Peter Matussek/ Paul Matussek

Martin Heidegger

 


Erschienen in: Analytische Psychosentherapie. Band 2: Anwendungen; Berlin, Heidelberg, New York 1997, S. 49–78 [Nachdruck 2001].

 




"Fachmännische und profunde … Untersuchung des Lebens des Philosophen."
La Republica



     
 

Vorbemerkung: Die Psychodynamik
der Persönlichkeit in ihrer Beziehung zum Werk

 

Wenn wir im folgenden die problematische Persönlichkeitsstruktur Heideggers und deren Äußerung im Werk psychographisch untersuchen, so soll genauso wenig wie bei C. G. Jung und im späteren Beitrag über Axel Springer das Werk pathologisiert werden. Wohl aber soll, wie schon bei Jung, gefragt werden, welche Anteile die Persönlichkeitsstruktur am Werk hat. Das Geniale der Schöpfungen beider ist nicht ohne Hinzuziehung biographischer Faktoren zu erklären.

Was wir uns vorgenommen haben, ist nicht eine Lösung der philosophischen, wohl aber ein Beitrag zur Lösung der psychologischen Rätsel, die Heidegger seinen Biographen immer noch aufgibt. Er selbst hat es zeitlebens vermieden, näheren Einblick in sein Privatleben zu gewähren, ja er bemühte sich immer wieder, es zu kaschieren oder zumindest dessen Spuren zu verwischen – so etwa das Verhältnis mit Hannah Arendt oder seine Begeisterung für die nationalsozialistische Bewegung. Heideggers Umgang mit seiner Biographie ist ähnlich lapidar, wie er es in seiner Aristoteles-Vorlesung formulierte: "Er wurde geboren, arbeitete und starb" (Safranski, S.15).

Er wollte keinen Berichterstatter, keinen Historiker, vor allem keinen Psychiater, der den Werdegang seines Lebens unter psychologischen Gesichtspunkten betrachtet. Er haßte geradezu alle Psychologie, wie es in den wiederholten Ausfällen gegen die Persönlichkeitstypologie zum Ausdruck kommt. Selbst die damals aufgetauchte Unterscheidung von wahrem und falschem Selbst lehnte er vehement ab, obwohl sie ganz nahe an der von ihm gewählten Unterscheidung von Eigentlichem und Uneigentlichem liegt. Er vermutete in jenen Begriffen "theologische Schmuggelware".

Das Fehlen privaten Materials, das heißt hinreichend zuverlässiger Selbstauskünfte über Stimmungen und Gefühle, Einstellungen zu Partnerinnen und Freunden, Kollegen und Schülern, wäre ein Grund, ihn nicht als Modell zu wählen, wenn es nicht seinerseits einen signifikanten Hinweis auf seine Persönlichkeitsstruktur böte: Heideggers Unwillen, über sein privates Selbst Auskunft zu geben, ist begründet in einer eklatanten Unfähigkeit. Paradoxerweise ist der Philosoph der Eigentlichkeit in auffälligem Maße ein Mensch, der in seinem öffentlichen Selbst geradezu aufging.

Dieser Persönlichkeitszug wiederum ist hervorragend dokumentiert, denn er hat zahlreiche Biographen veranlaßt, dem "Rätsel Heidegger" auf die Spur zu kommen. Vergeblich. "In der Tat", schreibt etwa Paul Hühnerfeld, "gibt es kaum einen bedeutsamen Mann der Gegenwart, über den selbst Kenner so wenig wissen wie über Martin Heidegger. Ausgenommen davon sind ein paar Freunde und Schüler. Sie behandeln jedoch, was sie an Lebensdaten erfahren haben, wie ein Geheimnis, so als ob sie in früheren Jahren einmal durch eine Art von gemeinsamem Rütlischwur dazu verpflichtet worden wären, um jeden Preis zu schweigen" (Hühnerfeld, S. 11).

Uns geht es nun nicht darum, den zahlreichen biographischen Versuchen – insbesondere von Ott und Safranski, sowie von Farías, Hühnerfeld, Petzet, Steiner und anderen (s. Literaturverezichnis) – einen weiteren an die Seite zu stellen. Wir konzentrieren uns darauf, das vorhandene Material, ergänzt durch eigene Recherchen, anhand einer möglichst genauen Verhältnisbestimmung der beiden Selbstaspekte zu konstellieren, so daß es einer psychiatrischen Deutung zugeführt werden kann. Denn hier, im Psychiatrischen, löst sich manches Rätsel, wie es insbesondere von Ott immer wieder angemahnt wurde (Ott, S. 201, 208 u. 350).

Daß wir es mit einer psychologisch auffälligen Persönlichkeitsstruktur zu tun haben, scheint evident. In der Untersuchung von Felix Post (1994) über Kreativität und Psychopathologie wird neben C.G. Jung und Freud Heidegger als signifikant gestört gekennzeichnet. Doch eine dezidierte psychiatrische Stellungnahme exisiert nicht – sieht man einmal ab von dem Gutachten, das Erich Jaensch, Heideggers Kollege aus der Marburger Zeit und Ordinarius für Psychologie, über ihn angefertigt hat. Darin heißt es unter anderem, Heidegger sei ein "gefährlicher Schizophrener", und seine Schriften "psychopathologische Dokumente" (nach Safranski 1994, S. 313). Jaensch schreibt ihm ein "ebenso eigenbrötlerisches wie unklares, schizoformes, teilweise schon schizophrenes Denken" zu (S. 327). Bei dieser Diagnose ist freilich zu bedenken, daß Jaensch kein neutraler Beurteiler war. Er benutzte sein Fachwissen, um die Nazis, zu deren geistigem Führer Heidegger sich seinerzeit aufzuschwingen versuchte, vor dessen übertriebenem Ehrgeiz zu warnen.

Die Psychiater und Seelsorger hingegen, die Heidegger persönlich erlebt haben, wie etwa der spätere Erzbischof Gröber, der Philosoph Jaspers und der Psychiatrie-Ordinarius Beringer, sind in ihren Urteilen auffällig zurückhaltend. Offenbar hatten sie große Bedenken, den weltberühmten Philosophen durch Äußerungen über seine Persönlichkeit zu diskreditieren. Das gilt auch für den behandelnden Arzt in der Klinik Baden in Badenweiler, von Gebsattel, der Heidegger während eines dreiwöchigen Aufenthalts 1946 betreut hatte. Eine Krankengeschichte existiert nicht.

Wir sind also auf die Deutung von nichtpsychiatrischem Material angewiesen, wenn wir mehr über die Persönlichkeitsstruktur Heideggers erfahren wollen. Das Material haben wir nach den drei Gesichtspunkten geordnet, die nach Binswanger für eine schizophrene Persönlichkeit entscheidend sind, unabhängig von einer akuten Manifestation der Erkrankung: Verschrobenheit, Verstiegenheit und Maniriertheit. An diesen drei Syndromen möchten wir zeigen, wie sich bei Heidegger eine Fixierung auf das öffentliche Selbst im Laufe seines Lebens als Kompensation für sein schwaches privates Selbst ausgebildet hat.

Dabei konzentrieren wir uns auf die beiden biographischen Angelpunkte, die Heidegger – in Anspielung auf Paulus' Brief an die Korinther (2. Kor. 12,7) – als die "zwei Pfähle" in seinem Leben bezeichnete: Den Glauben der Herkunft und das Rektorat 1933/34. Am Verhältnis zu dem erstgenannten Punkt läßt sich die Genese seiner Verschrobenheit, an dem zweiten dann seine Verstiegenheit analysieren, deren problematische Verarbeitung schließlich an der Entwicklung seiner Maniriertheit, insbesondere der Sprache, abzulesen ist.

 

 

a) Verschrobenheit – Absetzung vom "Glauben der Herkunft"

 

 

Den Glauben der Herkunft hat Heidegger im antimodernistischen Katholizismus seiner Heimatstadt Meßkirch kennengelernt. Bemerkenswert im Hinblick auf spätere Spaltungsfolgen ist der vom kleinen Martin unmittelbar erlebte Streit der Altkatholiken mit den romtreu gebliebenen Katholiken nach der Verkündigung des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes im Jahre 1870. Große Teile, besonders im Süden Deutschlands, widersetzten sich dieser Glaubensdiktatur. Sie nannten sich Altkatholiken im Gegensatz zu den römischen Papstkatholiken. Diese waren wenige, wie zum Beispiel Heideggers Vater, Küster an der einzigen Kirche des Ortes, und diese wenigen waren auch sozial die Schwächeren und Unterlegenen.

Der spätere Erzbischof Conrad Gröber berichtet über diese Kämpfe: "Wir wissen es aus der eigenen bitteren Erfahrung, wieviel Jugendglück in jenen rauhen Jahren zerstört wurde, wo die reicheren altkatholischen Kinder die ärmeren katholischen Kinder abstießen, ihre Geistlichen und sie mit Übernamen belegten, sie durchprügelten und in Brunnentröge tauchten, um sie wiederzutaufen. Wir wissen leider auch aus der eigenen Erfahrung, wie selbst die altkatholischen Lehrer die Schafe von den Böcken schieden, die katholischen Schüler mit dem Kosenamen 'schwarze Siechen' belegten und es handgreiflich fühlen ließen, daß man nicht ungestraft auf römischen Pfaden wandeln dürfe. Sie waren ja alle bis auf einen abgefallen und mußten sich den Altkatholiken anschließen, wenn sie in Meßkirch eine definitive Stelle erhalten wollten. Es hat sich auch viel später noch gezeigt, daß man nur durch Religionswechsel ein Ämtchen in der Ablachstadt erobern könne." (zit. nach Safranski, S. 19)

Die Unterlegenheit der "Römischen" äußerte sich auch in der Tatsache, daß die Regierung den Meßkirchener Altkatholiken ein Mitbenutzungsrecht an der Stadtkirche St. Martin zugesprochen hatte, und jene sich gegen das Sakrileg nicht anders zu wehren wußten als auszuziehen: Sie zogen 1875 in einen alten Speicher, in dem Heideggers Vater auch seine Werkstatt hatte, und den sie mit Hilfe der Beuroner Mönche zu einer "Notkirche" umbauten. Dort wurde Martin auf den Namen der Kirche getauft, die man unter so demütigenden Umständen hatte verlassen müssen.

Safranski erläutert: "Der Gegensatz zwischen den 'Römischen' und den Altkatholiken zerriß die Stadtgemeinde in zwei Lager. Die Altkatholiken - das waren die 'besseren Kreise', die 'Liberalen', die 'Modernen'. Aus deren Sicht galten die 'Römischen' als die Fußkranken des Fortschritts, beschränkte, zurückgebliebene kleine Leute, die am überlebten kirchlichen Brauchtum festhielten. Wenn die 'Römischen' zum Frühjahrs- und Herbstsegen auf die Felder hinauszogen, blieben die Altkatholiken zu Hause, und die Kinder aus ihren Familien warfen mit Steinen nach den Monstranzen.

In diesen Konflikten erlebte der kleine Martin zum erstenmal den Gegensatz zwischen Tradition und Moderne. Er erfuhr das Kränkende dieser Modernen. Die Altkatholiken gehörten zu 'denen da oben', und die 'Römischen', obwohl in der Mehrheit, mußten sich als Unterlegene fühlen. Um so fester schlossen sie sich in ihrer Gemeinschaft zusammen." (Safranski, S. 20)

Doch es war nicht nur der Gegensatz zwischen Tradition und Moderne, den der junge Martin Heidegger hier erfuhr. Die Lektion, die er vor allem lernte, hieß: Lasse deinen Stolz nicht brechen, gehe deinen Sonderweg, auch wenn du gedemütigt wirst. Und vor allem: zeige keine Scham! Wie peinlich es ist, eine Niederlage eingestehen zu müssen, das konnte er unmittelbar aus dem Fortgang des geschilderten Konflikts erfahren: Als gegen Ende des Jahrhunderts die Zahl der Altkatholiken zurückging und die bisher allein von ihnen benutzte Kirche an die Romtreuen zurückgegeben werden mußte, schämte sich der altkatholische Küster derart, daß er die Kirchenschlüssel nicht dem Küster der "Römer", Heideggers Vater, persönlich übergab, sondern sie dem 6-jährigen Sohn zusteckte. Dieser mag innerlich triumphiert und sich geschworen haben, zeitlebens zu den Beschämenden, nicht aber zu den Beschämten zu gehören.

Solcher Stolz lag durchaus in der Familie, die zwar vielfach in ihrer bäuerlichen Eigenart dargestellt wird, nicht aber in der darin angelegten Psychodynamik. Denn hinter dem idyllischen Klischee vom alemannisch-bodenständigen Eigenbrötlertum verbirgt sich im Falle der Familie Heidegger eine verbissene Ambition, die sich – nachdem es die Eltern nicht weit haben bringen können – ganz auf die Karriere der Söhne konzentrierte.

Insbesondere Martin sollte etwas 'Besseres' werden. Man aktivierte die vorhandenen Beziehungen und erlangte über den Stadtpfarrer Brandhuber und den Präfekten des Konstanzer Konvikts, Konrad Gröber, den späteren Erzbischof in Freiburg, ein kirchliches Stipendium für den Besuch des Gymnasiums. Hier, im Konstanzer Konvikt, erfuhr Heidegger ein zweites Exerzitium für die Umwandlung einer objektiv demütigenden Situation in eine Überlegenheit des eigenen Sonderwegs – und damit für das Prinzip der Schamvermeidung unter beschämenden Umständen. Die Konviktler, die im sogenannten "Konradihaus" lebten, waren gegenüber den Mitschülern am öffentlichen Gymnasium sowohl zahlenmäßig als auch sozial unterlegen. Sie wurden, wie Safranski schreibt, "so gut es ging, gegen die Freigeisterei in der Schule immunisiert. Sie bekamen apologetischen Schliff, wurden präpariert für die Händel mit den 'Weltlichen'. Reihum hatten sie Vorträge auszuarbeiten, in denen sie sich gewappnet zeigen mußten. Da ging es beispielsweise um die Frage, ob der Mensch tatsächlich aus eigener Kraft zur Humanität gelangen könne und wo die Grenzen der Toleranz lägen; über Freiheit und Erbsünde wurde gesprochen und das Problem erörtert, ob Goethes Iphigenie eine heidnisch-christliche oder eine christlich-deutsche oder eine nur heidnische Gestalt sei. Von solchen Streitfragen durfte man sich erholen bei den heimatkundlichen Themen, der Geschichte des Klosters Reichenau, den Sitten und Gebräuchen des Hegau, den urzeitlichen Pfahlbürgern am Bodensee. Manchmal ging es bei den Konviktlern auch jugendbewegt zu: an sonnigen Tagen wanderte man mit Klampfe und Gesang hinaus ins Grüne, auf die Mainau, zum Grafengarten in Bodman und zu den Weinbergen am Untersee. Man übte Dialektstücke ein, musizierte, und wenn die weltlichen Mitschüler mit ihren Besuchen bei den Künstlerinnen vom Theater renommierten, konnten die Konviktler von ihrem letzten Krippenspiel berichten. 'Mucker' allerdings waren die Konviktler nicht: sie wählten, wie sollte es im Badischen anders sein, ein Repräsentativorgan, das beratende Stimme bei der Leitung des Hauses hatte, und gaben eine Zeitung heraus, die in regelmäßigen Abständen daran erinnerte, daß Baden als erstes deutsches Land die Pressezensur aufgehoben habe.

