu absoluter Tätigkeit geben konnten - Mephistos Stichwort.

Daß sich als des "Pudels Kern" die Gestalt eines fahrenden Studenten entpuppt, die Mephisto zu Fausts Belustigung angenommen hat (V. 1323 f.), ist stimmig. Denn auch Faust soll auf eine Art Bildungsreise gehen, um die Lebensferne seiner bisherigen Existenzform zu überwinden. Wie schon im Prolog, macht Mephisto dazu wiederum ein Wettangebot. Das Wetten und Verträge-Schließen ist seine Welt; er gehorcht festgelegten Regeln und Gesetzen, denen er knechtisch unterworfen ist (V. 1393-1412). So wundert sich Faust über den durch ein unvollständig gezogenes Pentagramm - also durch fehlende formale Perfektion - ausgeübten Bann auf den Teufel. Was aber kann ein solcher "Pedant" (V. 1716) ihm bieten? Faust weiß, daß "eines Menschen Geist, in seinem hohen Streben" von Mephisto nicht "gefaßt" (1676 f.) werden kann. Sein Forderungskatalog ("Doch hast du Speise die nicht sättigt ..." - V. 1678 ff.) stellt denn auch provokativ die triviale Kausalität der Triebbefriedigung auf den Kopf. Er erinnert dabei bis in die Formulierungen hinein an die durch Giordano Bruno und Schelling an G. vermittelte Seligkeitslehre des Nikolaus von Kues, derzufolge "der Genuß nicht vergeht, weil das Verlangen nicht abnimmt", und die dafür dasselbe Bild verwendet: "… die Natur dieser Speise ist so, daß sie zugleich sättigt und das Verlangen anregt" (S. 509). Daß Mephisto ihm diese Art des Genusses nicht verschaffen kann, darauf wettet Faust: "Kannst du mich schmeichelnd je belügen, / Daß ich mir selbst gefallen mag, / Kannst du mich mit Genuß betrügen; / Das sey für mich der letzte Tag! / Die Wette biet' ich!" (V. 1694-98). Daß der höchste Selbstgenuß unbefriedigt bleiben muß, hat Faust wiederholt erfahren. In der Makrokosmosvision ("Bin ich ein Gott?" - V. 439) und in der Erdgeistbeschwörung ("bin deines gleichen" - V. 500), beim Klang der Osterlieder ("der Himmels-Liebe Kuß" - V. 771) und beim Osterspaziergang ("Hier bin ich Mensch" - V. 940) gefiel er sich selbst - und mußte enttäuscht feststellen, daß alles nur "Lock- und Gaukelwerk" (V. 1588) war.

So, wie die Wette formuliert ist, kann Faust sie nicht verlieren. Denn er weiß, daß jede Selbstgefälligkeit ein Selbstbetrug ist. Aber dies ist eine trostlose Gewißheit. Was also ist dann das Motiv der Wette? Was nutzen Faust Mephistos Dienste, wenn ihm von vornherein klar ist, daß sie seine Sehnsucht nicht erfüllen können?

Die Antwort muß paradox ausfallen: Faust geht die Wette ein, weil er sie just durch das Bemühen, sie zu gewinnen, zu verlieren hofft. Er will totalen Lebensgenuß (V. 1770 f.) und weiß, daß dies nicht die Art von "Genuß" ist, die Mephisto ihm bieten kann. Diese nämlich ist bedingt und insofern falsifizierbar. Faust hingegen sucht einen Genuß, der nicht falsifiziert werden kann, weil er unbedingt ist. Und genau dazu, um Bedingtes vorzufinden, das er transzendieren kann, benötigt er den "Pedanten", der ihn in abstoßender Trivialität "durch das wilde Leben, / Durch flache Unbedeutenheit" schleppt (1860 f.)

Mit der Verabredung der Weltfahrt endet die Gelehrtentragödie. Der zweite Teil der Universitätssatire, die Karikatur des Studienbetriebs durch Mephisto, der in der Verkleidung Fausts einen ratsuchenden Schüler von der Theorie weg- und zum Leben verführt (V. 1868-2050), ist wiederum ein Nachspiel. Es nimmt den Ernst der Gelehrtentragödie zurück, indem es deren Skeptizismus als akademische Spiegelfechterei parodiert, und leitet damit über zum "neuen Lebenslauf" (V. 2072) Fausts. Mit dem dritten Teil der Universitätssatire schließlich, dem studentischen Saufgelage in Auerbachs Keller, wird die dumpfe und verkümmerte Sinnlichkeit des Akademikerlebens bloßgestellt.

 

 

Die Gretchentragödie

 

 

Nur ein Zaubertrank kann da helfen: In der Hexenküche wandelt sich Faust zu einem erotisierten Jüngling, der "Helenen in jedem Weibe" (V. 2604) sieht. Mit diesem Kunstgriff der Umwandlung eines alternden Professors in einen jugendlichen Liebhaber vollzieht G. den Übergang von der Gelehrtentragödie zur Gretchentagödie.

Die Liebesgeschichte ist dramaturgisch von vornherein als bloße Station der "kleinen Weltfahrt" konzipiert, die in die "große Welt" des Faust II übergehen muß (V. 2052). Schließlich hat Faust darauf gewettet, daß er sich nicht durch Genuß betrügen lassen werde - und er wird in tragischer Weise recht behalten: Das Leitmotiv der Gretchentragödie ist die Dialektik von Genuß und Begierde, deren Spannung das erotische Erleben ausmacht und dieses zugleich in eine zerstörerische Unruhe versetzt.

Die Szenenreihe Straße  bis Ein Gartenhäuschen bildet in markanten Stationen einer konsequent geplanten Verführung den ersten Teil der Gretchentragödie, ihren Aufstieg zur Peripetie des Verliebtheitsglücks. Sie beginnt mit Fausts "galantem", d.h. herablassend-selbstgefälligem Ansprechen eines sozial unterlegenen und kaum geschlechtsreifen, unberührten Mädchens (V. 2627-2632). Just die scheue und sittsame Art ihrer Zurückweisung (V. 2605-2609) ist es, die den vom Hexenküchen-Aphrodisiakum Berauschten zur Verführung reizt (V. 2617 f.), wobei ihm der Gesetzesschutz ihrer eventuellen Minderjährigkeit gleichgütig ist (V. 2634). Mephisto erhält seinen ersten Auftrag: "Hör, du mußt mir die Dirne schaffen!" (V. 2618). Der Einbruch in Gretchens private Sphäre und die Eroberung ihrer Intimität vollzieht sich nach einem geradezu hinterhältig kalkulierten Plan: Heimlich wird ein gestohlenes Kästchen mit Goldschmuck in Margaretes Stube plaziert. Dessen üppiger Inhalt soll die in äußerst bescheidenen Verhältnissen Lebende überrumpeln. Das Lied vom König in Thule, das sie beim Ausziehen singt, benennt den Motivzusammenhang, der diese Überrumpelung möglich macht. Denn der goldene Becher, den der besungene König von seiner Liebsten bekommt, ist in doppeltem Sinne Zeichen des Reichtums. Er ist kostbar auch als Symbol der Treue, der Tugend also, an der Faust es fehlen lassen wird, die er aber vortäuschen muß, um Margaretes Intimität zu erobern. Die Akzeptanz des profanen - wenn auch ironischerweise aus einer Kirche entwendeten - Goldschmucks ist also durch die ambivalente Verquickung von seelischer und leibhafter Sehnsucht gestiftet: "Nach Golde drängt, / Am Golde hängt / Doch alles. Ach wir Armen!" (V. 2802 ff.) In einem der Entwürfe, dem Paralipomenon 50, war die hier nur mehr angedeutete Parallele von "Gold" und "Schoos" noch deutlicher ausgesprochen.

Erst mit einem zweiten Goldgeschenk wird Margarete korrumpiert. Das erste zeigte sie der Mutter, die es zum Pfarrer trug; nun behält sie es und macht sich zur Geheimnisträgerin. Fausts nächster Schritt ist das Arrangement eines Rendezvous, das wiederum durch ein Täuschungsmanöver eingefädelt wird: Er befiehlt Mephisto: "Häng' dich an ihre Nachbarinn" (V. 2858). Denn diese, Marthe Schwerdtlein, ist Margaretes Vertraute, und über sie hofft er unauffällig an das Objekt seiner Begierde heranzukommen. Ein Vorwand ist rasch gefunden: Marthe wurde von ihrem Mann verlassen und benötigt in ihrem kleinbürgerlichen Milieu für das Eingehen einer neuen Partnerschaft eine offiziell anerkannte Legitimation - und das kann in ihrem Fall nur heißen: einen Totenschein. Mephisto fingiert daher die frohe Botschaft vom Tode des Mannes und kann gleich auch einen zweiten Zeugen benennen, der für die rechtskräftige Bescheinigung erforderlich ist. Beiläufig fordert er die anwesende Margarete auf, an dem Treffen doch auch teilzunehmen.

Faust sträubt sich zunächst, als er hört, auf welche Art Mephisto seinen Plan auf den Weg gebracht hat. Er will kein falsches Zeugnis ablegen. Doch im moralischen Disput mit dem Teufel unterliegt er dessen Argumentation, die geplante Lüge sei harmlos im Vergleich mit einer anderen, sehr viel schwerwiegenderen, die sie ja nur ermöglichen soll: dem künftigen Liebesschwur. Das genügt vorläufig, um Faust von weiteren Gewissenserforschungen abzubringen.

Das Rendezvous im Garten, eine theatralisch effektvolle Kontrastszene aus den Paarungen Faust-Margarete und Mephisto-Marthe, bei der die Gespächssequenzen der letzteren jeweils die der ersten profanisierend spiegeln, führt rasch zum angestrebten Ziel. Faust hält sich an die konventionellen Regeln der Verführungskunst: Ein wenig galante Herablassung, Erkundigung nach dem häuslichen Alltag, in dessen Schilderung hier und da Komplimente eingestreut werden, dann ein bekenntnishafter Rückblick auf den Moment der Kontaktaufnahme unter Betonung der Reinheit der Absichten - und schon ist es um Margarete geschehen. In der ungewissen Schwebe zwischen Hoffnung und Angst greift sie zum Blumenorakel und findet darin ihr Auserwähltsein bestätigt. Durch eine Zufallsentscheidung also - das ist bemerkenswert - wird der Liebesschwur eingeleitet, den Faust nun vorbringt.

Margarete liebt Heinrich. Heinrich aber liebt den Zustand, in den sie ihn versetzt hat. Und während sie ohne ihn keine Lebensfreude mehr empfinden kann (V. 3375 ff.), erfreut er sich nun an einer selbstgewählten Einsamkeit. Er zieht sich zurück in die Natur und empfindet eine zuvor nicht gekannte "Kraft, sie zu fühlen, zu genießen" (V. 3222). Fausts Monolog in Wald und Höhle  schildert seinen Selbstgenuß im Fremdgenuß. Er lernt seine "Brüder / Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen" (V. 3227 f.), und seiner "eignen Brust / Geheime tiefe Wunder öffnen sich" (V. 3234 f.). Dank seiner zärtlichen Gestimmtheit erfährt er den Erdgeist, die Naturkraft, nun ganz anders als zuvor. Die vormalige Rivalität mit der schrecklichen "Flammenbildung" ist der Rezeptivität gegenüber einem freundlichen Gabenspender gewichen. Daß das eine indessen mit dem anderen zusammenhängt, ist Faust durchaus bewußt: "Du hast mir nicht umsonst / Dein Angesicht im Feuer zugewendet" (V. 3219 f.), sagt er im Rückblick auf die gescheiterte Erstbegegnung mit dem Geist. Das Feuerelement, das er als Verliebter in sich spürt, vermag nun mit dessen äußeren Manifestationen durch eine sympathetische Ähnlichkeitsbeziehung zu kommunizieren.