Die Konviktler lebten unter sorgfältiger, aber offenbar nicht unduldsamer Aufsicht. Martin Heidegger blickte jedenfalls ohne Zorn auf seine Konstanzer Jahre zurück. Dem damaligen geistlichen Präfekten für die unteren Klassen, Matthäus Lang, schrieb er 1928: 'Ich denke gern und dankbar an die Anfänge meines Studiums im Konradihaus zurück und spüre immer deutlicher, wie stark alle meine Versuche mit dem heimatlichen Boden verwachsen sind. Es ist mir noch deutlich in Erinnerung, wie ich zu Ihnen als damaligem neuen Präfekten ein Vertrauen faßte, das geblieben ist und mir den Aufenthalt im Hause zur Freude machte.'

Weniger erfreulich war für die Konviktler der Umgang mit ihren 'freien' Mitschülern am Gymnasium, besonders wenn diese aus den besseren Kreisen stammten. Diese Söhne von Advokaten, Beamten und Kaufleuten fühlten sich den 'Kapaunern', wie sie genannt wurden, überlegen. Die Konviktler kamen ja zumeist vom Lande und, wie auch Martin Heidegger, aus bescheidenen oder gar ärmlichen Verhältnissen. Günther Dehn, Sohn eines Oberpostdirektors, erinnert sich: 'Wir haben die 'Kapauner' immer etwas von oben herab behandelt. Sie waren schlecht gekleidet und, wie wir meinten, auch nicht recht gewaschen. Wir dünkten uns etwas Besseres. Das hinderte uns aber nicht daran, sie gründlich auszubeuten. Sie wurden dazu angehalten, ihre Hausarbeiten aufs sorgfältigste zu erledigen. So mußten sie denn in der Pause uns vorübersetzen, was sie immer willig taten.'" (Safranski, S. 26f.)

Die Behandlung durch die reichen und freien Mitschüler war nicht die einzige Quelle der Dauerbeschämung. Daneben – nach außen nicht sichtbar – schämte Heidegger sich seiner finanziellen Abhängigkeit von der Kirche, ohne deren Stipendien er nicht das Gymnasium hätte besuchen können. Das Bedürfnis, aus dieser beschämenden Situation der Unterlegenheit und Abhängigkeit auszubrechen, muß in dem Maße gewachsen sein, wie er es dabei doch zugleich gelernt hatte, die Widrigkeiten und Kränkungen eines Sonderwegs voller Stolz durchzustehen. Der Ehrgeiz seiner Eltern trug ein übriges dazu bei.

Die letzten drei Schuljahre verbringt er am Bertoldgymnasium, das zum erzbischöflichen Gymnasialkonvikt St. Georg in Freiburg gehörte. Da das bisher erhaltene Stipendium für die Internatskosten nicht reicht, bemühen sich seine Meßkircher Mentoren um eine neue Geldquelle. Heidegger erweist seine Dankbarkeitsverpflichtung durch großen Fleiß und bekundet den Wunsch, nach dem Abitur in den Jesuitenorden einzutreten. Der Rektor schreibt ihm ins Abschlußzeugnis: "In der Wahl des theologischen Berufs sicher und zum Ordensleben geneigt, wird er sich wahrscheinlich um Aufnahme in die Gesellschaft Jesu melden" (zit. nach Safranski, S. 29). Das Abitur machte dem intelligenten Schüler offenbar keine großen Probleme. Gerade deshalb ist es merkwürdig, daß er im Alter von einem häufig wiederkehrenden Traum berichtet, in dem er die Abiturprüfung ablegen muß, und zwar vor genau den Lehrern, die ihn am Bertoldgymnasium prüften (vgl. Safranksi, S. 467). Wenn aber die Befürchtung mangelnder fachlicher Kompetenz nicht bestand, so ist zu fragen, was ihn so tief beeindrucken konnte, daß ihn dennoch der Traum dieser Prüfungsangst zeitlebens verfolgte? Stand mit der Abiturprüfung ein anderes Geprüftwerden in Verbindung, das er fürchtete?

Einen Hinweis gibt die folgende Episode, die wir für das Schlüsselereignis in Heideggers Leben ansehen und deshalb ausführlich untersuchen: Nach dem Abitur bemüht sich Heidegger tatsächlich um die schon lange ersehnte Aufnahme in die Gesellschaft Jesu; doch dieser erste Schritt ins öffentliche Leben scheitert. Selbst in den ausführlichsten Biographien werden die merkwürdigen Umstände dieser Episode kaum hinterfragt.

Die Informationen sind allerdings auch spärlich: Dokumentiert ist lediglich ein knapper Randvermerk im Eintrittsbuch des Noviziats Tisis: "dim. 13.10.09". Das Kürzel "dim." steht für "dimissus", das heißt Entlassung aus der Kandidatur, bereits 14 Tage nach dem Eintritt. Was war geschehen?

Von Heidegger selbst erhalten wir keine Auskünfte. In seinem Lebenslauf, den er für das Habilitationsverfahren 1915 schrieb, wird die Tisis-Episode unterschlagen und der Eindruck erweckt, als sei er direkt vom Gymnasium auf die Universität Freiburg übergewechselt. Hier kann er freilich nicht umhin, auf eine Parallelsituation einzugehen, den Abbruch seines Theologiestudiums. Und dessen Begründung wirft einiges Licht darauf, wie er seine Jesuiten-Kandidatur dargestellt wissen möchte: als physische, keineswegs psychologische Problematik. Er schreibt: "Die eingehende Beschäftigung mit philosophischen Problemen neben den Aufgaben des eigentlichen Berufsstudiums hatte nach drei Semestern eine starke Überarbeitung zur Folge. Mein frühes durch zuviel Sport entstandenes Herzleiden brach so stark aus, daß mir eine spätere Verwendung im kirchlichen Dienst als äußerst fraglich hingestellt wurde." (zit. nach Ott, S. 86)

Diese Selbstdarstellung wird von den meisten Biographen auch für die Erklärung der Entlassung aus dem Noviziat herangezogen. So schreibt Hugo Ott: "Am 30. September 1909 trat Heidegger in das Noviziat der Gesellschaft Jesu in Tisis bei Feldkirch (Vorarlberg) ein – damals existierte im Gebiet des Deutschen Reiches noch keine Organisation der Jesuiten –, zugelassen vom seinerzeitigen Provinzial P. Thill. Am 13. Oktober 1909 jedoch ist der Kandidat ohne Angabe von Gründen wieder entlassen worden, wie dem Eintrittsbuch des Noviziates Tisis, heute aufbewahrt im Noviziat der Oberdeutschen Provinz der Jesuiten in Nürnberg, zu entnehmen ist. Dem eigentlichen Noviziat mit Gelöbnis geht eine Kandidatur von vierzehn Tagen voraus, während welcher die Kandidaten noch nicht eingekleidet werden und am Leben der Gemeinschaft nur eingeschränkt teilnehmen. Heidegger verließ exakt am Ende der zweiwöchigen Kandidatur das Noviziat. Einem gut belegten Ondit zufolge, das bei den Jesuiten gilt, habe bei einer Wanderung auf das 'Älple' in der Nähe von Feldkirch Heidegger über Herzbeschwerden geklagt; er sei also wegen der schwachen gesundheitlichen Konstitution entlassen worden - eine sehr plausible Erklärung, wie es unten noch deutlich werden wird. Es wäre also nicht Heideggers Entschluß gewesen, sondern die Entscheidung der Jesuiten. Einwandfreie gesundheitliche Verfassung und entsprechende Belastbarkeit waren Grundvoraussetzungen für das Ordensleben, aber auch für die Tätigkeit als Weltgeistlicher. Der Aspirant Heidegger hatte eine erste Warnung erhalten: unzureichende physische Konstitution." (Ott, S. 59)

Safranski übernimmt diese Version von Ott, wendet sie aber vosichtig ins Psychologische: "Zwei Wochen später, nach Ablauf der Probezeit, wird er bereits entlassen. Offenbar habe Heidegger, so berichtet Hugo Ott, über Herzbeschwerden geklagt und sei deshalb aus gesundheitlichen Gründen wieder nach Hause geschickt worden. Diese Beschwerden werden sich zwei Jahre später wiederholen und dann den Abbruch der Priesterausbildung veranlassen. Vielleicht hatte sich damals das Herz gewehrt gegen die Pläne des Kopfes." (Safranski, S. 30)

Deutlicher psychologisch wird Farías in seinen Spekulationen: "Heidegger beschloß 1909, in das Jesuiten-Noviziat von Tisis bei Feldkirch einzutreten. Im Eintrittsbuch ist nachzulesen, daß er sich dort nur kurze Zeit aufhielt: am 30. September eingetreten, verließ er das Noviziat am 13. Oktober wieder, ohne die niederen Weihen empfangen zu haben. Das bedeutete jedoch keineswegs, daß er auf seine Absicht verzichtet hatte, Priester zu werden, denn er wechselte unmittelbar danach in das Theologische Konvikt des Erzbistums Freiburg, wo er bis 1911 studierte. Aus den Akten geht hervor, daß Heidegger aus den nämlichen Gründen darauf verzichten mußte, seine Studien in Freiburg fortzusetzen, die ihn bereits veranlaßt hatten, das Jesuiten-Noviziat zu verlassen: Er litt unter psychosomatisch bedingten Herzrhythmus-Störungen. Obwohl er sich einer speziellen Therapie unterzog, keine schwere Arbeit verrichten durfte und von Schulwanderungen sowie von sportlichen Schulveranstaltungen dispensiert worden war, mußte er Mitte Februar 1911 seine Studien erstmals unterbrechen, um sich in Meßkirch zu erholen. Die Beschwerden traten nach seiner Rückkehr nach Freiburg erneut auf, so daß er das Konvikt endgültig verließ.

Das klinische Bild der Symptome des jungen Jesuitennovizen und dann des Seminaristen wird einigermaßen durchsichtig, wenn man es mit der ideologischen und sozialen Konfliktsituation in ein Verhältnis setzt, in der er sich seit Beginn seiner Studien in Konstanz befand. Tatsächlich treten Herzbeschwerden ohne physiologische Ursache vor allem bei Patienten auf, die Konflikten ausgesetzt sind, die sie nicht bewußt zu beheben vermögen. Angesichts einer Entscheidung, die sie weder wünschen noch wirklich gutheißen, signalisiert die psychosomatische Reaktion die unbewußte Ablehnung der Entscheidung sowie das Verlangen, sie rückgängig zu machen. Symptome dieser Art treten häufig bei mehr oder weniger dramatischen Konflikten in der Vater-Sohn-Beziehung auf. Dies legt die Vermutung nahe, daß die Bestimmung des jungen Heidegger zum Priester, die von seiner Familie und insbesondere von seinem Vater für ausgemacht gehalten wurde, bei ihm sehr früh innere Spannungen auslöste, die durch äußere, dem kirchlichen Ideal widerstreitende Einflüsse verstärkt wurden. Auch mögen hierbei die traurigen sozialen Erfahrungen auf dem Gymnasium in Konstanz eine Rolle gespielt haben. Die außergewöhnlich guten Noten, die Heidegger vorher als Gymnasiast in Konstanz bekommen hatte, sowie seine spätere Sportbegeisterung (insbesondere für das Skilaufen) begründen den Verdacht, daß seine Herzbeschwerden mit dem unbewußt nicht akzeptierten Aufenthalt im Jesuitenseminar und Theologischen Konvikt zusammengehangen haben. Man mag in dieser ungelösten Problematik (neben dem repressiven Stil der damaligen Anstaltserziehung) einen der Gründe ebenso für die Distanz Heideggers zur Kirche während der Weimarer Republik und des NS-Regimes wie für seine Nachsicht ihr gegenüber am Ende seines Lebens vermuten." (Farías, S. 59f.)

Bei dieser Version fällt auf, daß Farías der Kürze des Aufenthalts kein besonderes Gewicht beimißt und die Gepflogenheiten bei Eintritt in das Jesuiten-Noviziat wenig beachtet. Die 14 Tage, an denen Heidegger in Jesuitenträume verfiel, sind eine Art persönlicher Vorstellung, bei der der Novizenmeister die Bewerber und diese ihn etwas näher kennenlernen sollten als es anhand des Gesuches des Petenten und meistens auch der Empfehlung von Geistlichen gegeben war. Diese zwei Wochen sind aber nicht zum Empfang niederer Weihen bestimmt – wie Farías offenbar meint. Die niederen Weihen sind erst nach einem zweijährigen Noviziat und mehrjährigen Studien fällig.

Der psychosomatische Deutungsversuch von Farías unterstellt, daß Heideggers Herzbeschwerden auf eine unbewußte Distanznahme zur Kirche zurückzuführen seien und sich entsprechend lösten, als er sich endgültig von ihr emanzipierte. Wenn diese Deutung stimmig wäre, müßten die Herzbeschwerden damit abgetan sein. Doch sie werden auch später angegeben – etwa im Oktober 1914, um zunächst die Entlassung aus dem Militärdienst zu erwirken – und ein Jahr später in die Postüberwachungsstelle versetzt zu werden und so den Frontdienst zu vermeiden (vgl. Ott 85).

Aber waren sie ein Grund für die Verhinderung einer Jesuitenlaufbahn? Ein enger Freund Heideggers, der 90 Jahre alt gewordene Jesuit und Philosophieprofessor Johannes Baptist Lotz, bezweifelt diese Darstellung: "… der Grund war, wie man hörte, schwache Gesundheit, was bei dem hohen Alter, das Heidegger erreicht hat, etwas sonderbar klingt." (Lotz, S. 155)

In der Tat läßt sich schwer nachvollziehen, warum eine Jesuitenlaufbahn physisch anstrengender sein sollte als die an einer Universität, die Heidegger dann mit großer Energie betrieb, nebenher jede Gelegenheit zum Sport wahrnahm und bis ins hohe Alter den beschwerlichen Weg auf seine Hütte machte, wo auch kräftige Besucher nur keuchend anlangten. Weder Heidegger noch sein Novizenmeister können geglaubt haben, eine normale Jesuitenlaufbahn sei mit größeren Belastungen verbunden als die akademische. Eine genauere Nachprüfung der Entlassungsgründe empfielt sich daher, zumal bekannt ist, daß die Aufnahmekontrollen in jedem Noviziat wie auch in den theologischen Konvikten sehr gründlich gewesen sind. Überdies galt der Novizenmeister P. de Chastonay, wie wir von P. Grünewald wissen, als ein sehr erfahrener Mann, der gewiß tieferliegende Gründe für die Entlassung gesehen haben dürfte als die von Heideggers Biographen indirekt aus seiner späteren Selbstdarstellung geschlossenen Herzbeschwerden.

Daß Heidegger selbst vermeidet, den Vorfall in seinem Lebenslauf zu erwähnen, deutet darauf hin, daß der Novizenmeister noch ein anderes, intimeres Motiv gesehen haben muß als das von Heidegger immer wieder bereitwillig zur Erklärung angebotene. Was aber kann dieses psychologische Motiv gewesen sein?

Vergegenwärtigen wir uns dazu noch einmal die Umstände, unter denen Heidgger nach Tisis ging: Nach einer kirchlich finanzierten Schulausbildung, die von der demütigenden Erfahrung begleitet war, zu den sozial Unterlegenen zu gehören, die man verspottete und beschämte, bot sich nun die Perspektive, in eine öffentlich hoch angesehene Organisation einzutreten und damit von einem Almosenempfänger der Kirche zu ihrer Elite aufzusteigen. Es war ein von Heidegger heiß ersehntes Ziel, in den – hinsichtlich seiner wissenschaftlichen wie gesellschaftlichen Reputation – renommierten Orden einzutreten. Das zeigt sich auch daran, daß die geographisch und atmosphärisch wesentlich näher liegende Alternative, in das alemannisch anheimelnde Benediktinerkloster in Beuron einzutreten, offenbar nicht in Betracht kam. Dies wiederum deutet auf einen ausgeprägten Ehrgeiz, der bekanntlich von den Eltern kräftig geschürt und von seinem Pfarrer, der ihm für die Aufnahme ins Gymnasium Lateinunterricht gegeben hatte, zumindest unterstützt wurde.

Dieser Ehrgeiz dürfte von einem erfahrenen Novizenmeister, der P. Paul de Chastonay war, leicht zu diagnostizieren gewesen sein, zumal es nicht selten ist, daß Ehrgeizlinge an die Pforten eines Jesuiten-Noviziats anklopfen. Das Problem ist allen Ordensmeistern bekannt. In ihren Lebensberichten sind die Schwierigkeiten nachzulesen, sich dieser Klientel zu entledigen, sofern sie nicht zur Demut erzogen werden kann. Die schlechteste Methode, einen übermäßig ehrgeizigen Schüler loszuwerden, ist gewiß die, ihm direkt zu sagen, er sei zu ehrgeizig. Dieser wird alles daran setzen, das Gegenteil zu beweisen, und in dieser Verkrampfung sein spirituelles Ziel erst recht aus den Augen verlieren. Wie erleichtert muß daher Heideggers Novizenmeister gewesen sein, als er in dessen Herzbeschwerden einen willkommenen Anlaß fand, ihm den Austritt nahezulegen. Hätte er es mit einem Menschen zu tun gehabt, der durch die Tiefe seines Glaubens überzeugt, hätte er ihn nicht nach 14 Tagen wegen Herzbeschwerden aufgegeben. Und Heidegger war seinerseits viel zu intelligent, als daß er um den eigentlichen Entlassungsgrund nicht gewußt hätte.

Die Kränkung muß sehr tief gegangen sein. Und die erst später, im Zusammenhang mit dem Abbruch des Theologiestudiums berichteten Herzbeschwerden dürften denn auch weniger der Grund für die Entlassung aus dem Noviziat gewesen sein als vielmehr die Folge eines gekränkten Ehrgeizes. Heidegger war aus dem Rhythmus geraten und sein Körper reagierte mit Herzrhythmusstörungen.

Fortan muß er fürchten, Prüfungen seines privaten Selbst nicht gewachsen zu sein. Hier liegt ein weiterer Grund für dessen Abspaltung und Einkapselung in eine Verschrobenheit, mit der er sich gegen weitere Einblicke in sein Inneres abschirmt. Er wird Mitglied im "Gralsbund", einer strikt antimodernistischen Gruppierung der katholischen Jugendbewegung, und schreibt Artikel in konservativen katholischen Zeitschriften, die die Idee der Herkunft an abstruse Leitbilder mittelalterlicher oder barocker Querköpfe binden. Diese Identifikationshaltung kommt etwa in seinem Bericht über die Enthüllung eines Denkmals für den Hofprediger Abraham a Santa Chiara zum Ausdruck. Darin lobt er das Dorf mit seinen "eigenbrötlerischen Bewohnern" und nennt dessen Kirchturm einen "Sonderling", womit er zweifellos sich selbst porträtiert (Safranksi, S. 34)

Die von ihm gepflegte Sonderlingshaftigkeit hat den Zweck, den Mangel des Privaten unsichtbar zu machen, indem alles, was daran erinnert, zum Verschwinden gebracht wird. In dieser Hinsicht aufschlußreich ist sein Essay 'Per mortem ad vitam' über den dänischen Literaten Johannes Jørgensen. Darin heißt es: "Und willst du geistig leben, deine Seligkeit erringen, dann stirb, ertöte das Niedrige in dir, wirke mit der übernatürlichen Gnade und du wirst auferstehen. Und so ruht er jetzt, der willensstarke, hoffnungsfrohe Dichterphilosoph im Schatten des Kreuzes…" (zit. nach Ott, S. 64). Doch diese Worte des späteren Dichterphilosophen Heidegger, die ein eigenes Lebensprogramm umreißen, zeigen schon an, daß er es nicht im Feld der Theologie wird realisieren können: Wer das "Niedrige" in sich abtötet, tötet das Private und entzieht sich damit den Boden des Glaubens.

Reflexionen im Krisenjahr 1911 über die Unmöglichkeit, durch das "Kleine", durch Bescheidenheit und Demut voranzukommen (vgl. Ott, S. 70), führen schließlich zum Abbruch des Theologiestudiums und damit der Priesterlaufbahn. Die Herzbeschwerden werden als Grund dafür angegeben, daß ihm der Konviktarzt "vollständige Ruhe" verordnet. Der Grund der Unruhe aber ist Heideggers gebrochener Ehrgeiz. Johannes Baptist Lotz bemerkt dazu: "Als er sich nach zwei oder drei Semestern allein der Philosophie zuwandte, fiel, wie mir der Bruder Fritz erzählte, für seine Eltern ein Himmel ein. Sie hatten auf ihren Sohn Martin, der so ein gescheiter Mensch war und ein so gutes Abitur gemacht hatte, große Hoffnungen gesetzt. Sie meinten, er könne einmal vielleicht Erzbischof, wohl aber Weihbischof und damit ein berühmter Mann werden. Das Aufgeben des Theologiestudiums beraubte sie dieser Aussicht und bedauernd sagten sie, es sei halt nichts mit dem berühmten Sohn!" (Lotz, S. 155)

Die Eltern ahnten nicht, daß Heidegger längst damit beschäftigt war, den ihm von der Kirche gesteckten Rahmen zu überschreiten, die Kränkung der Abweisung in einen Triumph zu verwandeln, nachdem er auch im Theologiestudium nicht schnell genug zum Gipfel aufsteigen konnte, da er sich einer Gemeinschaft zu fügen hatte. Er betreibt gezielte "Karriereplanung" (Safranski, S. 58), die ihn in den Augen anderer zum größten und "überragenden Denker seit Heraklit" (Eucken, zit. nach Ott, S. 165) machen sollte.

Ratgeber auf diesem Weg ist sein Freund Laslowski, der ihm Briefe schreibt wie diesen: "Liebster, ich habe das Gefühl, daß Du so zu den ganz Großen heranwachsen wirst, um den sich die Universitäten reißen werden. Unter dem darf es auch nicht sein." Und er gibt ihm eine Empfehlung, die zu Heideggers Lebensmaxime wird: "Es wäre meines Erachtens gut, Du umgibst Dich für längere Zeit mit einem etwas geheimnisvollen Dunkel und machst 'die Leute' neugierig. Du hast es dann leichter." (nach Ott, S. 75f.).

Seinen Bruch mit dem "System des Katholizismus" begründet Heidegger entsprechend damit, daß er "zu stark empfunden" habe, "was das katholische Mittelalter an Werten in sich trägt" (zit. nach Safranski, S. 133). Heidegger kann sich nicht mehr in die Glaubensgemeinschaft fügen, die ihn ein ums andere Mal zum Sonderling gemacht und damit gedemütigt hatte; er sucht zum Schutze seines privaten Selbst eine Orientierung an Werten, die mindestens ebenso entrückt sind wie das katholische Mittelalter. Nachdem er seine Frau Elfriede 1917 katholisch getraut hatte, ließ er diese katholische Einsegnung bereits wenige Wochen später durch eine protestantische Trauung aufheben, um durch diese "große konfessionelle Kehre", wie Ott schreibt, seine Abkehr von einer Glaubenspraxis zu unterstreichen, die die "Unmittelbarkeit des religiösen Erlebens und das Irrationale der Mystik von Bernhard von Clairvaux bis zu den spanischen Mystikern des 16. Jahrhunderts" preisgegeben hatte (Ott, S. 355).

Als junger Privatdozent entwickelt er eine Spache, die mit Begriffen wie "Ruinanz, Prästruktion, Larvanz, Reluzenz" nicht so sehr von "neusachlicher Distanzierungslust" zeugt, wie Safranski meint (Safranski, S. 139), sondern Ausdruck einer Verschrobenheit ist, die von dem Blick in sein Inneres ablenken soll. Während seiner Kandidatur für das Noviziat war ihm das nicht gelungen. Man hatte ihm dort die Einkleidung, das Symbol der öffentlichen Anerkennung, verwehrt. Nun beginnt er "in eigenartigen Bauernkitteln aufzutreten" (Safranski 139), und gibt sich damit selbst die schützende Einkleidung. Später läßt er sich von dem Maler Otto Ubbelohde einen Lodenanzug mit Kniebundhosen entwerfen, der als "existentieller Anzug" die studentische Aufmerksameit auf sich zieht. Analog weist er die Idee eines "wahren Selbst" philosophisch zurück, die nun unter dem Stichwort der "Eigentlicheit" eine hinlänglich entrückte Einkleidung erhält (Safranski, S. 143).

In gleichem Maße aber wächst seine paranoide Angst vor negativen Bewertungen seiner Person. Schon bei der Besetzung des Lehrstuhls für katholische Philosophie 1916, auf die er sich Chancen ausrechnete, fühlte er sich zu unrecht durch eine Intrige hintergangen. Der angegebene Grund für seine Nichtberufung traf genau seinen wunden Punkt: "Mangel an Persönlichkeit" (zit. nach Safranski, S. 89). Damit wiederholt sich die einstige Kränkung durch den Novizenmeister, die ihn zeitlebens verfolgen wird, und die er etwa durch die Charakterisierung des Jesuitismus als "teuflisch" (Brief an Elisabeth Blochmann v. 22.6.1932) und durch den Aufruf, der "öffentliche Sieg des Katholizismus" dürfe "auf keinen Fall bleiben" (Brief vom Februar 1934 an den Reichsführer der Deutschen Studentenschaft) paranoid abwehrt. Als er, der sich über das angebliche "Komplott" seiner Nichtberufung von 1916 lautstark beschwert hatte, sieben Jahre später endlich an sein Ziel kommt, hat er für den unterlegenen Konkurrenten nur beißenden Spott übrig: "So eine Jämmerlichkeit an Menschenwesen ist mir noch nie begegnet – jetzt läßt er sich bemitleiden wie ein altes Weib – die einzige Wohltat, die man ihm erweisen könnte, wäre, ihm heute noch die venia legendi zu entziehen." (Safranski, S. 155)

Die aggressive Sprache verrät die Ambition, die nun auch vor seinem Lehrer Husserl nicht mehr haltmacht und die eigene Erlöserattitüde auf diesen projiziert: "das will heute in Berlin die Welt erlösen!" (Safranski, S. 56) – Heidgger ist es, der die Welt erlösen will. Und für dieses Ziel wird er Stufe um Stufe steigen…

 

 

b) Verstiegenheit – Der Holzweg zum Rektorat 1933/34

 

 

Der Aufstieg zum zunächst "heimlichen König der Philosophie", wie er schon vor seiner Berufung nach Marburg genannt wurde, zum größten Denker des Abendlandes, wird agressiv vorangetrieben. Er gründet eine "Kampfgemeinschaft" mit Jaspers, will Nicolai Hartmann "die Hölle heiß machen" durch einen "Stoßtrupp" seiner Anhänger und polemisiert intern gegen die "Trivialitäten" seines  Lehrers Husserl (Safranski, S. 156).

Der Preis für diese aggressive Selbstinszenierung ist eine zunehmende Abspaltung des privaten Selbst, die schon in der Kindheit begann, und sich nun – unter anderem in der Form der Verstiegenheit – immer weiter vertieft. Hugo Ott ist dieser Tendenz unter dem Stichwort der "Zerrissenheit" nachgegangen (vgl. Ott 1990).

Als Heidegger 1916 sein Verlöbnis mit einer lungenkranken Straßburgerin aufgelöst hatte, schreibt sein Freund Laslowski hellsichtig: "Ich sah, wie du von Tag zu Tag wuchsest über die Sphäre, in der 'Liebe' und 'Glück' nur gedeihen kann; ich wußte schon seit langem, daß Du wirst Wege gehen müssen – müssen, um Deinen Zielen überhaupt näher zu kommen – auf denen die 'Liebe' erfrieren muß." (Safranski, S. 90) Der Freund sieht sehr genau, welcher Weg Heidegger vorgezeichnet ist. Safranski kommentiert: "Heidegger soll emporsteigen, aus den menschlichen Niederungen, wo geheiratet wird und Familien gegründet werden, und Laslowski, der in aller Bescheidenheit sich für die Niederungen zuständig fühlt, will wenigstens ein Zeuge solcher Gipfelstürmerei werden." (Safranski, S. 91) Zwar heiratet Heidegger kurz darauf Elfriede Petri, doch ist dies für ihn eine Zweckehe ohne Leidenschaft. Sexuelles Begehren, vermittelt über die Anbetung seiner Person, erfüllt er heimlich, im Verborgenen.