Und genau hier ist die Peripetie des ersten Faustteils, der Umschlag von einer "Wonne", die ihn "den Göttern nah' und näher bringt" (V. 3242 f.), in die verzweifelt bewußte Zerstörung Margaretes (V. 3345). Es ist bemerkenswert, daß G. diesen Umschlag nicht aus äußeren Umständen der Handlung heraus entwickelt, sondern just aus der Innerlichkeit eines Glücksgefühls, das - zunächst - tiefen Frieden zu geben, "strenge Lust" zu "lindern" vermag (V. 3240): Gerade in der kontemplativen Versenkung, im dankbaren Eingehen auf den Genuß der Sympathie offenbart sich, daß dieser Zustand abhängig ist vom "Gefährten", der "zu Nichts, / Mit einem Worthauch" die empfangenen "Gaben wandelt" (V. 3246). Mephisto erscheint hier als ein personifizierter Seelenaspekt Fausts: "Er facht in meiner Brust ein wildes Feuer / Nach jenem schönen Bild geschäftig an" (V. 3248 f.). Diese Worte beschreiben keine äußere Störung, sondern eine innere Konsequenz. Denn Mephisto, der sich "die Flamme vorbehalten" (V. 1377) hat, ist notwendiger Teil im Ensemble der sympathisierenden Feuerkräfte. Es ist dasselbe Feuer, das Faust in der Erdgeistbeschwörung schreckte, das ihn dann in der Hexenküche libidinös entflammte, mit dem er in der Liebeswerbung spielte und dem er schließlich höchsten Selbstgenuß abgewann. Daß das Feuer sich auch wieder unversöhnt zeigt, sobald der kontemplative Augenblick im Gewahrwerden seiner Veranlassung verflogen ist, liegt also in der Natur der Sache. Die Schlußverse des Faustschen Monologs resümieren diese natürliche coincidentia oppositorum: "So tauml' ich von Begierde zu Genuß, / Und im Genuß verschmacht' ich nach Begierde" (V. 3250 f.). Die Unbedingtheit, die Faust soeben noch genoß, läßt ihn sich nun über das Bedenken der Folgen hinwegsetzen, die eine Liebesnacht mit Margarete hätte - Folgen, über die er sich von vornherein im klaren ist: "Mag ihr Geschick auf mich zusammenstürzen / Und sie mit mir zu Grunde gehn!" (V. 3365 f.)

Das Nahen der Katastrophe wird psychologisch transparent in Gretchens Lied am Spinnrad, das die Unruhe ihres Verliebtseins zum Ausdruck bringt, ihr Hin- und Hergerissensein zwischen zwei gleichermaßen als tödlich empfundenen Polen: dem "Grab" (V. 3380) der Ferne des Geliebten und dem "Vergehen" (V. 3414) in der Symbiose mit ihm. In dem anschließenden Religionsgespräch will Margarete das unsichere Verhältnis befestigen. In ihrer Schüchternheit sucht sie Fausts Eheversprechen – nach einem ersten forschen Ansatz – doch lieber indirekt, über die allgemeine Zustimmung zur christlichen Lehre, dem Stütz- und Zwangskorsett ihrer "kleinen Welt" (V. 3356), zu erlangen: "Versprich mir, Heinrich! ... Nun sag', wie hast du's mit der Religion?" (V. 3415 f.) Doch der Katechisierte weicht der Gretchenfrage in taktisch motiviertem Freisinn aus. Seine schwadronierende Antwort ersetzt das christliche Glaubensbekenntnis durch ein pantheistisch gefärbtes Ersatzbekenntnis (V. 3432 ff.), das seinen hohen sprachlichen Rang der wahrhaft anspruchsvollen rhetorischen Aufgabe verdankt, sich dem Bindungswunsch zu entziehen und doch eine Liebesnacht zu erschmeicheln. Dieses Ziel fest im Blick - und das Narkotikum für die Mutter bereits in der Tasche -, mogelt sich Faust an dem für Margarete existentiellen Versprechen vorbei, was der mithörende Mephisto hämisch registriert (V. 3523 ff.).

Die fahrlässige Tötung der Mutter durch den Schlaftrunk, der die Liebesnacht sichern sollte, wird nicht dargestellt und erst nachträglich erwähnt (V. 3788). G. spart die Information über dieses Ereignis für eine spätere Stufe in einer sich zunehmend verdüsternden Szenenreihe auf und läßt Gretchens Kummer zunächst aus ihrer Schwangerschaft und der damit verbundenen Kollision gelebter Intimität mit der öffentlichen Moral hervorgehen.

Ihre Verankerung im Christentum macht Margarete im Unterschied zu Faust zur eigentlich tragischen Figur. Während seine Selbstverliebtheit sich tragische Größe nur anmaßt und der "Hölle" allzu willig das "Opfer" bringt, das ihn nicht weiter gefährdet (V. 3362), bildet die aufopfernd Liebende den tatsächlichen Gegenpol zu Mephisto, dem komischen Zyniker, der "stets das Böse will und stets das Gute schafft" (V. 1336). Bei ihr verhält es sich umgekehrt: "Doch - alles, was dazu mich trieb, / Gott! war so gut! ach war so lieb!" (V. 3585 f.). In den Szenen Am Brunnen , Zwinger, Nacht  und Dom wird Margarete - nun in den Sprecherangaben zu "Gretchen" diminuiert - zunehmend vom Druck der öffentlichen Moral erstickt. Die beiden Tendenzen, die sich diesem Druck entgegenstellen - der äußere Beistand gegen die Demütigungen des Bruders sowie die innere Zuflucht im Gebet -, treiben sie nur noch tiefer in die tragische Verstrickung; Faust tötet Valentin mit seinem Galanteriedegen, und in der Totenmesse für die verstorbenen Familienangehörigen erfährt Gretchen keinen Trost, sondern erbarmungslose Racheandrohung: Zum Dies irae rechnet ihr der "böse Geist" ihre Sünden vor, bis er sie schließlich in den Kollaps getrieben hat. Die Hochschwangere fällt in Ohnmacht.

Im härtesten Kontrast zur Situation Gretchens, die in ihrer Scham versinkt, vollzieht sich nun der Szenenwechsel zur grellen Schamlosigkeit der Walpurgisnacht. Eine Art Nummernrevue von vierzehn Bildern variiert das Motiv ungehemmter Triebhaftigkeit und hält damit der Sinnesfeindschaft der Kirche die nackten Tatsachen der Sexualität von Mensch und Natur entgegen. Ihre Perversität offenbart sich als die Kehrseite der nicht weniger pervertierten Triebunterdrückung durch die öffentliche Moral. Doch Faust, der sich von der einen Sphäre losgesagt hatte, fühlt sich von der anderen bald ebenso angeödet. Der Verführungsaufwand, den die enge Welt Gretchens erforderlich machte, ist hier zwar entbehrlich; er kann unmittelbar seiner sexuellen Lust nachgehen, doch diese Libertinage erweist sich nicht als befreiend, sondern als bedrückend. Als Faust mit der jungen Hexe tanzt und Mephisto mit der alten - eine Kontrastspiegelung, die ihrerseits die Choreographie der Garten-Szene spiegelt – stört zunächst ein "Proktophantasmist" das Vergnügen. (Es handelt sich dabei um eine Karikatur des Aufklärers Friedrich Nicolai, der gegen die Phantasmen der Geisterseherei polemisierte, sich eines Tages aber selbst als Opfer eines Geisterspuks sah, von dem er sich nur durch die Ansetzung von Blutegeln am Hinterteil - griechisch: proktós - befreien zu können glaubte.) Unter dem Eindruck dieser, minder attraktiven, Obsessionsvariante vergeht Faust die Lust auf seine Tanzpartnerin, der "ein rothes Mäuschen ... aus dem Munde" sprang (V. 4179). Und in einer visionären Schau erkennt er, mit der unbeteiligten Faszination rauschartiger Erlebnisse, Margaretes Schicksal, ihre bevorstehende Hinrichtung. Diese Vision tritt nicht von außen an ihn heran, sondern ist das unter der Wirkung der Ereignisse in ihm selbst hervorgerufene Gegenbild zu den Exzessen der Walpurgisnacht. So hat ihn schon zuvor eine Trödelhexe mit ihren Waren an den fatalen Zusammenhang seiner Verführungswerkzeuge erinnert: Schmuck, Gift und Schwert (V. 4106 ff.) sind die Indizien der tragischen Entwicklung vom ersten Goldgeschenk über den Schlaftrunk bis zur Tötung des Bruders. Die Perlenschnur, die Faust mit dem Raub des dritten Kirchenschatzes Margarete verschaffen wollte (V. 3650-3675), legt er ihrer visionierten Gestalt nun um – verwandelt zum Todeszeichen: "Wie sonderbar muß diesen schönen Hals / Ein einzig rothes Schnürchen schmücken, / Nicht breiter als ein Messerrücken!" (V. 4203 ff.). Um ihn abzulenken, führt ihn Mephisto zu einem Dilettantentheater. Das "Walpurgisnachtstraum oder Oberons und Titanias goldene Hochzeit" betitelte Intermezzo hat keine Handlung, sondern konstituiert sich aus den zeitkritisch persiflierten Reflexionen eines allegorischen Personals. Das 'Faust'-Drama wird dabei durch das Reflexionsstück kommentiert: In ihm entfaltet sich ein Panorama literarisch-sozialer Dekadenz, das in verschiedenen Erscheinungsformen normativer Entwurzelung die Atmosphäre der Halt- und Hoffnungslosigkeit heraufbeschwört, die das weitere Dramengeschehen bestimmt.

Der Absturz von der grellen Rausch- und Traumwelt der Walpurgisnacht in die Ernüchterungstristesse der Szene Trüber Tag. Feld ist extrem ausgestaltet durch einen unvermittelten Übergang von den albernsten Versen zur ernsten und einzigen Prosapartie des Dramas. In tiefster Verzweiflung empört sich Faust darüber, daß Mephisto ihn in "abgeschmackten Zerstreuungen" wiege (S. 591, 11 f.), während er Margarete ihrem Schicksal überlasse. Mephistos trockene Replik "Sie ist die erste nicht" (S. 591, 13) ist ein wörtliches Zitat aus den Akten des Frankfurter Prizesses gegen die Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt. Der Gescholtene weist den Versuch der Verantwortungsdelegation zurück: "Wer war's, der sie ins Verderben stürzte? Ich oder du?" (S. 595, 43 f.). Erst der Hinweis auf seine eigene Verantwortlichkeit läßt den Klagenden aktiv werden.

Doch auch sein Rettungsversuch in der Kerker-Szene signalisiert nicht Bereitschaft zur Schuldannahme, sondern lediglich den Wunsch nach Entschuldung. In ihrem "Wahn" (V. 4408), der keineswegs nur umgangssprachlich zu verstehen ist (s.u.), vermag er sie nicht mehr zu erreichen. Margarete - so nennen sie nun auch wieder die Sprecherangaben - spürt mit einer psychotisch übergenauen Wahrnehmung, daß seine fortgesetzten Liebesschwüre nur die Abwehr seines schlechten Gewissens über die eigene Gefühllosigkeit sind: "O weh! deine Lippen sind kalt, / Sind stumm. / Wo ist dein Lieben / Geblieben? / Wer brachte mich drum?" (V. 4493 ff.). Sie überläßt sich dem Henker und damit dem "Gericht Gottes" (V. 4605), das ihre Seele rettet, während Faust sich zum Teufel schert und so die physischen Voraussetzungen seines "hohen Strebens" sichert.

 

Prosodisches

 

 

Da die vielfältigen lebensgeschichtlichen Einflüsse bei der Entstehung des Dramas sich immer wieder in neuen Werkschichten niederschlugen, kam ein einzigartiger Formenreichtum zustande. (Eine systematische Auflistung der verwendeten Versmaße nach Formgruppen gibt Ciupke.)

Die vorherrschende metrische Form des Dramas ist der Madrigalvers, ein in der Regel vier- oder fünftaktiges Versmaß mit freier Füllung und freier Reimbehandlung, das auf italienische Ursprünge zurückgeht und vor allem in der deutschen Barockdichtung zur Anwendung kam. G. verwendet ihn stets jambisch mit bis zu sechs Hebungen und nimmt ihn seiner Flexibilität und Pointierungsfähigkeit wegen insbesondere für die Dialoge. - Dem Madrigalvers verwandt, aber strenger und stärker akzentuiert, ist der durch den Meistersinger Hans Sachs populär gewordene Knittelvers (vierhebig mit unregelmäßigem Takt), der vor allem dort eingesetzt wird, wo Unbeholfenheit oder eine derbe Volkstümlichkeit zum Ausdruck kommen sollen, wie zum Beispiel in der Schülerszene oder in den Reden der Handwerksburschen und Dienstmädchen Vor dem Tor. Zu den bemerkenswerten Leistungen G.s gehört es aber, daß er diesem ursprünglichen Charakter des Versmaßes einen pathetischen Einschlag zu geben versteht: so in Fausts Eingangsmonolog der Szene Nacht, der freilich gerade dadurch stets in der ambivalenten Schwebe zwischen tiefem Ernst und bemühter Deklamation bleibt. Der Auftritt Wagners bringt diese Ambivalenz zur Sprache. Eine gesteigerte Expressivität vermitteln freimetrische Verse, wie sie sich in der Erdgeistbeschwörung durchsetzen, und die völlige Preisgabe gebundener Rede in der rhythmisierten Prosa der Szene Trüber Tag. Feld . Ruhig-strömend hingegen ist der fünffüßige, ungereimte Blankvers, der Vers des klassischen deutschen Dramas, der Fausts Monolog in Wald und Höhle trägt. - Eine Fülle musikalischer Elemente reichert diese metrische Vielfalt zusätzlich an. Zu erwähnen sind insbesondere die verschiedenen Lied- und Strophenformen; ihr Ausdrucksspektrum reicht vom spielerisch-opernhaften Gesang der Bauern am Ostertag bis zum verzweifelten Ernst des Gretchengebets im Zwinger.