An dieser Stelle ist eine kurze Skizzierung seines Verhältnisses zu Hannah Arendt nötig. Sie kam Anfang 1924, im Alter von 18 Jahren, nach Marburg, um bei Heidegger zu studieren. Die auffallend kluge junge Frau, "die mit ihrem Bubikopf und der modischen Kleidung alle Blicke auf sich zog" (Safranski, S. 166), war trotz der Selbstsicherheit, mit der sie gewöhnlich auftrat, von einer ergebenen Schüchternheit gegenüber Heidegger, für den es wiederum nichts Attraktiveres geben konnte als solche Devotion. Am 10. Februar schreibt er ihr seinen ersten Brief. Die formelle Anrede "Liebes Fräulein Arendt" weicht schon vier Tage später der vertraulichen "Liebe Hannah", um nach weiteren zwei Wochen in Formulierungen überzugehen, die vom "Beginn physischer Intimität" (Ettinger, zit. nach Safranski, S. 168) zeugen. Bemerkenswert bei dieser offenbar leidenschaftlichen Annäherung ist die Art, wie Heidegger damit umgeht: Er spaltet sie ab. Statt sich mit der illustren Geliebten öffentlich zu zeigen, was bei seinen sonstigen Verschrobenheiten durchaus nahe gelegen hätte, zieht er es vor, das Image des treuen Ehemannes nach außen hin zu wahren (wobei unter anderem die Angst vor seiner Frau eine Rolle gespielt haben dürfte). Er trifft die Geliebte heimlich und oktroyiert ihr "Spielregeln" (Safranski, S. 168), die ihr eine extreme Selbstverleugnung abverlangen. Ein ausgeklügeltes Verabredungssystem zwingt sie, an versteckten Orten auf seine Stippvisiten zu warten. Schließlich verlangt er sogar von ihr, Marburg zu verlassen, um sein Image nicht zu gefährden. Bei all dem "quält sie das Gefühl, in dieser Beziehung nicht wirklich anwesend zu sein … Sie nennt ihre Liebe 'eine starre Hingegebenheit an ein Einziges'" (nach Safranski, S. 168f.). Diese Hingegebenheit beruht, wie sie berichtet, auf seiner Selbstinszenierung als Seelenführer. Er, der von ihr angebetet wird, liest ihre Schriften nur flüchtig (vgl. Safranski, S. 168 ff.). Um so bemerkenswerter ist die Tatsache, daß Hannah Arendt auch im Rückblick feststellt, Heidegger lebe "in einer Tiefe und mit einer Leidenschaftlichkeit, die man nicht leicht vergessen kann" – wobei sie freilich die Ursache dafür gerade im Mangel seines privaten Selbst, nicht im Übermaß von Qualitäten wie Glaube und Gewissen, findet: "Was Sie Unreinheit nennen," schreibt sie am 29.9.1949 an Jaspers, "würde ich Charakterlosigkeit nennen, aber in dem Sinne, daß er buchstäblich keinen hat, bestimmt auch keinen besonders schlechten" (nach Safranski, S. 365).

Zu Heideggers Selbstinszenierung gehört die Hütte in Todtnauberg. "Dort hielt der heimliche König der Philosophie auf bündische Weise Hof." (Safranski, S.160) Und wer die Ehre hatte, ihn besuchen zu dürfen, mußte aufsteigen zu ihm, der weit aufgestiegen war – und im Begriff war, sich zu versteigen. In einem Brief an Hannah Arendt, in dem er ihr die Drucklegung von 'Sein und Zeit' mitteilt, kommt seine Überhebung über die "spießige Luft" des normalen Universitätsbetriebes, über die er sich auf seiner Hütte erhaben dünkt, sinnbildlich zum Ausduck: "Es ist schon tiefe Nacht – der Sturm fegt über die Höhe, in der Hütte knarren die Balken, das Leben liegt rein, einfach und groß vor der Seele … Zuweilen begreife ich nicht mehr, daß man da unten so merkwürdige Rollen spielen kann…" (nach Safranski, S. 173)

Und umgekehrt begriff man ihn immer weniger: "In der allgemeinen Öffentlicheit gehörte die Dunkelheit des Buches ('Sein und Zeit') zu seinem Nimbus. Es konnte offenbleiben, ob das Dasein selbst oder nur seine Analyse so dunkel sei. Auf jeden Fall wirkte das Ganze irgendwie geheimnisvoll." (Safranski, S. 178) Der sich zeitlebens geschämt hatte, ging mit der Zunahme seines Status dazu über, seinerseits zu beschämen. Er zitiert zu Beginn von 'Sein und Zeit' Platons 'Sophistes', in dem von der "Verlegenheit" gegenüber dem Verständnis des Ausdrucks 'seiend' die Rede ist. Die Weitergabe dieser Verlegenheit ist das Leitmotiv des Heideggerschen Hauptwerkes. Damit "inszeniert sich Heidegger als Protagonist einer epochalen Zäsur" (Safranski, S. 180).

Eine weitere Etappe auf seinem Aufstieg ist die Schaudiskussion mit Ernst Cassirer – in einer Szenerie, die wiederum Sinnbildcharater hat: die Diskussion findet in Davos, auf Thomas Manns "Zauberberg", statt. Dort oben genießt er die "Aufmerksamkeit, die er mit seinem unkonventionellen Auftreten im eleganten Rahmen des Grand Hotel erregte." (Safranski, S. 221) Er berichtet Elisabeth Blochmann von seinen Skilauf-Eskapaden zwischen den Diskussionen: "In schöner Müdigkeit, voll Sonne und Freiheit der Berge, noch den ganzen klingenden Schwung der weiten Abfahrten im Körper kamen wir dann immer abends in unserer Skiausrüstung mitten hinein in die Eleganz der abendlichen Toiletten. Diese unmittelbare Einheit von sachlich forschender Arbeit und völlig gelockertem und freudigem Skilauf war für die meisten der Dozenten und Hörer etwas Unerhörtes" (zit. nach Safranski, S. 222). "So", kommentiert Safranski, "wollte er gesehen werden: als strenger Arbeiter in den riesigen Steinbrüchen der Philosophie, als Verächter der eleganten Welt, als Sportsmann und Naturbursche, als Gipfelstürmer und als ein Mann der verwegnen Abfahrten" (Safranski, S. 222).

Daß er damit nur die innere Leere übertönt, den Verlust seines privaten Selbst, läßt sich auch aus seiner Philosophie entnehmen: "Langeweile" ist ein weiterer Schlüsselbegriff aus 'Sein und Zeit'. Sie verschlingt das Ich, "das sich immerhin noch dafür schämen kann, ein Langweiler zu sein" (Safranski, S. 231). Eben diese Scham muß überwunden werden. Erst in der absoluten Leere stellt sich die wahre Größe ein: "Wir müssen erst wieder rufen nach dem, der unserem Dasein einen Schrecken einzujagen vermag" (zit. nach Safranski, S. 234). Für Safranski kann kein Zweifel daran bestehen, daß Heidegger selbst es ist, der sich diese Aufgabe zutraut (vgl. Safranski, S. 234). Konsequent schließt er sich der Bewegung der Nationalsozialisten an.

Dieser Schritt hat die Zeitzeugen und Biographen immer wieder zu Spekulationen über dessen Hintergründe veranlaßt, von denen einige hier genannt seien:

 

Rüdiger Safranski:

"Im Februar 1933 ist für Heidegger der Augenblick der Tat gekommen. Die Ekstase scheint plötzlich auch in der Politik möglich zu sein. ... Aber jetzt kommt ihm die Geschichte entgegen, sie überwältigt ihn und reißt ihn mit. Er braucht nicht mehr zu springen, er könnte sich treiben lassen, wenn da nicht der Ehrgeiz wäre, selbst zu den Antreibern zu gehören. Man muß sich einschalten, sagt Heidegger zu Jaspers im März 1933."(Safranski, S. 268/69). – "Wenn Heidegger davon träumt, mit seiner Philosophie als Berg zwischen Bergen zu stehen, wenn er Wesentliches zum Stand bringen will, damit das Volk im Flachland am Ragenden der Philosophie eine Orientierungsmöglichkeit habe, dann zeigt sich darin, daß auch nach dem politischen Machtrausch Heideggers Philosophieren noch von Machtideen infiziert ist...Jetzt läßt er sie aufragen und auch seine eigene Philosophie schickt er ins Gebirg des Seyns... Die Bergmetaphorik aber weist unübersehbar daruf hin, daß Heidegger sich inzwischen mit seiner Philosophie in eine dauerhafte Welt einschreiben will. Daß er an etwas teilhaben will, das seine zufällige Existenz und die geschichtliche Situation überragt." (Safranski, S. 362) – "Sehr weit hat sich Heidegger im Jahr des beginnenden Infernos über das Seiende hinausgedacht, so weit, daß für ihn das Sein nun zu etwas wird, was es zuvor nicht war: eine vom Seienden unabhängige Bezugsgröße." (Safranski, S. 382)

 

Hannah Ahrendt:

(Paraphrase von Rüdiger Safranski:) "Heidegger fungiert als Höhepunkt des existenziellen Solipismus. Bei Heidegger habe das eigentliche Selbst das Erbe Gottes übernommen ... Übrig bleibt ein Kokettieren mit der eigenen 'Nichtigkeit', was, so deutet sie an, Heidegger anfällig gemacht habe für die Barbarei." (1946 in ihrem Essay "Was ist Existenzphilosophie?", nach Safranski, S. 428/29) – "Das Verdrehen ist unerträglich, und allein die Tatsache, daß er jetzt alles so aufzieht, als sei es eine Interpretation von 'Sein und Zeit', spricht dafür, daß alles wieder verdreht herauskommen wird." (29.9.1949 an Karl Jaspers, nach Safranski, S. 427).

 

Max Müller:

"Heidegger nennt rationale Motive. Seine revolutionäre Begeisterung aber erwähnt er nicht. Er will in der Rückschau die "Radikalität seiner Intentionen ... nicht mehr wahrhaben". (in: Martin Heidegger. Ein Philosoph und die Politk, 1988, nach Safranski, S. 269). – "...das persönliche unheroische Schicksal habe im Denken Heideggers wohl "zur mythischen Verklärung des Fronterlebnisses beigetragen". (nach Ott, S. 151)

 

Helmuth Plessner:

Mit seiner Eigentlichkeitsphilosophie vertiefe er den in Deutschland traditionellen "Riß zwischen einer privaten Sphäre des Heils der Seele und einer öffentlichen Sphäre der Gewalt". Er begünstige den "politischen Indifferentismus". Das sei eine Gefahr für "unser(en) Staat und unser Volk".(1931 Essay "Macht und menschliche Natur", nach Safranski S. 246/47)

 

Benedetto Croce:

"Ich habe endlich die Rede von Heidegger ganz gelesen, die dumm und zugleich servil ist. Ich wundere mich nicht über den Erfolg, den sein Philosophieren eine Zeitlang haben wird: das Leere und Allgemeine hat immer Erfolg. Es bringt aber nichts hervor. Auch ich glaube, daß er in der Politik keinerlei Wirkung wird haben können: aber er entehrt die Philosophie, und das ist ein Schaden auch für die Politik, wenigstens für die zukünftige." (9. September 1933 an Karl Vossler, nach Safranski, S. 292).

 

Otto Pöggeler:

"... es geht nicht um Lehrsätze und Ideen, somit nicht um das nationalsozialistische Parteiprogramm oder gar um Rassentheorien, sondern darum, daß der Kanzler einer nationalen Koalition sich über seine Partei erhebt und so erst zum Führer des Aufbruchs wird" (nach Ott, S. 161/62)

 

Ernst Krieck:

"Der weltanschauliche Grundton der Lehre Heideggers ist bestimmt durch den Begriff der Sorge und Angst, die beide auf das Nichts hinzielen. Der Sinn dieser Philosophie ist ausgesprochener Nihilismus, wie er sonst vornehmlich von jüdischen Literaten bei uns vertreten worden ist, also ein Ferment der Zersetzung und Auflösung für das deutsche Volk. In ”Sein und Zeit” philosophiert Heidegger bewußt und absichtlich um die ”Alltäglichkeit” – nichts darin von Volk und Staat, von Rasse und allen Werten unseres nationalsozialistischen Weltbildes... (1934, nach Safranski, S. 313)

 

Hugo Ott:

"Nie hat Heidegger während der Zeit des Dritten Reiches diese Sätze zurückgenommen, auch nicht die anderen. Denn: wer vermöchte der seherischen Gewalt zu entgehen? Wann wurde je ein Spruch des Delphischen Orakels widerrufen? Wann je hätte ein Gott sich geirrt, wohnend am Ort des Seins, dem Volk das Geschick seines Wesens zuschickend? Versagt sich aber ein Volk seinem Schicksal, dann geht es in die Irre, bleibt umnachtet, die Dämmerung bricht an. Doch: Wie sollte dem Denker, der in die Nähe des Ortes gelangt ist, wo das Sein anwesend ist, Schuld zugemessen werden? Wer verlangt Antwort von ihm, Ver-antwortung? Vom Medium, dessen sich das Denken bemächtigte?" (Ott, S. 162) – "Diese Aktivitäten lagen im Trend seiner Zielvorstellung: einer der geistigen Führer der Bewegung zu werden, soweit die Wissenschaftspolitik in Frage kam, vielleicht der Führer schlechthin." (Ott, S. 190/91)

 

Adolf Lampe:

"...die Rundschreiben des Rektors, deren Inhalt" als empfindliche Beeinträchtigung der vom Hochschullehrer zu fordernden und zu bewahrenden Eigenständigkeit" gewertet werden müßte. Das internationale Ansehen Heideggers verstärkt das Gewicht der Verfehlungen, dadurch habe er sich zu einer "wesentlichen Stütze der damals besonders gefährlichen Entwicklungstendenzen des Nationalsozialismus" beigetragen..." Wer so wie Heidegger das Führerprinzip durchgesetzt habe, dürfe sich jetzt nicht herausreden mit dem Hinweis auf "Quertreibereien" und mangelnde Unterstützung. (nach Safranksi, S. 389). Und was Heideggers spätere Kritik am System betrifft, so könne er, Lampe, sie nicht als "Kompensation" werten; diese sei nur zu erreichen gewesen "durch ein der Entschiedenheit seiner Rektoratsführung entsprechendes offenes Hervortreten in der Kritik unter Inkaufnahme daraus resultierender persönlicher Gefährdungen". (nach Safranski, S. 390)....später:  Heidegger handle verantwortungslos, indem er die Größe seiner Schuld verleugne, "als er unsere Universität mit brutalem Machteinsatz auf den Weg des Nationalsozialismus trieb" (23.Juli 1945 - bezugnehmend auf die Vorgänge von 1934, nach Safranski, S. 394).