Die Vielfalt der verschiedenen Versformen, die sich stets dem Ausdrucksbedarf anpaßt und eine je eigene Stimmung erzeugt (vgl. Winkler), setzt sich in einer nicht weniger reichhaltigen Verwendung darstellender und gestischer Stilmittel fort. Symbolische Formen mischen sich mit allegorischen, mimetische mit konstruktiven. Architektonische Konsistenz gewinnt diese Vielfalt durch das erwähnte Kompositionsprinzip von Polarität und Steigerung sowie eine Leitmotivik, die die Grundbefindlichkeiten von Fausts Charakter variantenreich durchspielt (vgl. Requadt). Die dramaturgische Funktion dieser Formelemente ist in der Faustdeutung lange Zeit vernachlässigt worden.

 

 

Inhaltsorientierte Faustdeutung. Sinnhuber und Stoffhuber

 

 

Die Geschichte der Faustinterpretation ist traditionell von einer Konkurrenz zwischen Philologen und Philosophen geprägt, deren Richtungsstreit Friedrich Theodor Vischer mit den populär gewordenen Schlagworten "Stoffhuber" und "Sinnhuber" charakterisierte. Auch wenn Vischer Anlaß hatte, beide Gruppierungen als Angehörige einer "Gesellschaft der an G.s Faust sich zu tot erklärt ha­bender Erklä­rer" (S. 135) zu parodieren, waren sie doch zugleich enorm fruchtbar. Die Auseinandersetzungen zwischen dem positivistischen und hermeneutischen Flügel der Faustdeutung, die in den Debatten der Scherer- und Diltheyschule ihren ersten Höhepunkt fanden, bewiesen eindringlich, daß das Werk wie kein anderes Anlaß gibt, grundsätzliche Methodenfragen der Kunstinterpretion zu erörtern.

Gerade dadurch aber verführt es auch zu interpretatorischen Ausschweifungen, sei es nun als Sinn- oder Stoffhuberei. Während die spekulative Faustdeutung im Banne Schellings und Hegels dazu tendierte, die philologischen Details zu vernachlässigen, hat die positivistische Faustphilologie, die mit der Eröffnung des G.- und Schiller-Archivs in Weimar geradezu explodierte, die Sinnzusammenhänge zunehmend aus den Augen verloren. Daß auch heute noch längst nicht alle Fragen der Faustphilologie geklärt sind, scheint in der Tat nicht so sehr auf einem Mangel als vielmehr auf einem Übermaß an Quellenforschung zu beruhen. Denn leicht führt das philologische Material vom Werkzusammenhang weg, den es doch eigentlich erhellen soll. So belegt etwa der neue "Urfaust"-Kommentar die Affinität der magischen Werke Agrippas zur Gestaltung der Erdgeistszene derart massiv, daß er in Abweichungsfällen offenbar nicht mehr umhin kann, die Quelle gegen das Werk auszuspielen, um unter Berufung auf jene festzustellen: "Faust verhält sich jedoch wieder falsch" (Gaier, S. 318).

Auch das wohl ergiebigste Feld der neueren Faustphilologie, die Forschung zur Genese der Walpurgisnacht, ist von der Gefahr der Verselbständigung gegenüber der Faktizität des Werks nicht ganz frei. So hat die zugestandenermaßen "eigenmächtige" Rekonstruktion der ursprünglichen Gestalt der Szene durch Albrecht Schöne, die in den Quellenband der Frankfurter Ausgabe aufgenommen wurde, ein neues Licht auf die moderatere Endfassung geworfen, das sie nun als - durch politisch-moralische Rücksichten bedingtes - Produkt einer Selbstzensur erscheinen läßt. Der damit gewonnene Einblick in die früheren Intentionen G.s ist zweifellos von großem philologischem Wert. Dessen interpretationsdienliche Potenz allerdings wird durch den Faust-Kommentator nicht ausgeschöpft: Er ist zu sehr mit dem Nachweis seiner These beschäftigt, daß die Frühfassung die authentische und dramaturgisch stimmigere sei (Schöne, S. 120 ff.), als daß er der vorrangigen Frage nachgehen mag, was denn aus den nachträglichen Eingriffen für die Deutung der endgültigen Dramengestalt folgt. Externe Produktionsbedingnisse, insbesondere die der Zensur, haben zahllose Kunstwerke mitgeprägt; die wenigsten jedoch haben dadurch an ästhetischem Reiz verloren, am allerwenigsten der Faust.

Schon immer setzte sich die zur Dechiffrierung instrumentalisierte Faustphilologie dem Vorwurf aus, ästhetische Brüche hinwegzudiskutieren, anstatt sie als solche zu interpretieren. Ihren "Verbesserungen" und "Verdeutlichungen" wäre entgegenzuhalten, was G. schon in der Auseinanderetzung mit Schiller über den Wilhelm Meister-Romanbemerkte: "Gerade seine Unvollkommenheit hat mir am meisten Mühe gemacht" (30.10.1797). Daß G. sich auch beim Faust I mit der Erzeugung des Eindrucks der Unvollkommenheit Mühe gemacht hat, beweist das komplizierte Geflecht aus heterogenen Motiven, Perspektiven und Sprachformen. Die Faustphilologie hat es zwar im einzelnen ausführlich kommentiert, ließ dabei aber bisweilen das "geistige Band" vermissen.

Dieses freilich konnten die Philosophen liefern - wenn auch unter Vernachlässigung der philologischen Analyse. So hat es immer wieder Versuche gegeben, G.s Faust am Leitfaden einer Entwicklungsidee - der Hegelschen Phänomenologie des Geistes etwa (Lukács) oder der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie (Metscher) - zu interpretieren. Die Einsprüche gegen dieses teleologische Muster der Faustdeutung (Böhm, Binder, Mattenklott, Keller u. a.) haben wiederum neue Problemfelder der philosophischen Ästhetik überhaupt erschlossen.

Erst in neuerer Zeit, mit der Überwindung der schlechten Alternative von Philologie oder Philosophie, gewann die Frage nach den Zusammenhängen von Gestalt und Gehalt an Boden. Daß eine triviale Selbstverständlichkeit der Dichtungsinterpretation sich im Feld der Faustdeutung erst durchsetzen mußte, klingt überraschend, ist aber von der Sache her begründet. Denn die verwickelte Entstehungsgeschichte des Dramas hat Strukturen hervorgebracht, die sich nicht ohne weiteres in Korrespondenzen zwischen Sinn und Form übersetzen lassen. Die Suche nach einer einheitsstiftenden Idee wird immer wieder unterlaufen von der Gebrochenheit der poetischen Ausdrucksmittel. Dieses Problem hat die Faustforschung wiederum in Fraktionen gespalten, für deren Vertreter sich die Bezeichnungen "Unitarier" und "Fragmentisten" eingebürgert haben.

 

 

Formorientierte Faustdeutung. Unitarier und Fragmentisten

 

 

Die Fragmentisten erklären die Unauflösbarkeit der Widersprüche in G.s Faustmit entstehungsgeschichtlich bedingten Konzeptionsmängeln des Werks. Dabei können sie sich auf die Tatsache stützen, daß G. selbst der - auch später nicht revidierten - Ansicht war, der erste Teil der Tragödie werde "immer ein Fragment bleiben" (an Schiller, 27. 6. 1797). Dagegen steht die auf Heinrich Rickert zurückgehende Auffassung der Unitarier, daß bereits in den Frühstufen des Dramas "deutlich ein organisierendes Kunstprinzip" erkennbar sei (Requadt, S. 14 f.). Die angestrengte Suche nach solchen architektonischen Prinzipien hat zum Verständnis der Form Wesentliches beigetragen. So gehört es mittlerweile zum festen Bestand der Faustphilologie, daß hier die Mittel der Leitmotivik und der Steigerung aus Polaritäten zum Einsatz kommen, die wiederum eingelassen sind in eine epische Struktur der Polyperspektivität. Macht man sich das klar, lösen sich manche Deutungsprobleme auf, die sonst als unlösbare Widersprüche erscheinen müssen. Zum Beispiel hat es die Interpreten irritiert, daß Mephisto zu Beginn des Stücks vom Herrn zu Faust geschickt wird (V. 342), später aber als Sendling des Erdgeistes angesprochen wird (V. 3242). Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß es sich hier um unterschiedliche Darstellungsebenen handelt, die unterschiedliche Wahrnehmungswelten repräsentieren, erweist sich beides als durchaus vereinbar (Pütz, S. 177 f.).

Die sogenannte "Fetzentheorie", wie sie Gustav Roethe vertreten hatte, gilt denn auch mittlerweile als widerlegt. Die These vom Fragmentcharakter indessen wird weiterhin diskutiert. So polemisiert etwa Albrecht Schöne gegen die krampfhaften Bemühungen der Unitarier, den Walpurgisnachtstraum als notwendigen und unentbehrlichen Bestandteil der Komposition zu begreifen, während es doch unleugbar sei, daß dieses Intermezzo sich nur dem Zufall verdanke, daß die mit den Spottgedichten ursprünglich intendierte Fortsetzung des Xenien-Streits keinen anderen Publikationsort gefunden habe. Entgegen G.s Ansicht, daß sie im Faust "am besten ihren Platz finden" (an Schiller, 20.12.1797), urteilt Schöne, die "läppischen" Verse gehörten "offensichtlich nicht zum eigentlich Notwendigen ... und Gelungenen" (S. 362). So kann die Überlegung gar nicht erst aufkommen, daß gerade diese - in expliziter Selbstreferenz eingeführten (V. 4303-4306) - Dokumente einer Auseinandersetzung mit der Massenkunst eine dramaturgisch wichtige Funktion erfüllen: Faust in "abgeschmackten Zerstreuungen" (S. 137) zu wiegen und so die Fallhöhe zum Ernst der nachfolgenden Prosaszene vorzubereiten.

Wie die Souveränität der Deutung mit der des Werkes in Konflikt geraten kann, zeigt sich seit je an den Kommentaren zur Szene Wald und Höhle. Bis heute vertreten viele Interpreten die Ansicht, daß sich der erste Monologteildramaturgisch stimmig in die Faust-Dichtung einfüge. "Einem erratischen Block gleich, ragt der so bedeutsame wie irritierende Monologteil, der eher dem Weltverständnis des italienischen G. als dem ungezügelten Charakter des Teufelsbündners zu Gesicht steht, in die Gretchen-Handlung hinein" (Keller 1980/92, S. 312). Wer vermutet, es handle sich hier um poetische Willkür, die Faust gar "aus der Rolle fallen" lasse (Strich, S. 80; vgl. Wertheim, S. 120 f.), kann sich zudem auf die Tatsache berufen, daß die Szene bei ihrem ersten Erscheinen im Faust-Fragment wenig sinnvoll plaziert war.

Die relative Berechtigung solcher Hinweise auf Widersprüche im dramatischen Ablauf besteht darin, daß sie die ästhetische Gebrochenheit des Werks in Erinnerung rufen. Dabei wird allerdings nur selten - wie etwa bei Werner Keller (1978) - auf die poetische Funktion dieser Gebrochenheit reflektiert. Während die Unitarier dazu neigen, Dissonanzen hinwegzudiskutieren, begnügen sich die Fragmentisten allzuleicht damit, sie auf äußere Faktoren zurückzuführen, anstatt ihrer Bedeutung im Werkzusammenhang nachzugehen.

Zweifellos hat sich der Entstehungsprozeß der Form mitgeteilt, doch die Form, einmal gewonnen, hat ihre Geltung nicht aus der Genese, sondern aus der ihr immanenten poetischen Gesetzmäßigkeit. Die Offenheit der Konzeption muß deshalb als Element des dichterischen Gehalts begriffen werden. Mit seiner "klassischen Faustkonzeption", dem ersten Paralipomenon (WA I 14, 287), hat G. ganz bewußt die Maxime verfolgt, die "Wider­sprü­che statt sie zu vereinigen disparater zu machen". Damit entzog er sich Schillers Forderung, einer einheitlichen Vernunftidee zu gehorchen. Das Problematische des Werks teilt sich der Problematik seiner Komposition mit, und eben das macht es faszinierend anstößig für den fixierenden Gedanken. Daß die Komposition des Dramas von Kontrasteffekten lebt, wird insbesondere an den Figurenkonstellationen deutlich.

 

 

Erster Figurenkontrast. Faust und Mephistopheles

 

 

Das Verhältnis von Faust und Mephisto ist nicht eindeutig nach Positionen oder Funktionen auseinanderzudividieren. Als Kontrahenten sind sie doch zugleich Kooperationspartner. Und bei aller Nichtidentität der Motive läßt sich doch bisweilen eine geradezu intime Verwandtschaft der Handlungsinteressen ausmachen; ja selbst dort, wo sie in Konflikt geraten, erscheint Mephisto weniger als autarker Gegenspieler denn als Seelenaspekt Fausts, als sein anderes Ich. Je nachdem, wie diese Tatsache gewichtet wird, neigen die Kommentatoren entweder zu der Auffassung, daß es sich bei der Figurenkonstellation um ein Duell zwischen autarken Gegnern oder um eine innere Dynamik Fausts handelt.

Folgt man der Kosmologie, die der Prolog im Himmel  entwirft, soerscheint der Teufel als Faktor des göttlichen Heilsplans (V. 340 ff.). Er wäre demnach kein selbständiger Antagonist des Guten, sondern dessen notwendiger Teil. Schon in seiner Kindheit - das geht aus dem erwähnten Schöpfungsmythos hervor, der in Dichtung und Wahrheit referiert wird - sah G. das Böse nicht als autonome Macht, sondern nur als abhängiges Prinzip. Und auch im Alter verwahrte er sich gegen eine Deutung, die Mephisto zum dämonischen Helden stilisiert: Sein Teufel sei, erklärt G. am 2.3.1831 gegenüber Eckermann, "ein viel zu negatives Wesen"; ihm fehle für das Dämonische das Moment "einer durchaus positiven Tatkraft". Die Figur ist denn auch im Drama weniger durch eine Position als vielmehr durch eine Funktion bestimmt, und zwar derjenigen des Versuchers im biblischen Buch Hiob, von dem G. sich nachweislich anregen ließ (Minor, S. 283 ff., Tokuzawa). Wie der Satan der alttestamentlichen Erzählung, so erhält auch Mephisto nur einen bedingten Aktionsradius innerhalb der göttlichen Ordnung, die er durch seine planvoll zugelassene Destruktivität letztlich bestätigen hilft.

Trotz dieser antithetischen Bestimmung aber widerlegt das Stück auf eindringliche Weise Hegels Ansicht, der Teufel sei als Verkörperung reiner Negativität eine "ästhetisch unbrauchbare Figur" (Bd. I, S. 219). Mephisto ist eben "nicht", wie Georg Lukács feststellt, "die bloße Verkörperung des bösen Prinzips" (S. 252). Das Drama lebt mindestens ebensosehr von seiner Bühnenpräsenz wie von derjenigen Fausts, was immer wieder die Frage provoziert hat, wer der stärkere von beiden sei, wer also die Wette gewinnt. Diese Fragestellung ist insbesondere für die weltanschaulich geprägte Faustrezeption von Bedeutung gewesen. Je nach politischer Situation wurde die Wette als Wettkampf der gerade aktuellen Ideologien ausgelegt. Fausts "Wille ist weltbe­zwin­gend", da er den mächtigen Versucher Mephisto "erfahren, durchgekämpft, überwunden hat", meinte Kuno Fischer (Bd. 2, S. 196 u. S. 145) vor dem Ersten Weltkrieg. Zu Beginn des Zweiten spricht Lukács von einem "Duell", in dem sich die "Zukunftsaussichten des Menschengeschlechts" (259) entscheiden. Auch er deutet das Drama von seinem positiv verstandenen Ende her und sieht darin "objektiv eine Perspektive, eine reale Grundlage für den Glauben, daß die Menschheit - trotz Mephistopheles, trotz Kapitalismus - nicht zum Untergang ins Teuflische, zum 'Staubfressen' verurteilt ist" (S. 279).

Dieser optimistische Ausgang war für die Faustforschung der ehemaligen DDR lange Zeit weltanschauliche Vorgabe. Er leitet sich nach der Logik des dialektischen Materialismus aus der Tatsache ab, daß ein Geist, der "zu nichts anderem fähig ist als zu bloßer Negation", dem Guten zum Sieg verhilft, denn er fordere "unwiderstehlich die dialektische Notwendigkeit einer Negation der Negation heraus" (Dietze, S. 149). Doch was nach dialektischem Kalkül aufgeht, ist am Drama nur schwer zu belegen. Der Teufel im Faust I ist theatralisch derart wirksam gestaltet, daß er seinen Opponenten an die Wand zu spielen droht. Mephisto erscheint, wie Friedenthal zu Recht hervorhebt, "oft lebendiger als sein Partner Faust" (S. 696).

Die doktrinären Faustdeutungen  sahen sich daher vor das Problem gestellt, die unleugbare Dominanz Mephistos, seinen unterhaltsamen Wortwitz, so zu inszenieren, daß letztlich doch eine Überlegenheit Fausts herauskam. Die Nazi-Propaganda vertraute dabei auf den Effekt einer Identifikation mit dem Angreifer: Mephisto wurde dämonisiert, um den Sieg der "titanischen Seinsart" (Hildebrandt, S. 97) desto kraftvoller erscheinen zu lassen. Die realsozialistische Pädagogik hingegen war vorsichtig bemüht, "auf jede mögliche Art dasjenige von Faust ins Spiel zu bringen, was sich der Rechnung des Mephistopheles entzieht" (Werner, S. 150). "Eine derartige Konzeption schließt", wie man durchaus erkannte, "eine Gefahr ein: Der Zuschauer findet nicht mehr den Spaß, den es macht, wenn Mephistopheles souverän die Illusionen und Selbsttäuschungen der anderen Gestalten ad absurdum führt. Dieser Verlust läßt sich aber", so die planvolle Lösung, "mehr als kompensieren, wenn die Rolle des Mephistopheles daraufhin befragt wird, was für neuer Spaß aus ihr herauszuholen ist, der auch einem sozialistischen Publikum gemäß wäre" (S. 152).

Die Schwäche der Duell-Hypothese ist, daß sie die konflikthafte Binnenstruktur Fausts zugunsten eines simplen Held-Antiheld-Schemas nivelliert. Indem sie die Amoralität und Destruktivität Fausts, die ihn doch erst den Pakt eingehen lassen, gleich diesem auf den Teufel projiziert, nimmt sie ihm die innere Widersprüchlichkeit. Zu ignorieren, daß Faust selbst "ziemlich eingeteufelt" (V. 3372) ist, hieße seine Versuche der Verantwortungsdelegation (Z.B. in V. 3248 oder in der Szene Trüber Tag. Feld ) teilen. Auch wenn Mephisto eine individuell charakterisierte Bühnenexistenz führt, so folgt daraus doch nicht, daß er eine selbständig handelnde Person ist. Daß Faust ihn einen "Gefährten" nennt, den er bald "schon nicht mehr / Entbehren kann" (V. 3244 f.), ist weniger ein Hinweis auf das Wesen des anderen als auf sein eigenes. Der Konflikt mit Mephisto ist zumindest partiell ein Konflikt, der sich "im inneren Seelenraume Fausts" (Strich, S. 97) abspielt. Manche Interpreten gehen so weit, daß sie in Fausts Wettpartner nichts anderes als einen personifizierten Selbstaspekt sehen, sein "schlechteres Ich" (Böhm, Bd. 2, S. 51) oder schlicht sein "Alter ego" (Metscher, S. 31 f.).

Diese These wird insbesondere von der psychoanalytischen Faustinterpretation vertreten. Christoph Müller begreift Mephisto als eine "psychotische Projektion" Fausts (S. 555), wobei er bewußt von philologischen Erwägungen absieht. Rolf Engelsing glaubt hingegen die Tatsache, daß es sich bei Faust und Mephisto um Teilidentitäten einer pathologischen Persönlichkeitsspaltung handle, aus den Quellen belegen zu können. Er verweist auf die Aufzeichnungen des schizophrenen Frankfurter Ratsherrn Johann Erasmus Senckenberg, dessen Lebenslauf G. vetraut war und in dem alle "Elemente für die Konzeption des Faust und des Mephistopheles vereinigt" (S. 132) seien. Doch die klinische Perspektive ist für eine Interpretation des "Zwei-Seelen"-Konflikts kaum aufschlußreich. Allenfalls im übertragenen Sinne könnte von einer "dramatischen Schizophrenie" Fausts (S. 133) gesprochen werden. Diese besteht weniger in wahnhaften Identitäten als in durchaus nachvollziehbaren Diskurspositionen, die aus verselbständigten Aspekten der inneren Ambivalenz Fausts hervorgehen. Ja, die Bühnenwirksamkeit des Konflikts scheint gerade darauf zu beruhen, daß diese Diskurspositionen jeweils für sich einen hohe argumentative Stimmigkeit aufweisen und erst in ihrem Zusammentreffen zu verhängnisvollen Reaktionen führen. Werner Keller, der einerseits das "Bedauern" nicht verhehlt, "daß Goethe mit dem Satan das Gegenprinzip des Göttlichen beibehielt, obschon der Dualismus in Faust selbst ausgereicht hätte, um die Spannung zwischen Erkennensgenuß und Sinnenlust in eine Person zu verlegen", stellt andererseits fest: "Der Teufel ist nötig als Fausts dialogischer Partner und zugleich als verführerischer Widersacher, der kommentiert und analysiert, das Menschliche desillusioniert und die Menschlichen destruiert" (1994, S. 128) In diesem Dialog also vertritt Mephisto den Part des Rationalisten, Faust hingegen den des Idealisten. Der eine begreift Erkenntnis als Instrument zur Durchsetzung von Zwecken, der andere als Vorstufe zur Intuition höherer Ziele (V. 3243); dieser sucht in der Sinnlichkeit die geistige Sublimierung, jener den sexuellen Vollzug. Mephisto, schreibt Wilhelm Resenhöfft, sei "die Summe des Verstandes in Faust" (S. 17).

Bemerkenswert ist aber nun, daß die ethische Bewertung dieser Positionen sich keineswegs auf die Rollen von Gut und Böse festlegen läßt; vielmehr schlägt sie im Verlauf des Stücks immer wieder ineinander um. Erich Franz stellt fest: "Die kühle skeptische Ironie [Mephistos] hat eine Verbindung zur Wahrhaftigkeit, zu einem nüchternen Realismus, während umgekehrt der sich erhitzende Idealismus [Fausts] leicht in Phantastik und Unechtheit ausarten kann" (S. 151). Diese Beobachtung läßt sich zuspitzen zu der Frage, wer von beiden der Motor der tragischen Entwicklung ist. Immerhin ist Mephisto der "Diener", ja der "Knecht" (V. 1648) Fausts, und sein Herr weiß das auszunutzen. Auch ist nicht immer klar, wer eigentlich wen verführt. Schließlich ist es Faust, der mit erpresserischen Drohungen auf Mephisto einwirkt, bis der sich bereit erklärt, ihm das vierzehnjährige "unschuldig Ding" (V. 2624) zu "schaffen" (V. 2619). Fällt also Margarete wirklich den Charaktereigenschaften Mephistos, der "Schlange" (V. 3325), zum Opfer, oder ist es nicht gerade Faust in seinem "hohen Streben" (V. 1676), der sie vernichtet? "Wer war's, der sie ins Verderben stürzte? Ich oder du?" (Trüber Tag. Feld, S. 595, 43 f.) fragt Mephisto.

 

Zweiter Figurenkontrast. Faust und Margarete

 

 

Bei Gelehrten, die sich dem Übermenschlichen verpflichtet fühlen, stoßen Fragen nach den Niederungen eines "Gretchen"-Schicksals bisweilen ins Leere. Auch Nietzsche wunderte sich: "Eine kleine Nähterin wird verführt und unglücklich gemacht; ein grosser Gelehrter aller vier Fakultäten ist der Uebelthäter. Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugegangen sein? Nein, gewiss nicht! Ohne die Beihülfe des leibhaftigen Teufels hätte es der grosse Gelehrte nicht zu Stande gebracht. - Sollte dies wirklich der grösste deutsche 'tragische Gedanke' sein, wie man unter Deutschen sagen hört?" (Nietzsche, S. 606).

Bis heute fällt es der Faustforschung nicht leicht, die Frage zu beantworten, worin der "tragische Gedanke" eigentlich besteht. Daß eine Minderjährige in den Wahnsinn getrieben und mitsamt ihrer Familie vernichtet wird, ist gewiß im umgangssprachlichen, aber damit noch nicht im poetologischen Sinne tragisch zu nennen. Letzteres erfordert den Aufweis, daß es notwendig so kommen mußte - als Resultat einer inneren Konsequenz der dramatischen Struktur. Daß dieses Kriterium erfüllt sei, wird von den Interpreten seit je nur bedingt bejaht.