Theodor W. Adorno:

"Im Namen zeitgemäßer Eigentlichkeit jedoch könnte auch ein Folterknecht allerlei ontologische Entschädigungsansprüche anmelden, wofern er nur ein rechter Folterknecht war."...Ontologie sei die zum System geronnene "Bereitschaft, eine heteronome, der Rechtfertigung vorm Bewußtsein enthobenen Ordnung zu sanktionieren". (1959, nach Safranski, S. 472).

 

Karl Jaspers:

"Ich suchte Heidegger zur Begrüßung oben in seinem Zimmer auf. 'Es ist wie 1914...', begann ich, und wollte fortfahren:'wieder dieser trügerische Massenrausch', aber angesichts des den ersten Worten strahlend zustimmenden Heideggers blieb mir das Wort im Halse stecken... Angesichts des selber vom Rausche ergriffenen Heideggers habe ich versagt. Ich sagte ihm, daß er auf dem falschen Wege sei. Ich traute seinem verwandelten Wesen gar nicht mehr. Ich fühlte für mich selbst die Bedrohung angesichts der Gewalt, an der Heidegger nun teilnahm..." (Mai 1933, nach Safranski, S. 272). – "Ich danke Ihnen für Ihre Rektoratsrede... Der große Zug Ihres Ansatzes im früheren Griechentum hat mich wieder wie eine neue und sogleich wie eine selbstverständliche Wahrheit berührt... Ich spreche nicht von Stil und Dichtigkeit, die – soweit ich sehe – diese Rede zum bisher einzigen Dokument eines gegenwärtigen akademischen Willens macht, das bleiben wird. Mein Vertrauen zu Ihrem Philosophieren [...] wird nicht gestört durch die Eigenschaften dieser Rede, die zeitgemäß sind, durch etwas darin, was mich ein wenig forciert anmutet und durch Sätze, die mir auch wohl einen hohlen Klang zu haben scheinen. Alles in allem bin ich nur froh, daß jemand so sprechen kann, daß er an die echten Grenzen und Ursprünge rührt". (23. August 1933 an H., nach Safranski, S. 292). – "Mein Schrecken wuchs, als ich das las. Das ist, soweit ich zu denken vermag, reine Träumerei, in der Reihe so vieler Träumereien, die je an der Zeit – uns dieses halbe Jahrhundert genarrt haben. Sind Sie im Begriff, als Prophet aufzutreten, der aus verborgener Kunde Übersinnliches zeigt, als ein Philosoph, der von der Wirklichkeit weg verführt?, der das Mögliche versäumen läßt durch Fiktionen?" (24.07.1952, nach Ott, S. 40) – "Heideggers Denkungsart, die mir ihrem Wesen nach unfrei, diktatorisch, communikationslos erscheint, wäre heute in der Lehrwirkung verhängnisvoll." (Gutachten vom 22.12.1945, nach Ott, S. 316) – "Er hat ein philosophisches Organ, dessen Wahrnehmungen interessant sind, obgleich er m.E. ungewöhnlich kritiklos ist und der eigentlichen Wissenschaft fern steht. Er wirkt manchmal, als ob sich der Ernst eines Nihilismus verbände mit der Mystagogie eines Zauberers". (22.12.1945 an Oehlkers, nach Ott, S. 316)

 

Herbert Marcuse:

"Nur allmählich merkten wir, daß die Konkretheit des Heideggerschen Philosophierens in hohem Grade eine scheinhafte war, daß wir es wieder mit einer Transzendentalphilosophie zu tun hatten (auf erweiterter Stufenleiter), in der die Existentialkategorien ihre Schärfe verloren, neutralisiert wurden und sich schließlich in immer höheren Abstraktionen verloren." (162) – "Heute scheint es mir schamlos, Heideggers Bekenntnis zum Hitlerregime als (kurzen) Fehltritt oder Irrtum abzutun: ich glaube, daß ein Philosoph sich einen solchen 'Irrtum' nicht leisten kann, ohne seine eigene und eigentliche Philosophie zu desavouieren." (162f.)

 

Diese Einschätzungen, zum Teil von Ratlosigkeit, zum Teil von Empörung und Entsetzen gekennzeichnet, deuten bei all ihrer Verschiedenheit doch auf einen Grundzug hin, nämlich den der Verstiegenheit. Und Heidegger ahnt schon zu Beginn seiner Anhängerschaft an den Nationalsozialismus, also um 1931 schon, daß er sich verstiegen hat. So gesteht er Jaspers, daß er sich "zu weit vorgewagt habe, über die eigene existentielle Kraft hinaus und ohne die Enge des sachlich von mir Erfragbaren klar zu sehen." (nach Safranski, S. 248). Doch er kann nicht mehr zurück. Vergleichbar einem Bergsteiger, der sich verstiegen hat, ist Heidegger im Bemühen der Schamvermeidung bereits so weit vom Weg der Verständlichkeit abgekommen, daß ihm jeder Schritt zurück lebensbedrohliche Absturzgefahr signalisieren mußte. Er hüllt sich noch mehr in Dunkel. Im Kommissionsbericht zu seiner Berufung nach Berlin 1930 schrieb Eduard Spranger: "Indessen gestehen auch seine Verehrer zu, daß von den zahlreichen Studenten, die sich zu ihm drängen, ihn kaum einer wirklich versteht. Er befindet sich gegenwärtig in einer Krise. Deren Ausgang ist abzuwarten. Ihn jetzt nach Berlin zu berufen, wäre verhängnisvoll" (zit. nach Safranski, S. 249)

Die Krise, die hier diagnostiziert wird, führt Heidegger nicht zur Selbstbesinnung, sondern zur Steigerung seiner Intention, die eigene Leere durch Selbstüberhebung zuzudecken. Philosophie, schreibt er an Jaspers, habe das Amt des "wissenden Führers und Wächters" in der "echten Öffentlichkeit" (zit. nach Safranski, S. 255). Das "Führerprinzip" – und zwar das mit Gewalt durchgesetzte (vgl. Safranski, Seite 261) wird nun zu seinem Leitbegriff – in der Philosophie wie in der Politik. Er ist nicht nur berauscht von der "Gigantomachie", die er in Platon zu entdecken meint (zit. nach Safranski, S. 265), sondern zugleich von derjenigen des Nationalsozialismus, wie Hermann Mörchen zu seinem Erschrecken bereits bei einem Besuch zum Jahreswechsel 1931/32 auf der Hütte feststellt (vgl. Safranski, S. 267).

Und der Berauschte hat den ihn kennzeichnenden "Ehrgeiz", nicht nur dazuzugehören, sondern "selbst zu den Antreibern zu gehören." (Safranski, S. 269), ja mehr noch: der einzige und auserwählte Vordenker der Bewegung zu sein. Er kann nicht mehr anders. "Beim letzten Gespäch mit Jaspers sagte er, Zorn und Wut in der Stimme, 'daß es so viele Philosophieprofessoren gebe, sei ein Unfug, man soll in Deutschland nur zwei oder drei behalten'. Als Jaspers fragte, 'welche denn?' schwieg Heidegger vielsagend." (zit. nach Safranski, S. 272)

Das Verschwiegene wird bald darauf zur Sprache finden in der Antrittsrede und den Aufrufen aus seiner Rektoratszeit. Bis dahin hatte er sich zurückgehalten. "Aber jetzt steht Heidegger da, emporgestreckt und martialisch mit Worten klirrend, der Priester ohne Botschaft, der metaphysische Sturmtruppführer, umgeben von Fahnen und Standarten; er hatte sich bei der Platon-Vorlesung hineingeträumt in die Figur des Befreiers, der die Gefangenen in der Höhle entfesselt und herausführt. Jetzt bemerkt er, daß die Höhlenbewohner alle schon auf dem Marsch sind. Er braucht sich nur noch an ihre Spitze zu setzen." (1927, Safranski, S. 290)

 

Die Rede zum Antritt des Rektorats 1933 ist eine "Kampfrede" (R. Harder, zit. nach Ott, S. 146), die drei "Bindungen" in den Mittelpunkt stellt: "Arbeitsdienst, Wehrdienst und Wissensdienst." Was Heidegger über den Wehrdienst sagt: es handle sich um eine Bindung an die "Ehre", die eine "durch Zucht gestraffte Bereitschaft zum Einsatz bis ins Letzte" verlange ('Die Selbstbehauptung der deutschen Universität', S. 15), das betrifft nicht nur den nationalen Kampf; es ist zugleich Heideggers Leitlinie für den persönlichen Kampf um Ehre, das heißt um die unbedingte Anerkennung seiner Prätention, für die er sich "bis ins Letzte" einsetzt: "Aus einem soldatischen Geist heraus ließ Heidegger den Kollegen Stieler eine Ehrengerichtsordnung für die zu gründende Dozentenschaft entwerfen, die er gutheißend der Regierung in Karlsruhe und Berlin vorlegte – ausgerichtet an der Ehrengerichstordnung für Offiziere. Maßgebend sollte sein: die Wiederherstellung des Ehrbewußtseins" (Ott, S. 151). Sein Ehrbegriff ist es auch, der ihn dazu motiviert, sich ausnahmsweise für jüdische Kollegen einzusetzen, deren Entrechtung er ansonsten aktiv betreibt. Er empfiehlt dem Kultusministerium, die weltberühmten Professoren Eduard Fraenkel und Georg von Hevesy zu verschonen, gerade weil dies "im vollen Bewußtsein von der Notwendigkeit der unabdingbaren Ausführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" geschehe", denn eine "endgültige Beurlaubung würde dem Ansehen der deutschen Wissenschaft und gerade auch unserer Grenzlanduniversität einen schweren, auf lang hin nicht wieder auszugleichenden Stoß versetzen." (zit. nach Ott, S. 198f.). Daß Heidegger in anderen Fällen gezielte politische Denunziation betrieb, wie etwa im Fall Hermann Staudinger – ist nur noch durch eine "tiefenpsychologische Auslegung" zu erklären (Ott, S. 201; vgl. 208 u. 350). Diese liegt im Ehrbegriff Heideggers selbst: das öffentliche Selbst muß um jeden Preis gewahrt sein, ohne jede "Störung" durch private Beweggründe. Für diesen Ehrbegriff ist Heidegger durchaus bereit, sich sogar gegen die Parteilinie zu stellen – im Interesse des Ansehens der Partei freilich und aus der Einsicht heraus, daß er, der Initiator der Ehrengerichtsordnung, wie kein anderer diese Interessen zu vertreten weiß. Nach einer Tagebuchnotiz des Prorektors Sauer klagte Rudolf Eucken, "Heidegger mache den Eindruck, als ob er ganz für sich nach dem Prinzip des Führersystems fuhrwerken wolle. Er fühle sich offenbar als der geborene Philosoph und geistige Führer der neuen Bewegung, als der einzige große und überragende Denker seit Heraklit" (zit. nach Ott, S. 164f.).

Mit philosophischen Inhalten hatte das nichts mehr zu tun. Heidegger hatte sich dazu verstiegen, einen unbedingten Führungsanspruch zu vertreten und in dieser Verstiegenheit fand er keinen Anschluß mehr an eine vernünftige Begründung im Denken. "Es handelt sich", wie Safranski zu recht kommentiert, "um einen philosophischen Salto mortale in die Primitivität." (Safranski, S. 272) In einem  Vortrag vor Tübinger Studenten vom November 1933 rechtfertigt er seine abstruse, haltlos gewordene Position mit den Worten: "Primitiv sein heißt aus innerem Drang und Trieb dort stehen, wo die Dinge anfangen, primitiv (zu) sein, getrieben (zu) sein von inneren Kräften." (zit. nach Safranski, S. 272)

Die inneren Kräfte, von denen Heidegger getrieben ist, sind längst nicht mehr seine eigenen. Er hat den Kontakt zu seinem privaten Selbst vollkommen verloren. Nur so ist es zu erklären, daß er selbst nachträglich seine Verstrickung in den Nationalsozialismus nicht als persönliche Schuld zurücknimmt, sondern als ein überpersönliches Schicksal verteidigt.[1] Er nennt es später zwar ein "Versehen", wird aber "dieses 'Versehen' auch wieder in eine philosophische Geschichte verwandeln, worin er sich selbst eine grandiose Rolle vorbehält: es war das Sein selbst, das sich in ihm und durch ihn geirrt hatte. Er hat den Kreuzstab der 'Irrnis des Seins' getragen" (Safranski, S. 277) Insofern ist es auch nicht ganz richtig zu sagen, Heidegger habe sich den Nationalsozialisten "angeschlossen". Vielmehr wollte er sie überbieten. Dem Blut-und-Boden-Heroismus seines Kollegen Ernst Krieck, der mit Rosenberg und Baeumler um die Rolle des führenden Philosophen der Bewegung konkurrierte, hielt er entgegen, dies sei nur ”innerste Erweckung", der eine "zweite und tiefere Erweckung" folgen müsse (zit. nach Safranski, S. 278). Der selbsternannte "Stoßtruppführer" (Safranski, S. 287) der Metaphysik preist das "völlig ungedeckte Ausgesetztsein in das Verborgene und Ungewisse", womit er zweifellos sich selbst meint und seine "Kraft zum Alleingehenkönnen" (nach Safranski, S. 287).

Allein und einzig steht er da, als er vor der Heidelberger NS-Studentenschaft eine Hetzrede gegen den noch nicht gleichgeschalteten Rektor Willy Andreas hält. Auch äußerlich setzt er sich wiederum provokant ab: ”Die Professoren waren in Amtstracht zu dieser Rede erschienen, die in großer Aufmachung in der Presse angekündigt worden war. Heidegger aber trat bündisch-jugendbewegt auf, in kurzen Hosen und mit Schillerkragen." (Safranski, S. 293) Daß man ihn ob dieser Aufmachung und seines ungestümen Auftretens auch bespöttelte, wurde ihm nicht mehr bewußt. "Die Mehrzahl der Professoren in Freiburg hielt den Rektor für einen wild gewordenen, radikalen Phantasten. Bisweilen fand man ihn auch komisch und erzählte sich die Geschichte, wie einige Studenten unter der Leitung des bereits erwähnten Philosophiedozenten und ehemaligen Korvettenkapitäns Stieler in der Lehmgrube einer Ziegelei mit Gewehrattrappen aus Holz exerzierten, und wie dann Heidegger im Wagen vorgefahren und herausgesprungen sei. Der baumlange Stieler – er maß 2,02 Meter – habe sich vor dem kleinwüchsigen Heidegger aufgebaut und militärisch korrekt Meldung erstattet, und Heidegger, der den Kriegsdienst nur bei der Postzensur und einem Wetterbataillon geleistet hatte, habe militärisch ebenfalls korrekt wie ein Kommandeur die Meldung salutierend entgegengenommen. Von solcher Art waren Heideggers Kampfszenen.”(Safranski, S. 312)

Gegner in den Kreisen der führenden NS-Wissenschaftler machte er sich also nicht durch seine moderateren Meinungen, wie Heidegger es nachträglich darstellte, sondern durch seinen offensichtlich pathologischen Übereifer, der die Bewegung in den Augen der Nazi-Ideologen zu diskreditieren drohte. Vor diesem Hintergrund ist das berüchtigte Gutachten von Erich Jaensch eben doch mehr als nur ein Pamphlet. Es will die Nazi-Oberen darauf aufmerksam machen, daß Heidegger ein "gefährlicher Schizophrener" sei, der "Banalitäten mit dem Schein von Bedeutsamkeiten" zu umgeben verstünde (zit. nach Safranski, S. 313) – was im Hinblick auf die erwähnten Bekenntnisse Heideggers zur Primitivität und Dunkelheit kaum als Übertreibung angesehen werden kann.