Bedingt durch sozialhistorische Notwendigkeiten war die Margaretenhandlung für die marxistische Faustdeutung. In der kapitalistischen Klassengesellschaft, so Georg Lukács, könne der Mann nicht treu sein, da er stets mit der Frage konfrontiert werde, "ob Liebe und Ehe für seine 'Karriere' vorteilhaft oder nachteilig sind" (S. 283). Die Deutungsdoktrin der ehemaligen DDR sah im Gefolge dieses Ansatzes vor, "daß in Gretchens Opfergang, den Faust nur mitempfindend verfolgen, aber nicht aufhalten kann, die tiefe historische Wahrheit zum Ausdruck kommt, nach der sich der Aufstieg der Menschheit in dieser Epoche der Geschichte unter der Führung des männlichen Teils vollzieht. Die Opferung der Frau ist aber die tragische Bedingung dafür, daß der Mann als Persönlichkeit die führende Kraft der geschichtlichen Entwicklung sein kann" (Günter Albrecht u.a. S. 438 f.).

Aber auch die bürgerliche Faustdeutung sah das Schicksal Margaretes - die konträr zum Dramentext konsequent in der Verkleinerungsform angesprochen wird - kaum je als eine individuelle Tragik, sondern eher als einen Automatismus, der ihrem Mangel an Autonomie zugeschrieben wurde. Stellvertretend für die mit dem Dramenhelden identifizierten "Faustiker" sei Hermann August Korff zitiert, der die Tatsache beklagte, daß "Gretchen" - etwa im Vergleich zu Egmonts Klärchen - "keine Emanzipierte" ist, und allenfalls bewunderte, daß sie "in rührender Selbstverständlichkeit dem Geliebten auch ihr Mädchentum hingibt" (S. 241). Neuere Interpretationen sehen das nicht wesentlich anders. "Fausts 'Liebesentwurf'", so ist etwa zu lesen, fordere nun einmal die üblichen Konsequenzen: "es sind die Stadien, die das erotische 'Objekt', einmal verführt und sich überlassen, zu durchlaufen pflegt" (Streicher, S. 135).

Freilich "pflegt" ein menschliches Individuum, einmal zum "Objekt" eines "Entwurfs" degradiert, bestimmte "Stadien" der Abwertung zu durchlaufen. An den Kern der Tragödie führt diese Perspektive indessen kaum heran. Die Besonderheit dieser verhängnisvollen Affäre, die immerhin in Verbrechen und Wahnsinn endet, erschlösse sich erst einer genauen charakterologischen Untersuchung beider Partner. Doch indem die Forschung sich aufwendig um den Nachweis bemüht, daß Fausts Verhalten Ausdruck allgemeinmenschlicher Grundeigenschaften sei, sieht sie zwangsläufig von der ganz persönlichen Tragik Margaretes ab. Die Figur erscheint ihr so stilisiert, wie Faust sie sieht. "Da Gretchen nicht eigentlich Individuum ist", schreibt etwa Requadt, "entzieht sie sich letztlich auch der psychologischen Analyse" (S. 236).

Doch von der Stilisierung Margaretes, dem Produkt der Faustschen Werbungsrhetorik, hebt sich ihr ganz anderes, individuelles Dasein deutlich ab (Keller 1980/92, S. 308). Nur unter Hinzuziehung einer psychologischen Analyse vermag eine Interpretation daher den "tragischen Gedanken" zu begreifen, daß ein Mensch in dieser spezifischen Konstellation dem Wahnsinn verfallen muß.

Obwohl das Werk deutliche Hinweise auf eine Wahnsymptomatik gibt, werden sie von der Forschung kaum als solche zur Kenntnis genommen. Zu groß ist die Furcht, sich des Banausentums zu überführen. Christoph Müller etwa überzieht ganz bewußt seine ansonsten luziden psychopathologischen Ausführungen und ironisiert sie dergestalt als "Rede eines Amerikaners" (S. 535), um nicht in den Verdacht des Reduktionismus zu kommen. Ein derartiges Abgrenzungsbedürfnis scheint berechtigt, denn in der Tat ist nicht viel damit gewonnen, wenn etwa nur lapidar festgelegt wird, daß Margaretes Erscheinungsbild als paranoide schizophrene Psychose zu diagnostizieren sei (Jean B. Jofen, S. 76).

Fachliche Termini verdecken oft, was sie zu verstehen vorgeben. Das gilt auch für die Entwicklung Margaretes. Sie ist nicht durch allgemeine diagnostische Etikettierungen zu verstehen, sondern nur durch ein situationsnahes Nachvollziehen ihrer individuellen Psychodynamik. Hier ist die Dichtung dem akademischen Diskurs immer noch weit voraus, indem sie eindringlich auf ein Phänomen hinweist, das die analytische Psychiatrie erst heute zu begreifen beginnt: die Bedeutung beschämender Ereignisse für die Auslösung einer wahnhaften Persönlichkeitsspaltung.

"Beschämt nur steh' ich vor ihm da, / Und sag' zu allen Sachen ja. / Bin doch ein arm unwissend Kind, / Begreife nicht, was er an mir find't." (V. 3214-17) Mit Selbstentfremdung, dem Scham-induzierten Vorboten der späteren Spaltung, reagiert Margarete auf Fausts erste Annäherung. Was er an ihr "find't", das kann die Beschämte nicht begreifen, denn Faust - und das spürt sie genau - nimmt sie als Person gar nicht wahr. Seine Komplimente sind durchweg deplaziert, und das verwandelt sie in Demütigungen. Schon die Anrede als "schönes Fräulein", im Sprachgebrauch der Faustzeit ein Adelsprädikat, zwingt die damit allzu offensichtlich Fehladressierte zum ungelenken Dementi: "Bin weder Fräulein, weder schön" (V. 2607). Das erschlagend opulente Goldgeschmeide, das sie - der geltenden Kleiderordnung gemäß - nicht in der Öffentlichkeit tragen darf, kann sie nur mit dem Stoßseufzer einer Gedemütigten quittieren: "Ach wir Armen!" (V. 2804) Und seine selbstgefällige Galanterie beim ersten Rendezvous fordert schließlich den Offenbarungseid: "Ich fühl' es wohl, daß mich der Herr nur schont, / Herab sich läßt, mich zu beschämen [...] Ich weiß zu gut, daß solch' erfahrnen Mann / Mein arm Gespräch nicht unterhalten kann" (V. 3073-3078). Der aufdringlich überlegene Causeur bekräftigt das Eingeständnis ihrer Naivität mit der peinlichen Versicherung: "Ein Blick von dir, ein Wort mehr unterhält / Als alle Weisheit dieser Welt" (V. 3079f.). Indem er dabei, dem Adelskodex entsprechend, ihre Hand küßt, die - wie sich nun leider herausstellt - von der groben Arbeit "garstig" und "rauh" ist (V. 3082), hintertreibt er zugleich eine kompensatorische Inszenierung körperlicher Vorzüge.

Einen selbstbewußten Menschen könnten solche Verfehlungen kaum irritieren. Margarete aber ist nicht selbstbewußt. Ihr Ichgefühl ist vollständig geprägt von äußeren Determinanten: von einer strengen Mutter, die jeden ihrer Schritte und jeden Gegenstand privaten Besitzes "accurat" (V. 3114) kontrolliert, von Freundinnen, die jeden Normverstoß erbarmungslos verfolgen (V. 3574 ff.), und von einer Kirche, die jede Intimität - vom Bett bis zum Beichtstuhl - nach ehernen Regeln überwacht. "Umfangen in der kleinen Welt" (V. 3356), bleibt ihr kein Raum für die Entfaltung eines privaten Selbst. Sie wird zur Anpassung an die Erwartungen der Öffentlichkeit gezwungen, an Spießer-Standards, die sie unübertrefflich internalisiert hat: "Wie konnt' ich sonst", sagt sie im späteren Rückblick, "so tapfer schmählen, / Sah ich ein armes Mägdlein fehlen! / Wie konnt' ich über andrer Sünden / Nicht Worte g'nug der Zunge finden!" (V. 3577-3580).

So kreist Margaretes Denken - und darin liegt ihr Eigenanteil am tragischen Verlauf - beständig um den eigenen Status. Schon ihre erste Begegnung mit Mephisto verrät den heimlichen Wunsch, die Hofdame zu sein, als die sie angesprochen wird: "Müßte vor dem Herren schamroth werden" (V. 3021), sagt sie, in ihrem Geltungsbedürfnis für die Ironie verblendet, mit der ihr jener schmeichelt. Der ersehnte Status wird freilich durch den ihr sowohl aufgedrängten wie von ihr aufgesuchten Vergleich mit der realen Statushöhe Fausts völlig entwertet (V. 3073-3078, 3096-3099). Zwar weiß sie durchaus, daß sie schön ist, aber sie weiß auch, daß das nicht ausreicht, um Ansehen zu erreichen (V. 2798-2804). Entsprechend kläglich fallen ihre Reaktionen aus: Die spröde Abweisung bei der ersten Ansprache etwa (V. 2607 f.) oder der bemühte Hinweis auf ein "hübsch Vermögen" (V. 3117), das der Vater hinterlassen habe, offenbaren nur den enormen Bedarf an äußerem Halt. Denn, wie Christoph Müller formuliert: "Unter der verdeckten Ambition und unter dem Bißchen an Schnippischkeit, das sie gelegentlich zur Schau zu tragen wagt, lauert die tiefste Bedürftigkeit und Angst eines Menschen, der weder mütterliche Liebe noch väterlichen Schutz erfahren hat" (S. 553).

Ihre Selbstunsicherheit, die durch Faust heftig aktiviert wird, treibt die Haltsuchende immer weiter aus ihrem Persönlichkeitszentrum heraus: "Nach ihm nur schau' ich / Zum Fenster hinaus" (V. 3391 f.), heißt es in ihrem Lied am Spinnrad. Sie sucht Halt, wo sie ihn nicht bekommt (Michelsen, S. 88). Die völlige Ausrichtung der eigenen Identität am anderen, die sich auch an ihrer Sprache zeigen läßt (Schöne, S. 307), trägt hier bereits die Züge einer drohenden Spaltung: "Mein armer Kopf / Ist mir verrückt, / Mein armer Sinn / Ist mir zerstückt" (V. 3383-3386). Der Riß vertieft sich, als Faust ihre ängstliche Frage nach seiner Bereitschaft zur Sanktionierung des Verhältnisses mit rhetorischer Brillanz unterläuft. Die "Gretchenfrage" wird als naiv beiseitegeschoben.

Die Situation könnte als klassisches Beispiel für das herangezogen werden, was die neuere Psychiatrie "double-bind" nennt: Faust dringt auf eine Intimität, die anzunehmen sein eigener Narzißmus zugleich verwehrt. Er sieht nicht den anderen Menschen in ihr, sondern nur das Mittel seiner Selbstbestätigung. Bis sie im Kerker sitzt, nennt er nicht ein einziges Mal ihren Namen. Und seine Umschreibungen sind ebensowenig personenbezogen wie diejenige Mephistos, der vom "unschuldig Ding" (V. 2624) spricht: "Dirne" (V. 2619), "Geschöpfchen" (V. 2644), "Puppe" (V. 3477), nennt er sie. Das bleibt nicht ohne Einfluß auf Margarete; die ihrer individuellen Persönlichkeit Beraubte zweifelt allmählich an ihren Gefühlen: Sie meint bisweilen, Faust nicht mehr zu lieben, wenn Mephisto nahe ist (V. 3498), das heißt, wenn den instrumentelle Zusammenhang seines Liebeswerbens erahnt.

Die Tendenz zur Gefühlsabspaltung ist der Preis für die Minderung der peinlichen Schamgefühle. Und Margarete muß einen hohen Preis bezahlen, denn daß er sich Intimität nimmt, ohne Stabilität zu geben, ist in ihrem Milieu die äußerste aller Beschämungen. Am Brunnen muß sie nun erleben, daß ihre eigene Statusorientierung sich gegen sie selbst wendet: "Und segnet' mich und that so groß, / Und bin nun selbst der Sünde bloß!" (V. 3583 f.). Dabei ist es nicht die "Sünde" als solche, die sie so sehr belastet, sondern deren Bloßstellung. Das Empfinden von Schuld setzt ein Persönlichkeitszentrum voraus, das sich getroffen fühlt. Davon kann aber bei Margarete kaum noch die Rede sein. So betet sie zur Gottesmutter am Zwinger nicht um Vergebung der Sünde, sondern allein um Rettung vor "Schmach und Tod" (V. 3616). Nun kann sich ein Mensch zwar entschuldigen, nicht aber entschämen. Auch die Mutter Gottes kann ihr die personale Akzeptanz nicht vermitteln, an der es ihre eigene Mutter fehlen ließ. Und für ihre Wahnentwicklung schlimmer als der Zynismus in Mephistos Zither-Lied (V. 3682-3697), das Margaretes Schicksalsverwandte Ophelia zitiert, ist das Verhalten ihres Bruders, der mit dem Stichwort "Schande" (V. 3740) genau den wunden Punkt trifft. Dabei antizipiert er psychologisch sehr genau, daß es just die Versuche der Geheimhaltung sind, die die Betroffene ihrem Inneren entfremden, und es mit zunehmenden Abdichtungsmaßnahmen in eine monströse Feindes-Macht verwandeln: "Wenn erst die Schande wird geboren, / Wird sie heimlich zur Welt gebracht, / Und man zieht den Schleyer der Nacht / Ihr über Kopf und Ohren; / Ja, man möchte sie gern ermorden. / Wächst sie aber und macht sich groß, / Dann geht sie auch bey Tage bloß, / Und ist doch nicht schöner geworden. / Je häßlicher wird ihr Gesicht, / Je mehr sucht sie des Tages Licht" (3740-49). Die letzten Gefühlsreste erliegen nun dem öffentlichen Disziplinarkodex: "Laß die Tränen sein!" (V. 3771), sagt der Bruder. Da ihr die Äußerung des Inneren versperrt ist, bleibt ihr nur dessen Entäußerung. Das abgespaltene private Selbst begegnet ihr im Dom als fremde Verfolgungsinstanz, als paranoide Halluzination; ein "böser Geist" flüstert ihr zu: "Verbirg' dich! Sünd' und Schande / Bleibt nicht verborgen" (V. 3821 f.).

Die Wahnstimmen verfolgen sie bis in die dunkelsten Winkel ihrer Kerkerisolation: "Sie singen Lieder auf mich!", meint Magarethe, "Es ist bös von den Leuten!" (V. 4448). Eine pathologische "Verkennung" (Geyer, S. 146) des Vorgefallenen läßt sie selbst singen: "Meine Mutter die Hur, die mich umgebracht hat..." (V. 4412 ff.). Und was Faustphilologen gerne als Beleg dafür nehmen, daß Margarete einem "holden Wahn", nicht aber dem Wahnsinn verfällt (Politzer, S. 334): das übergenaue, visionäre Durchschauen Fausts (V. 4484 ff.), deutet eher auf eine abnorm gesteigerte Wahrnehmung hin, wie sie für Paranoiker kennzeichnend ist. Nach einem kräfteraubenden Prozeß der Abwehr ihrer Verfolger gibt sie schließlich erschöpft dem sich verdichtenden Wahnsinn nach - und erfährt im selben Moment Erleichterung: Es verstummen die bösen Mächte, die ihr das Kind "nahmen" (V. 4445). Die Halluzinationen freilich bleiben: sie sieht die "Menge" (4587), die sich zu ihrer Hinrichtung herandrängt. Aber "man hört sie nicht" (V. 4587). Mit der Verschiebung von der immer noch selbstbezüglichen akustischen zur mitteilungslosen optischen Halluzination ist sie die Qual der Scham endlich los (V. 4491 f.), denn sie hat keine Verbindung mehr zu der beschämten Identität. "Stumm liegt die Welt wie das Grab!" (V. 4595).

Eine psychologische Lesart der Margaretenhandlung, wie sie hier nur angedeutet werden konnte, vermag also innere Konsequenzen aufzuzeigen, die das Kriterium des Tragischen erfüllen. Freilich ist damit noch nichts ausgesagt über die dramaturgische Motivierung des tragischen Geschehens. Warum etwa "muß" Faust, wie er meint, Margaretes "Frieden [...] untergraben" (V. 3361)? Warum "muß" gerade dieses "Opfer" sein, das er der "Hölle" zuschreibt (V. 3362), obwohl doch der Teufel selbst über Fausts Partnerwahl erschrocken ist (V. 2621)? Warum kann er seinen "Liebesentwurf" nicht auf dem Blocksberg ausleben, wo eine Beschämung anderer mitsamt ihren zerstörerischen Folgen nicht zu befürchten wäre?

Diese Fragen sind mit psychologischen Mitteln allein nicht zu beantworten. Sie berühren Grundzüge des dramatischen Gehalts, die nur über eine ästhetische Formanalyse zu erschließen sind. Das wiederum bedeutet, sich der Unausdeutbarkeit des immer wieder neue Rätsel aufgebenden Werkes zu stellen. Jede Epoche wird darin ihre eigenen, durch bestimmte Rezeptionsinteressen vorgegebenen Fragestellungen wiedererkennen. Eingedenk dieser historischen Relativität sowie der Tatsache, daß sie immer nur punktuell und subjektiv eingefangen werden kann, seien abschließend einige Überlegungen zur Faustinterpretation formuliert, die durch die aktuelle kulturtheoretische Diskussion veranlaßt sind.

 

 

Faust I: das Drama der Verzeitlichung

 

 

Ob G. seinen Faust - übrigens als einziges seiner Dramen - zu Recht eine "Tragödie" genannt hat, ist unter Philologen vielfach angezweifelt worden. Nicht nur im Hinblick auf die Margareten-Handlung. Auch für die vorausgehenden Szenen scheint manchen Kommentatoren die eingebürgerte Bezeichnung "Gelehrtentragödie" unangemessen, da ihr eine innere Notwendigkeit schwer zu attestieren sei. Im folgenden wird die These vertreten, daß die Bezeichnung "Tragödie" dennoch gerechtfertigt ist, gerade weil beide Handlungskreise nicht in sich abgeschlossen, sondern durch einen gemeinsamen dritten miteinander verwoben sind. Dieses verbindende, tragische Strukturelement ist das Problem der Verzeitlichung, das von der Forschung erst seit kurzem in seiner leitmotivischen Bedeutung erkannt wird.

Schon der Prolog im Himmel weist darauf hin, daß Fausts Seelenkonflikt, das Hin- und Hergerissensein zwischen weltlicher Begierde und metaphysischer Sehnsucht, im wesentlichen ein Konflikt zwischen zwei Formen der Zeiterfahrung ist. Da der Mensch sich "bald die unbedingte Ruh" (V. 341) liebt, das Anhaften am irdischen Dasein, gibt ihm Gott "den Gesellen zu" (V. 342), der ihn immer wieder zu neuer Bewegung, zum Fortschreiten anstachelt. Hierin bereits zeigt sich die ganze Ambivalenz der Situation Fausts: So wenig es Gott gefällt, daß der Mensch stehen bleibt, so teuflisch ist es, unbeständig zu sein und besinnungslos weiter zu eilen. Fausts Streben hat demnach die Dialektik einer "Dauer im Wechsel" zu meistern.

Diese Konstellation ist kein individueller Einfall G.s. Sie verkörpert das zentralekulturtheoretische Problem seiner Epoche. Zwischen 1770 und 1830 vollzieht sich der für das Selbstverständnis der europäischen Moderne grundlegende Prozeß der Verzeitlichung (vgl. Lepenies). Er zeigt sich in der Naturforschung als Übergang von einer statisch-räumlichen zu einer evolutionären Auffassung, in der Ökonomie als Übergang von der Manufaktur zur maschinellen Produktion und im Sozialen als Übergang von der festgefügten Hierarchie des absolutistischen Staates zur Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft. Die entsprechende Akzentverlagerung im Begriff der Naturgeschichte erscheint einerseits als Überwindung einer hergebrachten Ordnung der Dinge, andererseits als Nivellierung von Qualitäten und Intensitäten. Wie in der allgemeinen Beschleunigung, die in mechanistischen Begriffen beschrieben wurde, Natur noch als Substanz wahrgenommen werden könne, ohne daß dabei ihre innere Dynamik geleugnet würde, das ist die ungelöste Fragestellung der Zeit. Und die historischen Versuche ihrer Beantwortung sind in die verschiedenen Werkstufen des Faust eingegangen. So kann das Drama als künstlerische Verarbeitung der Temporalisierung der Naturgeschichte angesehen werden, eine Sichtweise, die in der Umweltkrise eine über den philologischen Horizont weit hinausreichende interpretatorische Herausforderung darstellt, da sie mit einer Revision des Fortschrittsdenkens einhergeht. Eine ausführliche Deutung, die das Phänomen im kulturgeschichtlichen Zusammenhang untersucht (vgl. Matussek), ist in dem gegebenen Rahmen nicht möglich. Hier seien nur einige Aspekte ausgewählt, die insbesondere den Bereich der Naturwissenschaften betreffen.

Die Verzeitlichung des Naturwissens ist ein Ergebnis des Erfahrungsdrucks, der durch zunehmende Faktenanhäufung entstand. Dieser Erfahrungsdruck wird bereits im 16. Jh. akut, und das kommt eindringlich in Fausts erstem Monolog zur Sprache. Sein Zimmer ist von einem "Bücherhauf" sowie von "Gläsern, Büchsen" und "Instrumenten vollgepfropft" (V. 402-407). Die Naturerkenntnis ist auf diesem akkumulativen Wege an ihr buchstäblich räumliches Ende gelangt. Ihre Dynamisierung ist die zwangsläufige Folge daraus. Faust hat sich "der Magie ergeben" (V. 377), um die "Wirkenskraft" (V. 384) der Natur zu schauen. In der Makrokosmosvision sieht er "Himmelskräfte auf und nieder steigen / Und sich die goldnen Eimer reichen" (V. 449 f.). Darin wird auf das Motiv der "Kette der Wesen" angespielt, das – alttestamentliche und neuplatonische Vorstellungen aufgreifend – bis ins 18. Jahrhundert hinein Beschreibungsgrundlage für den Naturzusammenhang war (vgl. Lovejoy). Es ist zwar in sich bewegt, dies jedoch als bloßes "Schauspiel" (V. 454), das noch keine Erfahrung schöpferischer Produktivität vermittelt. Faust wendet sich von ihm ab, denn er sucht die leibhaftige Erfahrung der "Quellen alles Lebens" (V. 456). Das historische Grundmotiv der Alchemie, mit der er nun zu experimentieren beginnt, ist es, die Naturvorgänge im Laboratoriumsversuch nachzuvollziehen. Das ist nicht nur ein äußeres Geschehen, sondern ein innerer Transformationsprozeß. Indem der Alchemist den Schöpfungsvorgang der Natur wiederholt, macht er sich zum Herrn der Zeit. Voraussetzung hierfür ist die Bereitschaft zur Selbstpreisgabe, denn sie ist die seelische Entprechung zur Auflösung der Stoffe in die prima materia - jene "jungfräuliche Erde", mit der der junge G. experimentierte, um ihr produktives Wesen zu erfahren. So ist auch sein Faust zum "kleinen Tod" bereit ("und kostet' es mein Leben" - V. 481), der ihn im Vollzug magischer Praktiken zur Teilhabe an der Produktivität der Natur transformieren soll. Aber er scheitert.

Und zwar notwendig. Das ungelöste Problem, das hier in der historischen Einkleidung des 16. Jhs. zur Darstellung kommt, ist eines, das zugleich die unmittelbare Gegenwart des jungen G. betrifft. Zwar hatte sich mit der klassischen Mechanik inzwischen eine Theorie herausgebildet, die dynamische Prozesse der Natur begreifbar machte, aber dieses Verzeitlichungskonzept war unbefriedigend. G. und seine Straßburger Freunde registrierten sehr genau den Substanzverlust, mit dem das neue, insbesondere von den Enzyklopädisten vorgetragene Bewegungs- und Fortschrittsmodell erkauft wurde: "Wenn wir von den Encyklopädisten reden hörten, oder einen Band ihres ungeheuren Werks aufschlugen", berichtet er rückblickend in Dichtung und Wahrheit, "so war es uns zu Muthe, als wenn man zwischen den unzähligen beweg­ten Spulen und Weber­stühlen einer großen Fabrik hingeht" (WA I 28, 64).

Wie G., so geht es auch seinem Faust um eine substantielle Erfahrung zeitlicher Dynamik, die nicht "Mit Rad und Kämmen, Walz' und Bügel" (V. 669) zu erlangen ist, sondern nur als leibhaftige Teilhabe an "der lebendigen Natur" (V. 414). Diese Alternative zum mechanistischen Bewegungsbegriff wird gestützt durch Herders frühe Geschichtsphilosophie, die bei den Fortschrittsdenkern der französischen Aufklärung nur "lauter leblose Räder einer großen, hölzernen Maschine" (Herder, S. 90) am Werke sah und dagegen die kreativen und kreatürlichen Kräfte des pindarischen "Odenfeuers", einer neuen Gefühlssprache, setzte.