Hier einige Auszüge aus dem Gutachten von Jaensch: "Ein Widerspruch gegen die gesunde Vernunft würde es sein, wenn auf die für das Geistesleben der nächsten Zukunft vielleicht wichtigste Stelle einer der größten Wirrköpfe und ausgefallensten Eigenbrötler berufen würde, die wir im Hochschulleben haben... Zum obersten Erzieher unseres akademischen Nachwuchses einen Mann zu ernennen, dessen ebenso eigenbrötlerisches wie unklares, schizoformes, teilweise schon schizophrenesDenken (offenkundig ist), wird unter den Studenten. .. erzieherisch einen verheerenden Einfluß (ausüben). (Gutachten - Dozentenakademie, 1934, nach Safranksi, S. 326/27).

"Die Denkprodukte Heideggers oder vom Heideggertypus – wie man besser sagt, weil die Seuche ihrer Nachahmung schon beginnt –, sind aber nicht nur überhaupt Rabulistik gewöhnlicher Art, wie wir sie in der verklungenen Sprache reichlich kennengelernt haben, sondern eine Rabulistik, die sich bis ins geistig krankhafte übersteigert, so daß man sich jeden Augenblick fragt, was hier eben noch im normalen Sinne verschraubt und abwegig und was schon schizophrenes Gefasel ist. Da diese Denkart dann selbstverständlich von behenden Schreibfedern und geschäftstüchtigen Verlegern konjunkturgemäß ausgebeutet und propagiert wird –, womit seit den Berufungen Heideggers nach Berlin und nach München schon begonnen ist – so werden wir im Hochschulleben eine förmliche geistige Seuche, eine Art Massenpsychose bekommen" (nach Ott, S. 244)

So sehr diese Sätze die Absicht verraten, Heideggers Anbiederung an den Nationalsozialismus zu pathologisieren, vermuten sie doch nicht zu Unrecht hinter der ideologischen Nähe zur "Bewegung" persönliche Motive. Gerade sie aber muß er verbergen. Deshalb ist es ihm unmöglich, eine klare Abgrenzung von den Nazis auszusprechen. Was ihn letztlich auf Distanz gehen läßt, ist nicht Einsicht in die eigene Verstiegenheit, sondern die kränkende Erfahrung, daß er von den Nazis nicht ernstgenommen wird. Walter Gross etwa, der Leiter des rassenpolitischen Amtes de NSDAP, spricht in Bezug auf das Beispiel Heidgger von den "peinlichen Bemühungen" mancher Ordinarien, "Nationalsozialismus zu spielen" (nach Safranski, S. 314).

Das Rektorat 1933/34, in dem Heidegger sich noch einmal mit aller Unerbittlichkeit zum Führer und "echten Nazi" aufspielte, der es sich zur Aufgabe machte, "Opportunisten aufzuspüren" (Safranski, S. 320) endet, als er den auf seinen harten Kurs – mit Wehrsportübungen und Arbeitsdiensteinsätzen – eingeschworenen Kandidaten für das Dekanat der juristischen Fakultät, Erik Wolf, nicht durchsetzen kann, weil das dem Kultusministerium "zu weit geht" (Safranski, S. 317). Wie schon im Jesuiten-Noviziat, so muß Heidegger auch hier hinnehmen, daß man ihm die innere Motivation nicht glaubt. Er wird gezwungen, sich ein anderes Auditorium zu suchen, was ihn vom tagespolitischen Aktionismus zurück in die Geistesgeschichte führt.

Doch wie sollte er hier weitermachen? Wo sollte er anknüpfen, nachdem er sich mit seinem philosophischen "Salto Mortale in die Primitivität" eigentlich schon aus dem akademischen Feld herausgeschleudert hatte? Auch philosophisch hatte Heidegger sich verstiegen – etwa zu dem Satz in der vierten Auflage von 'Was ist Metaphysik?' daß "das Sein wohl west ohne das Seiende" (nach Safranski, S. 382). "Diese Verstiegenheit", schreibt Safranski, "wird er in der Ausgabe des Textes von 1949 wieder zurücknehmen; dann wird aus dem 'wohl' ein 'nie' und nun lautet der vom Höhenschwindel freie Satz, daß "das sein nie west ohne das Seiende". (Safranski, S. 382f.)

Um diese Versuche einer Zurücknahme der Verstiegenheit besser zu verstehen, sei hier Ludwig Binswangers Beschreibung des Symptoms in Erinnerung gerufen. Binswanger bezeichnet als Verstiegenheit die Tatsache, "daß das Dasein sich auf einen Weltentwurf festlegt, sich in einer Weise der Existenz festgefahren hat, von der es keinen Rückweg mehr gibt. Denn jeder Rückweg bedeutet hier die Gefahr des Absturzes in das Nichts. Ganz anders verhält es sich in der Psychopathologie. Auch sie bezeichnet eine solche Idealbildung als verstiegen, als abwegig, als lebensfremd, ja absurd. Sie spricht damit aber ein biologisches Werturteil aus. Das Recht hierzu entnimmt sie der Tatsache, daß Verstiegenheit, Lebens- oder Weltfremdheit, Absurdität usw. Verhaltensweisen sind, die bei gewissen Formen psychopathischer Konstitution oder bei Schizophrenie vorkommen. Die Bezeichnung 'verstiegen' dient hier also – ganz abgesehen von ihrem moralisch-pejorativem Beigeschmack – zur Feststellung eines Symptoms einer abnormen seelischen Konstitution oder einer Geisteskrankheit. In dieser Feststellung ist das Symptom aber auch schon auf seine Ursache zurückgeführt und erklärt. Die Daseinsanalyse fragt aber weder nach Konstitution und Krankheit noch nach ursächlicher Erklärung, vielmehr fragt sie, wie eine solche verstiegene Idealbildung aus dem In-der-Welt-sein und Über-die-Welt hinaus-sein zu verstehen und zu interpretieren ist. Wenn sie daher auf die Existenz als eine verschlossene zurückgreift, so heißt das, daß sie die verstiegene Idealbildung versteht aus einem In-der-Welt-sein, das weder von liebender noch von existenzieller Kommunikation weiß, also nicht offen ist noch auch sich in seinem ganzen Sein-können auf Welt zu entwerfen weiß, also auch nicht weltoffen ist." (Binswanger, S. 272)

Heideggers Ablehnung des Rufes nach Berlin, die er 1933 in einem Rundfunkvortrag unter dem Titel "Warum bleiben wir in der Provinz?" begründete (vgl. Ott, S. 193ff.), gehört ebenso in den von Binswanger charakterisierten Zusammenhang wie die von Jaspers diagnostizierte "Kommunikationslosigkeit" seines Denkens (Gutachten Jaspers vom 22.12.1945, zit. nach Ott, S. 316).

Der Versuch eines Rückzugs aus der Verstiegenheit beginnt mit Heideggers berühmten Hölderlinvorlesungen. Aber kann man ihn einen Rückweg nennen? Diese Frage drängt sich nicht nur deshalb auf, weil Heidegger in seinem äußeren Verhalten nicht erkennen läßt, die eigene Verstrickung in den Nationalsozialismus als schuldhaft einzusehen oder gar zu bereuen: Bei einem Italienaufenthalt 1936 trägt er, wie sein jüdischer Schüler aus der Marburger Zeit, Karl Löwith, berichtet, "demonstrativ und bekennerisch", ohne jede Verpflichtung, das Parteiabzeichen – und "es  war ihm offenbar nicht in den Sinn gekommen, daß das Hakenkreuz nicht am Platze war, wenn er mit mir einen Tag verbrachte." Löwith vertritt in dem Gespräch mit seinem Lehrer die These, dessen Parteinahme für den Nationalsozialismus liege im Wesen seiner Philosophie. "Heidegger stimmte mir ohne Vorbehalt zu und führte mir aus, daß sein Begriff von der 'Geschichtlichkeit' die Grundlage für seinen politischen 'Einsatz' sei. Er ließ auch keinen Zweifel an seinem Glauben an Hitler; nur zwei Dinge habe er unterschätzt: die Lebenskraft der christlichen Kirchen und die Hindernisse für den Anschluß von Österreich. Er war nach wie vor überzeugt, daß der Nationalsozialismus der für Deutschland vorgezeichnete Weg sei; man müsse nur lange genug 'durchhalten'." (Löwith, zit. nach Ott, S. 132). Heidegger revidiert nicht, sondern er überbietet Hitler in der richtigen Auslegung des Nationalsozialismus.

Die mangelnde Verankerung im privaten Selbst mußte zu dieser Verstiegenheit führen. Sie brachte ihm eine relative Stabilität, solange er Größeres und Größere vor sich hatte – die Jesuitenlaufbahn, den katholischen Lehrstuhl, den Lehrer Husserl und schließlich Hitler. Alle diese Stationen mußte er überwinden, und das gab ihm einen gewissen Richtungssinn. Nun aber, da er auf einem Hochplateau angekommen war, auf dem ihm selbst der "Führer" nichts mehr vormachen konnte (und wollte), ist er orientierungslos geworden.

Und das teilt sich auch seinen Hölderlin-Vorlesungen mit. Sie sind noch dunkler als alles, was er zuvor von sich gab. Ihre Sprache verfolgt nicht einen Rückweg aus der Verstiegenheit, sondern überbietet sich ein weiteres Mal: "Aus dem Scheitern des Rektorats", schreibt Safranski, "macht Heidegger das Beste: Er schreibt sich in seine Seinsgeschichte ein als Herold, der zu früh gekommen ist und deshalb in die Gefahr gerät, von seiner Zeit zerrieben und verworfen zu werden. Ein Bruder Hölderlins." (Safranski, S. 338). "Denn es will ihm scheinen, daß es auch ihm so ergangen ist wie Hölderlin. Auch er hat sich geöffnet für die 'Gewitter Gottes', auch in ihn ist der Blitz des Seyns eingeschlagen, auch er hat sich abzuplagen mit der Not der Notlosigkeit des Volkes, auch er hat ein Werk gestiftet, das noch nicht recht angenommen worden ist... Noch einmal also feiert Heidegger den großen Aufbruch. Wenn das die weltgeschichtliche Stunde Hölderlins ist, wie sollte das nicht auch die Stunde Heideggers sein!... Seine Aufgabe ist es, dem Aufbruch zu dienen durch eine andere Metaphysik, d.h. eine neue Grunderfahrung des Seyns" . (Safranski, S. 335)

Die Dunkelheit der Sprache hat dabei die Funktion, die neuerliche Selbstüberbietung zu verschleiern, die Spuren der Verstiegenheit unkenntlich zu machen. Damit läßt sie das dritte der Binswangerschen Kriterien hervortreten: die Maniriertheit.

 

 

c) Maniriertheit – Im Dickicht der Sprache

 

 

Hölderlin, sagt Heidegger, sei einer der größten, und zwar der "zukünftigste" deutsche Denker, "weil er unser größter Dichter ist", mit seiner Dichtung "dichterischer als das glatteste Versgehüpfe und Reimgeklingel eines Goetheschen Liedes oder eines anderen Singsangs" (GA, Bd. 39,6 und 16; zit. nach Schwan). In geheimnisvollem Raunen umkreist Heidegger den schizophrenen Dichter, in dem er sich selbst wiedererkennt (vgl. Safranski, S. 335). Und das "Sein", das er nun "Seyn" schreibt (vgl. Safranski, S. 333 und 354), wird für die Studenten vollends unergründlich; – einen soll er auf dessen Frage, "Herr Professor, was ist denn nun das Sein", aus dem Seminar geworfen haben. Seine Formel vom "Gebirg des Seyns" (nach Safranski, S. 363) erhält die Doppelbedeutung von "Über-treffung" und Unverständlichkeit – so wie sein Ausdruck für das Charakteristische des Lebens zwischen Konkretismus und Unklarheit schillert: er nennt es "Diesigkeit" (GA 61, 88; nach Safranksi, S. 140).

In den 1935–38 entstehenden 'Beiträgen zur Philosophie' versetzt sich Heidegger – nach dem Urteil Safranskis – "mit einem Delirium von Begriffen und einer Litanei von Sätzen in den 'anderen Zustand'" (Safranski, S. 358) – den Zustand der Ekstase, der Entrückung eines Philosophierens, dem das Dasein zur Bühne geworden ist (vgl. Safranski, S. 343). Safranski paraphrasiert Heideggers Gründe hierfür folgendermaßen: "Für das griechische Denken ist die Welt eine Szene, wo der Mensch unter seinesgleichen und unter die Dinge tritt, um dort zu handeln und zu sehen und behandelt und gesehen zu werden. Der Ort des Menschen ist ein Platz der Sichtbarkeit im doppelten Sinne: er zeigt sich selbst (und nur wenn er sich zeigt, ist er wirklich, sonst ist er in der Höhle des Privaten, ein 'Idiot') und er ist das Wesen, dem sich das übrige Seiende zeigen kann. 'Erscheinung' ist für das griechische Denken kein defizienter Modus des Seins. Sondern Sein ist Erscheinung und nichts anderes. Nur was erscheint, ist. … Der griechische Mensch hat deshalb auch das Theater erfunden, die Bühne der Welt noch einmal. Der Kosmos insgesamt hatte für ihn Bühneneigenschaften." (Safranski, S. 343)

Auf dieser Bühne agiert Heidegger mit einem Manierismus, dessen Zweck darin besteht, auf sich selbst in einer Weise aufmerksam zu machen, die zugleich von ihm ablenkt. "Es fällt auf", schreibt Safranski, "daß Heidegger nicht nur 'aus' dem Ereignis des Seinsdenkens philosophiert, sondern - fast noch häufiger - 'über' sich selbst wie über ein seinsgeschichtliches Faktum. Auf seiner imaginären Bühne sieht er sich agieren in der Rolle des Suchers, Wahrers und Wächters. Er rechnet sich zum Kreise derer, die den höchsten Mut zur Einsamkeit mitbringen, um den Adel des Seyns zu denken". (Safranski, S. 362)

Doch, wie George Steiner feststellt, geht es ihm dabei nicht um das Verstandenwerden, sondern im Gegenteil: "Es ist möglich, daß Heideggers 'Sagen des Seins', wie inbrünstig es auch von Schülern und Anhängern beschworen wird, nichts bedeutet oder sich außerhalb seiner eigenen autistischen Verzückung nicht übersetzen läßt" (Steiner, S. 111). "Ich bin nicht davon überzeugt, daß Martin Heidegger verstanden werden wollte." (Steiner, S. 56)[2]

Steiner kann sich dabei auf Sätze wie etwa diesen beziehen: "Hier wird nicht beschrieben und nicht erklärt; hier ist das Sagen nicht im Gegenüber zu dem zu Sagenden, sondern ist dieses Selbst als die Wesung des Seyns." (zit. nach Safranski, S. 359) Formeln wie die "Innigkeit jener Götterung des Gottes der Götter", die nach Safranski einen "metaphysischen Dadaismus" verkörpern (Safranki, S. 359), sind mehr als das: ein Zeichen seiner Geistesstörung, eine eigene Schöpfung, die Dunkelheit um sich verbreiten soll, sich uneinsehbar machen für Einblicke in die eigene Leere des Privaten.

Die Parallele zu dem von uns oben (Kapitel ”Geheimnis versus Unterbewußtes”) und auch im 1. Band (Matussek 1992) beschriebenen pathologischen Phänomen ist offenkundig. Dort stellten wir fest: "Das Bedürfnis, private Gedanken und Gefühle, das private Selbst zu schützen, kann bei manchen Fällen dazu führen, daß sie sogar eine eigene Sprache entwickeln. Ein Patient suchte auf diese Weise zu verhindern, daß die anderen seine privaten Tagebuchaufzeichnungen und endlosen Überlegungen verstehen könnten. Daß die zum Schutz vor dem Eindringen in seine persönlichen Gedanken und Gefühle aufgebaute Sprache von ihm fließend und fehlerfrei beherrscht wurde, habe ich in Vorlesungen wiederholt demonstriert. Auf die Frage, warum ein Verstecken des Tagebuchs nicht ausgereicht hätte, antwortete er: 'Ich wollte alle Schlupflöcher in mein Privatleben verstopfen.' Schließlich habe er ja die Alltagssprache von den anderen übernommen und sei über diese so mit ihnen verbunden, daß sie in sein Innerstes dringen könnten.

Der Versuch, alle öffentlichen Verbindungen zu den anderen zu kappen, hat also den Sinn, das eigentliche, das private Selbst abzusichern. Oder um es mit den Worten eines Patienten zu sagen: 'Ich bin nicht die Attrappe, als die ich in der Öffentlichkeit erscheine. Ich bin etwas anderes. Ich stehe da, tiefer und nicht einsehbar. Das aber muß ich vor der Öffentlichkeit schützen.'" (Matussek 1992, S. 160)

Wie erwähnt, benutzte Heidegger schon als junger Privatdozent ungewöhnliche Vokabeln wie "Ruinanz, Prästruktion, Larvanz, Reluzenz". Safranski macht zu Recht darauf aufmerksam, daß man dies nicht als eine "mit absonderlichem Vokabular aufgeputzte Beschreibung einer Trivialität" verstehen dürfe (S. 142). Denn die sprachliche Manieriertheit hat ihren philosophischen Sinn.

Sie hat aber auch ihren psychologischen Sinn. Darauf spielt Theodor W. Adorno an, wenn er an Heideggers Sprache kritisiert: "Der Jargon (der Eigentlichkeit) veredelt die Geschäftstüchtigkeit zur Auserwähltheit. Der Eigentliche beweist Durchsetzungsvermögen mit Herz, er spielt die 'Wurlitzerorgel des Geistes' (Adorno, S. 18) … Zur Technik des Jargons gehört, daß seine Worte klingen, 'wie wenn sie ein Höheres sagten, als was sie bedeuten' (S. 11)." (zit. nach Safranski, S. 471f.)

Freilich wäre der manieristische "Jargon der Eigentlichkeit" ohne die Sonderbegabung Heideggers, auf die selbst seine Gegener immer wieder hinwiesen, nicht durchführbar gewesen. Diese Sonderbegabung sichert ihm die Aufmerksamkeit des Publikums und diese wiederum schützt ihn vor dem Abgleiten in die Psychose, wie wir es am Beispiel von Glenn Gould beschrieben hatten (vgl. Matussek/Matussek 1992, S. 174 ff.).

Zu den Kritikern der Sprache Heideggers gehörte neben Adorno auch Robert Minder, dessen Vorträge und Artikel über die "Sprache von Meßkirch" mit dazu beitrugen, daß Heidegger gekränkt seinen Austritt aus der Hölderlin-Gesellschaft erklärte (Theodor Pfizer, S. 194). Heidegger reagiert also nicht auf den Kritiker, sondern auf dessen Auditorium, das er für sich reklamierte: er bestraft das Auditorium, die Öffentlichkeit, indem er sich eine würdigere sucht.

Dieses findet er nun bevorzugt in ausgewählt mondänen Kreisen wie dem "Club von Bremen" oder dem Sanatorium Bühlerhöhe. Rüdiger Safranksi schildert einen Auftritt Heideggers dort:

"Ein anderes Forum fand Heidegger in dem Kurhaus 'Bühlerhöhe' hoch über Baden-Baden in den Bergen des nördlichen Schwarzwalds gelegen. Der Arzt Gerhard Stroomann hatte das Sanatorium in den frühen zwanziger Jahren in einem Jugendstilgebäude gegründet, wo zuvor ein Spielcasino untergebracht war. Stroomann war ein Arzt von der Art des Hofrat Behrens in Thomas Manns 'Zauberberg'. Umtriebig, autoritär, mit Badearzt-Charisma, verordnete er seiner vermögenden, aus ganz Europa angereisten Klientel eine Heilkur, die auf die therapeutische Wirkung der Begegnung mit dem »schöpferischen Geist« setzte. Da traf es sich gut, daß die Geistesschaffenden nicht nur zu den Eingeladenen, sondern auch zu den Patienten zählten. Ernst Toller, Heinrich Mann, Karl Kerényi kurten hier, und Einladungen ergingen in den zwanziger und dreißiger Jahren an alles, was geistig Rang und Namen hatte. An diese Tradition konnte Stroomann nach dem Krieg anknüpfen. Er richtete 1949 die Vorträge der sogenannten 'Mittwochabende' ein, die bis 1957 fortgeführt wurden. Vor wachsenden Auditorien und unter zunehmendem Medieninteresse wurden die sogenannten großen geistigen Fragen der Zeit erörtert. Wissenschaftler, Künstler, Politiker hielten Vorträge und sollten von den Versammelten, die sich als Elite empfinden durften, ins Gespräch gezogen werden. Wenn es in den fünfziger Jahren einen eminenten Ort für den 'Jargon der Eigentlichkeit' gegeben hat, dann war es die 'Bühlerhöhe'. Das merkt man nicht zuletzt an den Aufzeichnungen Stroomanns über die Veranstaltungen mit Heidegger: "Heidegger hat ... viermal auf Bühlerhöhe gesprochen – und es entstand jedesmal die völlig exceptionelle Erregung, mit der seine Vorlesung, sein Erscheinen am Vortragspult überstürmt wird, wie bei keinem Gegenwärtigen ... Wer aber kann sich der aufbrechenden Wucht seines Denkens und Wissens verschließen, die in jedem Wort neuschöpferisch offenbar wird: daß es noch unentdeckte Quellen gibt." Die Veranstaltungen mit Heidegger hätten gewirkt "wie eine Feier, eine Durchglühung. Das Wort verstummt. Wenn sich aber Diskussion meldet, enthält dies höchste Verantwortung, aber auch letzte Gefahr." Das Publikum von 'Bühlerhöhe', das sich da höchster Verantwortung und letzter Gefahr stellte, setzte sich zusammen aus der Rentierprominenz Baden-Badens, aus Industriekapitänen, Bankleuten, Gattinnen, hohen Beamten, Politikern, ausländischen Würdenträgern und einigen wenigen Studenten, die durch ihre bescheidene Kleidung auffielen. Dort also trug Martin Heidegger vor und diskutierte mit dem afghanischen Kulturminister über abstrakte Kunst und die Bedeutung des Wortes 'einräumen'. Ein andermal geht es um die Dichtung und den Rhythmus. Heidegger erläutert, daß der Rhythmus in Leben und Dichtung das 'Widerspiel des Woher und Wozu' sei. Ratlosigkeit im Publikum, man verlangt eine Erklärung. Einer ruft barsch dazwischen: 'Warum immer alles erklären wollen!' Darauf Heidegger: 'Das ist ein Irrtum - wir wollen hier nicht er-klären, sondern klären!' Die Diskussion geht eine Weile hin und her, dann verebbt sie. Nun ertönt der Ruf: 'Könnte jetzt zur Belebung des Ganzen einmal etwas von einer Dame gesagt werden?' Betretenes Schweigen. Dann rafft sich Stroomanns Chefsekretärin auf. Es gäbe ein indisches Sprichwort, sagt sie, 'wer das Geheimnis der Schwingung versteht, versteht alles'. Eine andere Dame stimmt zu, der Dichter könne die göttliche Gestalt nicht selber bringen, aber er webe die Schleier, hinter denen sie erahnbar sei. Jetzt wird es im Saal wieder lebhaft, denn die Dame, die solches gesagt hat, ist von beträchtlicher Attraktivität. 'Können wir überhaupt ohne Kunstwerk existieren?' ruft jemand; ein anderer: 'Ich kann sehr gut ohne Kunstwerke leben.' Ein dritter: 'Einfinden und Einschwingen in den Rhythmus', wovon die Rede gewesen sei, das sei doch reiner Dadaismus, da brauche man doch nur noch zu lallen. Heiterer und ärgerlicher Tumult. Dann der nächste Auftritt. Gustaf Gründgens und Elisabeth Flickenschildt erscheinen auf dem Podium und geben einen Sketch zum Thema 'Der Geist der modernen Bühne'. Heidegger verläßt den Saal, ohne das Ende der Darbietung abzuwarten.” (Safranski, S. 451 f.)

Heidegger will nicht verstanden werden, sondern er will die Schlupflöcher in sein Privates stopfen (vgl. Matussek 1992, S. 160). Angemessene Reaktionen sind für ihn solche, wie sie etwa der junge Carl Friedrich von Weizsäcker berichtet: "Da ging der kleine Mann in seiner grünen Tracht durch den ganz überfüllten Hörsaal zum Katheder und begann die Rekapitulation der letzten Stunde, im südschwäbischen Tonfall, Satz für Satz knapp ausformuliert, man hielt den Atem an, und meine Reaktion war: 'Das ist Philosophie. Ich verstehe kein Wort. Aber das ist Philosophie.'" (Weizsäcker, S. 241)

Letztlich ist die manierierte Sprache Ausdruck der Unfähigkeit zur Scham, wie sie sich durch Heideggers Lebenslauf zieht und die sich nun, nach dem Zusammenbuch des NS-Regimes in der Unfähigkeit zeigt, die eigene Verstiegenheit einzusehen und die eigene Schuld anzuerkennen. "Dieses Leben in Todtnauheim," kommentiert Hannah Arendt, "auf Zivilisation schimpfend und Sein mit einem y schreibend, ist ja doch in Wahrheit nur das Mauseloch, in das er sich zurückgezogen hat, weil er mit Recht annimmt, daß er da nur Menschen zu sehen braucht, die voller Bewunderung anpilgern; es wird ja so leicht nicht einer 1200 Meter steigen, um seine Szene zu machen." (1949, nach Safranski, S. 431; vgl. Ettinger S. 84ff.).

Das "Fehlen jeglichen Schuldbewußtseins", das viele empörte (vgl. Safranksi, S. 389f.), läßt Scham nur soweit zu, wie sie darin besteht, "sich geirrt, sich 'versehen' zu haben" (Safranksi, S. 390). Und auch das wird sogleich gerechtfertigt: 1947 formuliert er den Grundsatz: "Wer groß denkt, muß groß irren." ('Aus der Erfahrung des Denkens', zit. nach Ott, S. 326). Die persönliche Verantwortung wird in ein Seinsschicksal umgebogen. Georg Picht stellt fest, Heidegger sei von dem "Bewußtsein" erfüllt gewesen, "mit dem Auftrag des Denkens gleichsam geschlagen zu sein". Er habe sich bisweilen "bedroht" gefühlt durch das, "was er selbst zu denken hatte". ('Die Macht des Denkens', nach Safranski, S. 365). Selbst im Irrtum hält er an seinen Größenvorstellungen fest. Noch in den Sechziger Jahren erkundigt er sich, wie uns berichtet wurde, bei der Vorbesprechung zu einer Fernsehsendung bei dem leitenden Redakteur, ob denn das "Führerprinzip" in der Funkanstalt Gültigkeit habe.

Oder war er am Ende doch fähig zur Schuldannahme? Rudolf Bultmann erzählt, wie er freudig überrascht war, als Heidegger telefonisch einen Besuch ankündigte und als  Motiv angab: "Ich möchte Dich um Entschuldigung bitten". Bei dem Besuch hat Bultmann zunächst den Eindruck: "Nichts stand mehr zwischen uns. Und da, beim Abschied, kam ich noch einmal auf das zurück, was er mir am Telefon gesagt hatte: 'Nun mußt Du', sagte ich zu ihm, 'wie Augustin Retractiones schreiben … nicht zuletzt der Wahrheit Deines Denkens zuliebe.' Heideggers Gesicht wurde zu einer steinernen Maske. Er ging, ohne noch etwas dazu zu sagen … Man muß das doch wohl psychologisch erklären." (Bultmann, zit. nach Fischer-Barnicol, S. 95f.) Auch wenn Hugo Ott dies bestreitet, indem er auf die innere Konsequenz in Heideggers Philosophie verweist (vgl. Ott, S. 164), so ist doch auch diese innere Konsequenz, wie wir gesehen haben, vom Leben nicht abzutrennen. Die psychologische Erklärung kann nur heißen, daß er sich verstiegen und sich den Abstieg verbaut hat.