Mit Gefühlsemphase beschworen, erscheint der Erdgeist tatsächlich in der Flamme. Aber die Selbstdarstellung der personifizierten Naturkraft (V. 501-509) steht dennoch in einem merkwürdigen Kontrast zur leidenschaftlichen Beschwörungssprache Fausts. Auch sie spricht von einem "glühend Leben", beschreibt es jedoch als unspezi­fisches, geradezu maschinenartig rhythmisiertes "auf und ab" und "hin und her", und sie schließt ausgerechnet mit jener Metapher, die der junge G. zur Kritik der mechanistischen Natursysteme heranzog: "So schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit". Kann ein solcherart mechanisierter Geist wirklich "der Gottheit lebendiges Kleid" hervorbringen?

Um diese Merkwürdigkeit zu verstehen, bedarf es einer eingehenderen Formanalyse. Während die Faust II -Philologie, insbesondere seit Heinz Schlaffers Kritik an Wilhelm Emrich, neue Erkenntnisse über das Verhältnis und die Bedeutung symbolischer und allegorischer Darstellungsmittel ermöglicht hat, steckt diese für das Werkverständnis entscheidende Formdiskussion hinsichtlich des Faust I noch in den Anfängen. Auch im ersten Teil des Dramas hebt sich die Gestaltung der früheren, allegorisch geformten Partien von den späteren, symbolisierenden ab. Die immer noch im Banne der Symbolinterpretation stehende Faust I-Philologie hat diese Formunterschiede bisher kaum berücksichtigt. So wurde das Leitmotiv des Webens durchgängig als Ausdruck der G.schen Natursymbolik gedeutet. Man begnügte sich meist mit dem generellen Hinweis auf die alte Metapher der natura textor. Indessen befindet sich schon die Antike in der Verlegenheit, das Wesen der Kraft (dynamis) anders als in mechanischen Gleichnissen zu umschreiben. Platon etwa gebraucht im Timaios zur Veranschaulichung der Bewegung der Grundstoffe das Bild eines Schüttelsiebs (Tim. 52e-53a), das dem "auf und ab" und "hin und her" des Erdgeistes durchaus ähnelt. Der kosmologische Mythos verweist auf Mechanisches und relativiert damit seine mythische Qualität.

Dieselbe Verweisstruktur findet sich bei den hier in Frage stehenden Versen. Sie läßt es nicht zu, den Erdgeist als ungebrochenes "Symbol organischer Produktivität" (Danckert S. 473), anzusehen. Eine ostentative Ver­zweiflung an der Hinfälligkeit der Begriffe und Bilder durchzieht die ganze Szene - ange­fangen bei Fausts Abwendung vom bloßen "Schauspiel" (V. 454) der Makro­kosmosvision über den geradezu inflationären Gebrauch erhabener Topoi (V. 464 ff.), die Sturm laufen gegen die Grenzen des Sagbaren, bis hin zur schroffen Abfuhr durch den Geist, der nicht "gefaßt" (vgl. V. 455) und nicht "begriffen" (vgl. V. 512) werden kann. So deutet auch die Webstuhl-Metapher auf das Ungreifbare im vordergründig Greifbaren. Sie steht in einem eigenartigen Spannungsverhältnis zwischen organischen und technischen Assoziationen; damit repräsentiert sie eine Beschleunigungsdynamik, auf deren inneres Wesen nur von außen her geschlossen werden kann: Der Erdgeist schafft "am  sausenden Webstuhl der Zeit" (V. 508, Hv. P.M.), der zugleich die antike natura textor wie auch die modernen Textilmaschinen herbeizitiert.

G. muß bereits in der Straßburger Zeit von dem berühmten Jacques de Vaucanson gehört haben, der den automatischen Webstuhl erfunden hatte. Wenn er also seinen Erdgeist, den Inbe­griff schöpferischer Naturkräfte, mit einer Apparatur in Verbindung bringt, der zwar Selbsttätigkeit zuzuschreiben war, die aber auf rein mechanischen Prinzipien beruhte, so handelt es sich ganz offenbar um einen bewußt inszenierten Bruch zwischen Bild und Bedeutung, d.h. um eine Allegorie. Deren Ausdrucksintention liegt - wenn man sich von der traditionellen, hier völlig unangemessenen Zuschreibung einer Natursymbolik erst einmal befreit hat - auf der Hand: Die Idee der "Lebensfluten" (V. 501), einer substantiellen Verzeitlichungsform, ist begrifflich nicht faßbar; der Versuch ihrer eindeutigen Bestimmung mündet notwendig in mechanische Temporalisierungskonzepte. Faust scheitert, weil die begriffliche Vorstellung, die er sich vom Erdgeist macht - und nichts anderes ist dessen 'Selbst'beschreibung -, abstrakt bleiben muß; sie ist Geist von seinem Geist, nicht aber wesenhaftes Erfassen der Naturproduktivität. Die allegorische Zeiterfahrung der Erdgeistbeschwörung ist negativ bestimmt: Nur in der Wahrnehmung der Tatsache, daß jede Existenzbestimmung "im Zeitenstrudel scheitert" (V. 643), nur im beständigen Verfehlen des Versuchs, die Zeit erkennend festzuhalten, wird ihre schöpferische Dynamis wirklich erlebbar.

Die Gelehrtentragödie besteht darin, daß die Möglichkeit einer Teilhabe an der Naturproduktivität einzig in deren Scheitern aufscheint. Seit Aristoteles wird die Zeit als "Zahl der Bewegung" begriffen und damit dem sinnlichen Erleben entzogen. Faust versucht dagegen, kraft schöpferischer Autonomie eine substantielle Zeiterfahrung zu machen; doch er wird zurückgeworfen auf die Erkenntnis, daß sein Begriff von Autonomie lediglich dem eines Automaten gemäß ist. Ein Reflex auf die hohle Mechanik der seiner Gefühlsrhetorik ist die Tatsache, daß der eintretende Wagner ihn ein vorgegebenes Stück "declamieren" zu hören meinte (V. 522). Auch in dem nun folgenden Dialog geht es zentral um das Thema der Zeit. Wagner vertritt dabei die Position der Fortschrittspartei aus der 'Querelle des Anciens et des Modernes': "Verzeiht! es ist ein groß Ergetzen, / Sich in den Geist der Zeiten zu versetzen, / Zu schauen wie vor uns ein weiser Mann gedacht, / Und wie wir's dann zuletzt so herrlich weit gebracht" (V. 570-573). Fausts Replik hingegen ist an Herders früher Geschichtsphilosophie orientiert, die den französischen Akademiestreit für erledigt hielt, weil beide Parteien nur ihre jeweiligen Standpunkte in die Vergangenheit projizierten: Es ist nach dieser Einsicht "der Herren eigner Geist, / In dem die Zeiten sich bespiegeln" (V. 577-579). Faust selbst hat erfahren müssen, daß jeder Versuch, der Produktivität der Natur teilhaftig zu werden, tautologisch in der eigenen Begriffssprache befangen bleiben muß.

In diesem allegorischen Sinne greift Mephisto später das Bild des Webens auf. Er demonstriert dem Schüler, daß die "Gedankenfabrik" der Philosophie zwar ein mechanisches "Weber-Meisterstück" nachzubuchstabieren vermöge, nicht aber zum "Weber" ausbilde, d.h. Produkte lesen lehre, nicht aber Produktivität ermögliche (V. 1922-1935).

Mephisto selbst freilich hat keine gehaltvollere Alternative zu bieten. Von Faust angerufen als einer der Geister, die "zwischen Erd' und Himmel herrschend weben" (V. 1119), verkörpert auch er nur die verfallsgeschichtliche Variante des Dynamis-Konzepts: "Zerstörung" ist sein "eigentliches Element" (V. 1343 f.). Er setzt auf das Prinzip einer rückläufigen Evolution, demzufolge alles Körperliche "zu Grunde gehn" muß (V. 1358). Warum also läßt sich Faust überhaupt auf ihn ein?

Die Frage nach dem Inhalt der Wette hat den Interpreten seit je die größten Schwierigkeiten bereitet. So sieht etwa Erich Heller einen unaufhebbaren Widerspruch in der Tatsache, daß Faust zunächst mit der Formulierung "Kannst du mich mit Genuß betrügen" (V. 1696) ganz offensichtlich seiner Verachtung Ausdruck gibt, um dann mit einer scheinbar unmotivierten Wendung sehnsüchtig hinzuzusetzen: "Werd' ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön! / Dann ... / ... sey die Zeit für mich vorbeiy" (V. 1699-1706). Versucht man hingegen sich klarzumachen, welche Art der Zeiterfahrung Faust intendiert, so zeigt sich eine innere Konsequenz in den beiden Formulierungen.

Es ist der Grundwiderspruch des modernen Fortschrittsdenkens, daß es im Interesse äußerer Entwicklung die inneren Gehalte, um deretwillen sie eigentlich vorangetrieben wird, entwerten muß. Faust repräsentiert das Leiden an dieser Ambivalenz des Temporalisierungsprozesses. Er will der schlechten Alternative von Substanz ohne Bewegung oder Bewegung ohne Substanz entkommen und sucht eine Zeiterfahrung, die im Wechsel beständig ist – vergleichbar der mystischen Formel des "nunc stans", d.h. des stehenden Jetzt, das seinen Bestand ja auch im steten Wechsel hat. Was er verachtet, ist nicht etwa der Genuß schlechthin, sondern der Trug, er habe Bestand. Dessen Ablehnung leitet konsequent zur zweiten Wettformel über, in der vom schönen Augenblick die Rede ist. Das "additional statement" (Hohlfeld, S. 21) verwirft jedes Verweilen, ohne doch damit die Sehnsucht nach Erfüllung preiszugeben.

Mephisto ist der geeignete Partner für eine solche Wette auf den erfüllten Augenblick, da er die Entwertungstendenzen des modernen Zeitbegriffs verkörpert. Die "Teufelszeit" (Jaszi, S. 99) beruht auf der äußerlichen Logik des Vorher und Nachher, die das Jetzt nur als leeren Zeitpunkt kennt, nicht als Augenblick. Sie definiert sich in Fristen (V. 1650, 1690, 1787), statt in Erlebnissen, und so macht es Mephisto zu seinem "Bedingniß", Faust "die Zeit ... zu vertreiben" (V. 1432). Gegen diesen Teufel sich zu behaupten, heißt den Beweis antreten, daß Zeit in jedem Moment als unendlich gehaltvoll erfahren werden kann. Mit dem "Faulbett" (V. 1692) - wie etwa Schöne (S. 177) unterstellt - hat dieser erfüllte Augenblick nichts gemein. Im Gegenteil: Wie schon im Prolog die "unbedingte Ruh" (V. 341), so ist auch hier das erschlaffte Hängenbleiben Anathema für Faust; es wäre der Sieg des Teufels: "Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen, / Es sey die Zeit für mich vorbey!" (V. 1705 f.).

Mephisto kann unter diesen Voraussetzungen nur dann etwas gegen Faust ausrichten, wenn er dessen Ambitionen aufgreift – freilich mit dem Ziel, den darin angestrebten Gehalt unmerklich auf jenen Nullpunkt zu bringen, in dem der reine Fortgang der Zeit und ihr absoluter Stillstand zusammenfallen. Partner ist Mephisto deshalb nicht nur als Gegenspieler der Wette, sondern zugleich als Komplize, der bereitwillig dabei hilft, das äußerliche Kontinuum der Zeit zu durchbrechen. In einem der Wette vorangestellten Katalog paradoxer Forderungen verdeutlicht Faust seinen Überdruß an der kausalen Zeitordnung, kulminierend in den Worten: "Zeig mir die Frucht die fault, eh' man sie bricht, / Und Bäume die sich täglich neu begrünen!" (V. 1686 f.). Mephisto erwidert sogleich: "Ein solcher Auftrag schreckt mich nicht" (V. 1688). Keineswegs bestätigt er damit Fausts Bedürfnis nach einer Erlebnisqualität, die herausragt aus der festgefügten Zeitordnung der Naturgesetze. Aber auch Mephisto - und das gehört zur Paradoxie des Fortschrittsdenkens, dessen Pathologie er verkörpert - muß sich letztlich gegen die Kausalität wenden, gegen den gesetzmäßigen Zusammenhang von Werden und Vergehen. Einerseits beruft er sich auf dieses Prinzip - das Vorhandensein von Körpern ist zugleich Bedingung ihres Zerfalls (V. 1351-1358) -, andererseits weiß er, daß die ewige Wiederkehr der Dinge nur dann unterbliebe, wenn "nichts entstünde" (V. 1341), wenn also das Fortschreiten der Zeit unterbrochen werden könnte. So gibt es just im Gegensatz zugleich eine Interessenverwandtschaft zwischen den Kontrahenten. Beide verschreiben sich der Temporalität des Daseins, um darin den Punkt zu finden, der sie außer Kraft setzt. "Stürzen wir uns in das Rauschen der Zeit / In's Rollen der Begebenheit!" (V. 1754 f.), so lautet Fausts Programm für die Weltfahrt, denn er weiß, daß nur das Eintauchen in den Zeitstrom ihm die Chance bietet, den Augenblick zu erleben, der ewige Gegenwart wäre. Und Mephisto verhilft ihm dazu – freilich in der Erwartung, daß "das wilde Leben" Faust dazu bringen werde, sich an "flache Unbedeutenheit" zu heften und daran "starren" und "kleben" bleiben werde (V. 1860 ff.).

Die Umkehrung der Chronologie durch den Verjüngungstrank dient den Interessen beider: denjenigen Fausts, indem sie seine Erlebnisfähigkeit steigert, und denjenigen Mephistos, indem sie ihn zum Gefangenen seiner Sinne macht. Daß nun der verjüngte Faust auf Margarete verfällt, scheint zunächst für seine Idee des Zeiterlebens zu sprechen. Denn das pubertierende Mädchen ist das ideale Objekt für ein Verlangen nach Transzendierung des äußerlichen Zeitmaßes. Nicht mehr Kind und noch nicht Frau, verkörpert sie eine temporale Indifferenz, die Faust zugleich anzieht und innehalten läßt in der Antizipation einer "Wonne", "die ewig seyn muß! / Ewig! - Ihr Ende würde Verzweiflung seyn. Nein, kein Ende! Kein Ende!" (V. 3192-95). Der erotische Augenblick muß ewig sein, da jede Fristsetzung sein Wesen zerstören würde. Diese radikale Überschreitung jedes Zeitmaßes artikuliert sich wiederum durch einen allegorischen Gebrauch der Webe-Metapher. Fausts Glaubenbekenntnis vermag nur im indirekten Verweis anzudeuten, "was unaussprechlich ist" (V. 3191): Seine Gottesidee "webt in ewigem Geheimniß" (V. 3450), denn sie darf und will sich nicht festlegen. Auch hier jedoch - und das ist Wasser auf Mephistos Mühlen - hat die Metapher einen zweckrationalen Beweggrund: Sie verrät den funktionalen, fristgebundenen Charakter der Rede von Ewigkeiten, den unduldsamen Mechanismus sexueller Triebbefriedigung.

Zunächst aber entzieht sich Faust diesem Mechanismus. Die Kontemplation der Natur in Wald und Höhle gewährt ihm, sehr zu Mephistos Verdruß, jenes Zeiterleben, auf das er gewettet hat: Er erlebt eine "Wonne", die ihn "den Göttern nah' und näher bringt" (V. 3242 f.), das heißt substantiellen Genuß in der Bewegung. Wie kommt es dazu?

Wiederum ist es der Erdgeist, der Faust erscheint, diesmal aber in völlig anderer Gestalt. Freilich hat sich nicht das Wesen des Geistes, die natura creatrix, verändert, sondern Fausts Wahrnehmung. War es in der Beschwörungsszene der Blick eines Allegorikers, der an der Äußerlichkeit der mechanistischen Bewegungsbegriffe ver­zweifelte, ist es nun der Blick eines Symbolikers, der "Im stillen Busch, in Luft und Wasser" seine "Brüder" (V. 3227 f.) kennenlernt, in den Erschei­nungen der Natur die Verwandtschaft alles Lebendigen. Mitvollziehend beschreibt Faust die "Reihe der Lebendigen" (V. 3226) und bringt so die Idee einer als gehaltvoll erlebbaren Zeitlichkeit positiv zur Sprache, anstatt sie nur negativ, durch den Verzweiflungshinweis auf ein Unaussprechliches anzudeuten.

Der entstehungsgeschichtliche Hintergrund für diesen Wandel ist der im ersten Weimarer Jahrzehnt entwickelte Ansatz einer Naturwissenschaftssprache, die Linnés statische Klassifikationen überwinden sollte. Was G. in der Naturwissenschaft durch das Verfahren der "Synonymenvariation" leistet (Pörksen, S. 82), eine Versprachlichung natürlicher Bewegungsformen, gestaltet er im Wald und Höhle-Monolog durch eine metonymische, also auf beständigen Verschiebungen beruhende Symbolik. Die Erscheinungsweise des Erdgeistes modifiziert sich mit den Verben, die Faust ihr jeweils ver­leiht, wobei sie von der Beschreibungung einer Außenwahrnehmung allmählich in die einer Selbstwahrnehmung übergehen: "du gabst", "hast mir ... zugewendet", "erlaubst", "Vergönnest", "führst ... vor­bey", "lehrst ... kennen", "führst ... mich", "zeigst / Mich dann mir selbst" (V. 3218–34). Im subjektiven Mitvollzug des objektiven Geschehens wird eine Form der Zeitlichkeit erfahren, bei der sich Innen- und Außenaspekte zwanglos verbinden. Die menschliche Geschichte erscheint nicht mehr als Widerpart des Naturprozesses, sondern als eine seiner Gestalten: "Von Felsenwänden, aus dem feuchten Busch" schweben Faust "Der Vorwelt silberne Gestalten auf" (V. 3238 f.). Es ist das Modell eines Fortschrittsdenkens, das sich den Naturvorgängen ähnlich zu machen sucht, anstatt diese sich ähnlich zu machen.

Das erneute Auseinanderbrechen dieses sympathetischen Einklangs von Natur und Geschichte beruht, wie  erwähnt, auf der unaufhebbaren Dialektik von Genuß und Begierde. In ihr spiegelt sich aber auch ein wissenschaftshistorisches Problem. Analog zum mephistophelischen "Worthauch", der die Gaben des Erdgeistes zu "Nichts" wandelt (V. 3246 f.), mußte der sich zunehmend durchsetzende wissenschaftliche Anspruch auf begriffliche Konsistenz das Verfahren der metonymischen Reihenbildung unterminieren. Fausts Zeiterfahrung, die sich seiner Erotisierung verdankt, läßt sich in ihrem flüchtigen Charakter zwar mitvollziehend verstehen, nicht aber erklären. Sie ist der Frage nach ihrer Legitimationsgrundlage argumentativ nicht gewachsen. Mephisto, der den Rückzug Fausts als Selbstbefriedigung verspottet (V. 3283 ff.), kann auf den Widerspruch zwischen innerer und äußerer Zeit verweisen, den Margarete, das erotische Objekt, erleidet: "Die Zeit wird ihr erbärmlich lang" (V. 3316), denn ihre Gefühle sind in Abhängigkeit geraten von der Fristsetzung durch die Rückkehr ihres Geliebten. Nicht anders ergeht es nun Faust, der nur an seine biologisch-chronologische Bedingtheit erinnert zu werden brauchte, um schlagartig zurückzufallen in die alte Suchtstruktur, die Margarete zugrunde richten wird. Ungeduldig appelliert er an die mephistophelische Fähigkeit zum Zeitvertreib: "Hilf, Teufel, mir die Zeit der Angst verkürzen! / Was muß geschehn, mag's gleich geschehn!" (V. 3363 f.).

Das souveräne Gegenbild zu dieser reflexartigen Unterwerfung unter die äußere Zeit hatte das Drama zu Beginn bereits vorgegeben. Es war die Programmatik, die der Herr im Prolog verkündet: "Das Werdende, das ewig wirkt und lebt, / Umfaß' euch mit der Liebe holden Schranken, / Und was in schwankender Erscheinung schwebt, / Befestiget mit dauernden Gedanken" (V. 346-349). Die darin enthaltene Idee einer "Dauer im Wechsel" entstammt der Zeit der Hochklassik, in der G. unter dem Einfluß der Identitätsphilosophie seiner Naturwissenschaft die Begriffe von Polarität und Steigerung zugrundelegte, so etwa im Bildungsgesetz der Metamorphosenlehre.

Doch diese – im Verhältnis zum Monolog in 'Wald und Höhle' begrifflich konsistentere – Fassung der Idee einer gehaltvollen Zeiterfahrung wurde vom Drama schon vorher, nämlich mit dem Osterspaziergang Vor dem Tor, diskreditiert. Denn dort vermochte Faust zwar im Leitmotiv von "Bildung und Streben" (V. 912) eine ideale Synthese von natürlichen und geschichtlichen Vorgängen zu beschreiben. Aber die stark abstrahierende Sprache seines Monologs ("Revier", "Gewimmel", "Menge", "Getümmel", "groß und klein" - V. 914-939) zeigte, daß die Komposition einer Mensch und Landschaft umfassenden Metamorphose eines allzu hohen Maßes an stilisierender Distanz bedurfte, als daß sie ihre beanspruchte Lebenswirklichkeit hätte glaubhaft machen können. Die "Höhen" (V. 916), von denen herunter Faust seinem Assistenten die Landschaft erklärte, waren vielmehr symbolischer Ausdruck seiner Gleichgültigkeit gegenüber dem Einzelphänomen. Daß G. dieses kritische Moment ganz gezielt an Fausts Rhetorik hervorkehrte, zeigt sich unter anderem daran, daß er ihm die Formulierung "grünet Hoffnungs-Glück" (V. 905) in den Mund legte. Diese nämlich ist, der Farbenlehre zufolge, ein Merkmal des allegorischen Farbgebrauchs: „Bei diesem ist mehr Zufälliges und Willkürliches, ja man kann sagen Konventionelles, indem uns erst der Sinn des Zeichens überliefert werden muß, ehe wir wissen, was es bedeuten soll; wie es sich z. B. mit der grünen Farbe verhält, die man der Hoffnung zugeteilt hat“ (WA II 1, 357 f.). Die allzu willkürliche Symbolik des Osterspaziergangs entlarvte sich durch ihr Angewiesensein auf allegorische Hilfskonstruktionen. Ein Rückbezug auf den darin beschriebenen Zustand hätte dem in Wald und Höhle resignierenden Faust auch keinen Halt geboten.

Die hektische Sinnlichkeit der Walpurgisnacht freilich, in die sich Faust nach der tödlich gesicherten Liebesnacht mit Gretchen stürzt, ist ebensowenig ein Akt der Befreiung aus der Vermitteltheit des symbolischen Naturbezugs. Zwar löst sie in aller Drastik den Anspruch ein, der Faust in Wald und Höhle  argumentativ unterlegen sein ließ: zu "nennen, / Was keusche Herzen nicht entbehren können" (V. 3296 f.). Aber es sind eben nur "Zerstreuungen" (Trüber Tag. Feld, Z. 11), die eine auf den Trieb reduzierte Sinnlichkeit zu bieten hat, mephistophelischer "Zeitvertreib" ohne die Intensität des erotischen Moments. Daß der erfüllte Augenblick dergestalt auf der Strecke bleibt, kann als der eigentliche Kern der Gretchentragödie angesehen werden.

Unter dem interpretatorischen Gesichtspunkt der Zeit liest sich das Drama somit als eine Konstellation von Problemfiguren, die unterschiedliche Stadien im historischen Prozeß der Temporalisierung zum Ausdruck bringen. Faust, der als Gelehrter antritt, begriffliche Fixierungen aufzubrechen, endet als flüchtiger Liebhaber, der die Folgen seines Tuns nicht mehr unter Kontrolle hat. Er verkörpert damit den Fortschritt in seiner ambivalenzten Dynamik: Je mehr sie sich durchsetzt, um so weiter entfernt sie sich von ihrem intentionalen Gehalt. Zwar wird der fixierende Begriff durch das innere Zeiterleben, das die Liebe offenbart, überwunden. Denn das Wesen der Erkenntnis ist das Festhalten, das der Erotik die Flüchtigkeit. Doch ohne das Bestreben, den Augenblick festzuhalten, käme seine Aura gar nicht erst zu Bewußtsein. Das "Verweile doch" muß diese Aura zerstören. Die Vereinigung von Eros und Erkenntnis mißlingt. In der wechselseitigen Zerstörung beider Zeitformen steigern sich die inneren Widersprüche der Gelehrten- und Gretchentragödie zu einer einzigen, zusammenhängenden Katastrophe: zur Tragödie des Fortschritts, die hier freilich implizit und subjektiv bleibt, während sie in Faust II ihre objektive Ausgestaltung erfahren wird.

 

 

Auswahlbibliographie

 

 

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