Ott selbst stellt diesbezüglich fest: "Heidegger hatte längst jede Bodenberührung verloren, wenn er solche überhaupt besaß" (Ott, S. 153). Das ist die treffende Formulierung für die von uns so genannte Verstiegenheit. Er hat zwar sehr viel studiert und kombiniert, sich mit Philosophie so gründlich auseinandergesetzt wie kaum ein anderer Philosoph seiner Zeit, doch die Höhe seiner Gedanken, in die er hinaufsteigt, geht einher mit einer mangelnden Bodenhaftung.

Diese ist als Abwehr von Scham aufzufassen. Denn das Schamgefühl ist nach Kruse (1991) ein ”inneres, extrem aversives Signal…, das sensibel auf die Übertretung von Distanzgrenzen bzw. die Preisgabe von Intimem reagiert. Schamgefühl bewirkt, daß definierte Ereignisse oder Persönlichkeitsbereiche als ‚persönlich‘ oder ‚intim‘ definiert werden und sanktioniert deren Offenbarwerden mit einem unangenehmen inneren Signal, eben dem Gefühl der Scham oder Peinlichkeit. Schamgefühl ‚schützt‘ dadurch unsere Privatheit…, es produziert aber auch diese Art von Privatheit” (zit. nach Matussek 1992, S. 122).

Heidegger hat Schwierigkeiten mit seinem Schamgefühl, denn Scham ist die "klassisch" soziale Emotion. Ohne Bezug auf die anderen ist sie nicht zu verstehen. Wenn jemand sich aufgrund seines Lebensganges versteigt – das heißt von seiner Warte aus gesehen immer höher als die anderen steigt –, hat er es schwer, auf den gemeinsamen Boden zurückzukehren. Und trotz der Negativität des Gefühls in Bezug auf eine bestimmte Haltung ist das Band mit den anderen gefestigt. Die Schamreaktion besagt nämlich: Ich habe mich zwar anders verhalten als es in der Gesellschaft üblich ist, aber ich erkenne doch meinen Fehler als Verstoß gegen die Regeln der Gesellschaft an. Das konnte Heidegger nicht. Er wollte und mußte über den anderen stehen. Aus dieser Position ist eine Scham fast unmöglich. Sie einzugestehen erfordert eine Ehrlichkeit, die nur ein beziehungsfähiger Mensch sich leisten kann. Zu diesen gehört Heidegger nicht. Er akzeptierte nicht die Regeln der Gemeinschaft, sie waren dem Mann der Eigentlichkeit fremd, der die anderen als die uneigentlichen Daseinsflüchtigen ansah.

Da ihm nun vorübergehend das Auditorium nicht die Aufmerksamkeit zuwendet, die er für die eigene Stabilität benötigt, kommt es zum Zusammenbruch im Frühjahr 1946 (vgl. Safranski, S. 405). Heideggers eigene Berichte darüber sind – wie immer, wenn es um psychologische Fragen geht – "vage", wie Safranski schreibt (S. 406): Er bringt den Zusammenbruch mit einem angeblichen "Inquisitionsverhör" in Verbindung. Doch dieses war in Wahrheit eine eher wohlgesonnene Anhörung. Dennoch fühlte er sich, wie Hugo Ott bemerkt, "verkannt, verfolgt, verfemt – und dies alles in seinen Augen zu Unrecht... Für Heidegger war dies eine fremdbestimmte Verfügung... Heidegger konnte und wollte seine Einordnung in das Heer tausender kleiner Beamter, die wegen ihrer politischen Vergangenheit auf die Straße gesetzt waren und nicht wußten, wie es weitergehen sollte, nicht hinnehmen – nicht wie der Volksschullehrer aus der Nachbarschaft behandelt sein..." (Ott, S. 326)

Was Heidegger mehr gekränkt haben dürfte als der Vorwurf der Nähe zum Nationalsozialismus, sind denn auch wohl eher Bemerkungen wie diese: "Die Fakultät überschätze bei weitem den geistigen Rang Heideggers, der wohl eher ein Modephilosoph sei oder gar ein Scharlatan" (Aus den Protokollen der Senatssitzungen vom 4. und 8. Mai 1949, in denen das Lehrverbot erörtert wurde, zit. nach Ott, S. 337).

Beringer, der Dekan der Medizinischen Fakultät, habe ihn daraufhin zu Victor Freiherr von Gebsattel nach Badenweiler gebracht. Heideggers Bericht betont, daß er bei diesem nicht psychotherapeutisch behandelt worden sei: "Er stieg erstmal mit mir durch den verschneiten Winterwald auf den Blauen. Sonst tat er nichts." Das verwundert um so mehr, als Heidegger angibt: "nach drei Wochen kehrte ich gesund zurück" (zit. nach Safranski, S. 406).

Beringer, der auch Ordinarius für Psychiatrie in Freiburg war, hatte doch offenbar in dem Zusammenbruch etwas gesehen, das einer psychiatrischen Betreuung bedurfte, wie unvollkommen die damaligen Möglichkeiten der Psychiatrie auch waren. Gebsattel war in der damaligen Psychiatrie der Mann, der seine Hilfe hauptsächlich in einer differenzierten Psychotherapie sah. Er war Philosoph, insbesondere auch ein Verehrer der Heideggerschen Philosophie, so daß es auch von dieser Seite aus keine großen Probleme in einer Therapie gegeben hätte. Man kann mit Sicherheit annehmen – Krankengeschichten existieren leider nicht –, daß Gebsattel versucht hatte, Heideggers innere Verstrickungen, die zu leichten Wahnsymptomen führten, allmählich zu klären. Heidegger aber verschloß sich derartigen Bemühungen. Jedem psychologischen Eindringen in seine Person widersetzte er sich. Er blieb verschlossen, wie es seinem Lebensgang und seinen bisherigen psychischen Bewältigungsstrategien entsprach, so wie er schon 1930 in seinem Vortrag 'Vom Wesen der Wahrheit' die These vertreten hatte, daß "geistige Freiheit von der Triebwelt", also das Absehen von der Analyse der Persönlichkeit, die Voraussetzung dafür sei, die Wahrheit zu finden (nach Safranski, S. 37). Ob das praktizierte Absehen von sich selbst nun, nach dem Zusammenbruch, wirklich genügte, um seelisch zu gesunden, wie er angibt, ist mehr als zweifelhaft. Für die Aussage von Ott jedenfalls, Heidegger habe sich bei Freiherr von Gebsattel in "psychosomatischer Behandlung" befunden (Ott, S. 322), gibt es keinen Anhaltspunkt. Ebensowenig dafür, daß Heideggers Zusammenbruch psychotischer Natur gewesen sei. Da Heidegger die Angriffe gegen seine Person als ungerechtfertigt inquisitorisch erlebte, war er in dieser Situation gegen eine Erweiterung seiner paranoiden Einstellung am ehesten gefeit.

Nach dem Klinikaufenthalt findet er überraschenderweise zu einer neuen philosophischen "Kehre", zur "Offenheit" und "Gelassenheit" (Safranski, S. 466f.)  Und er interessiert sich für psychologische Fragen, die er auf Seminaren mit Medard Boss bespricht. (vgl. Safranski , S. 467 u. Boss). Sind dies Zeichen einer Öffnung seines Privaten? Nein, denn Heidegger interessiert sich für die Psyche der anderen, nicht seiner eigenen. Ehe er in Verlegenheit gebracht wurde, wollte er lieber die anderen in Verlegenheit bringen. Wie unerträglich es bei diesen Zollikoner Seminaren bisweilen zuging, beschreibt Medard Boss selbst:

 

"Heidegger: 'Was ist denn Raum überhaupt?'

Volle zehn Minuten dauerndes, verlegenes Schweigen…

Hörer F.: 'Solche Fragen haben wir noch nie gehört und wissen darum nicht, worauf es Ihnen ankommt, worauf sie hinaus wollen.'

Heidegger: 'Ich will nur darauf hinaus, daß Sie die Augen aufmachen … Also wie steht es mit dem, zu dem Sie Zwischenraum zwischen Dr. R. und dem Tisch sagen?'

Siebenminütiges Schweigen…

Heidegger: 'Muß denn nicht das Raumhafte, was zwischen Dr. R. und dem Tische ist, durchlässig sein, damit der Tisch überhaupt Herrn Dr. R. erscheinen kann? … Kann man dann aber sagen, das Offene, Freie, das so Gelichtete sei selber Räumliches?'

Hörer A: 'Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.'

Fünfminütiges Schweigen…" (Boss, S. 36 f.)

 

Heidegger hatte in Medard Boss einen Freund gefunden, als Therapeuten nahm er ihn nicht in Anspruch. Doch vertraute er ihm seinen angeblich einzigen, aber häufig wiederkehrenden Traum an. Ihm träumte, er müßte noch einmal die Abiturprüfung ablegen vor den gleichen Leuten wie damals" (Zollikoner Seminare, S. 308; zit. nach Safranski, S. 467). Die Prüfungsangst Heideggers, die sich spätestens bei der Ablehnung durch den Novizenmeister von Tisis als Angst vor der Offenbarung der inneren Leere herausgestellt hatte, ist er bis zur Zeit der Zollikoner Seminare nicht losgeworden. Stattdessen hatte er eine zunehmende Verschrobenheit an den Tag gelegt, sich zum geistigen Führer der nationalsozialistischen Bewegung verstiegen und in sprachlichen Manierismen seine inneren Motive zunehmend verstellt und verschleiert. Wenn es also stimmt, was Medard Boss berichtet, daß es nämlich nach den Begegnungen in Zollikon "endgültig … mit diesem stereotypen Traum vorbei" gewesen sei, dann kann dies nicht an der philosophischen Begründung gelegen haben, die ihm Heidegger lieferte: daß er "im wachen Denken 'Sein' im Lichte des 'Ereignisses' zu erfahren vermochte" (Medard Boss nach Safranski, S. 467). Dies ist gewiß eine schöne Formulierung; als Erlösungsformel, die ein Trauma aufhebt, kann sie nicht überzeugen. Sie mag wohl Trost bieten, aber nur einen trügerischen, den Trost des Indifferentismus. Denn alles Persönliche und Psychologische ist darin getilgt, dasjenige also, was den Grund der Pathologie Heideggers berührt – und der liegt allemal im Fehlen von Glaube, Liebe, Schuldannahme, kurz: eines privaten Selbst.

 

 

d) Das Rätsel Heidegger – Versuch einer Lösung

 

 

Die zeitgenössischen und biographischen Bemerkungen über Heidegger, von denen wir einige erwähnten, haben bei aller Unterschiedlichkeit doch eines gemeinsam: eine allgemeine Ratlosigkeit über das "Rätsel Heidegger". Schon die unmittelbaren Reaktionen derer, die ihn erlebt haben, dokumentieren die Schwierigkeit eines Verstehens seiner Persönlichkeitsstruktur. Auch in die Bewunderung mischt sich Verwunderung.

Das Rätsel wird bleiben. Wir sind jedoch der Meinung, daß die drei von uns hervorgehobenen Merkmale der Persönlichkeitsstruktur Heideggers einiges zur Lösung beizutragen vermögen. Denn Verschrobenheit, Verstiegenheit und Maniriertheit sind Merkmale einer Fixierung auf das öffentliche Selbst, die wir bereits in Band 1 als tendentiell schizophren gekennzeichnet hatten. Alle drei Merkmale des öffentlichen Selbst sind bei Heidegger stark ausgeprägt. Er konstruiert daraus seine Eigenart und Maske, um seine öffentliche Identität vor den anderen abzusetzen und so sein privates Selbst gegen akute Symptome zu schützen.

Heideggers Schweigen über Fragen der Schuld, der Liebe und des Glaubens signalisiert seine Unfähigkeit, diese Grundelemente des privaten Selbst überhaupt als solche wahrzunehmen. Stattdessen wird ihr Verschweigen philosophisch gerechtfertigt und zu einem entrückten Zustand verklärt. Schon in den 'Beiträgen' "können wir", wie Safranski anmerkt, "Heidegger dabei zusehen, wie er sich  mit einem Delirium von Begriffen und einer Litanei von Sätzen in den 'anderen Zustand' versetzt. Die 'Beiträge' sind ein Laboratorium für die Erfindung einer neuen Rede von Gott. Heidegger stellt mit sich selbst Experimente an, um herauszufinden, ob das geht: eine Religion stiften ohne eine positive Lehre" ... "Die 'Beiträge' sind ein Rosenkranzgebet. ... Denn was sind die geleierten Sätze anders als Sätze, mit denen nichts mehr gesagt wird und in denen sich selbst das Schweigen ausbreiten kann... Die Leier als Methode des wortreichen Erschweigens." (Safranski, S. 358/59) "Doch genau diesem ehrgeizigen Projekt, die reale Gegenwart des Göttlichen aus dem Denken zu erfahren, hat sich Heidegger in seinen 'Beiträgen' verschrieben. Da nun aber das Göttliche im Denken keine deutliche Gestalt annehmen will, so muß sich Heidegger mit der knappen Auskunft behelfen: Die Nähe zum letzten Gott ist die Verschweigung. Und er weist, wie Johannes der Täufer, auf einen kommenden Gott hin und bezeichnet sich selbst als einen Vorläufigen. Das Warten auf Godot hat bereits in Heideggers 'Beiträgen' begonnen." (Safranski, S. 360) "Heideggers berühmtes Schweigen ist auch ein inneres Verschweigen, fast eine Verstocktheit gegen sich selbst." (Safranski, S. 365)

Zwar deutet manches darauf hin, daß er diese Verstocktheit im Alter wieder zu lockern sucht. Besucher stellen verblüfft fest, daß er statt abgehobenen Gesprächen über Philosophie und Literatur solche über Fußball bevorzugt – durchaus kompetent übrigens, denn er war in der Meßkircher Jugendmannschaft ein erfolgreicher Linksaußen (vgl. Safranski, S. 491). Doch selbst auf  diesem Themenfeld schlägt seine Struktur doch durch: An Beckenbauer rühmt er dessen "Unverwundbarkeit" (zit. nach Safranski, S. 491). Und selbst die harmlosen Kinderspiele, an die er sich im hohen Alter gerne zurückerinnern läßt, hatten ihre Auffälligkeiten: Safranski berichtet über eine Schilderung des Spielgefährten aus den Kindertagen Heideggers, "daß der kleine Martin einen Säbel gehabt habe, der so lang war, daß er ihn hinter sich herschleppte. Er war nicht aus Blech, sondern aus Stahl. 'Er war eben der Hauptmann…'" (zit. nach Safranski, S. 495)

Er war der Hauptmann – nicht nur auf den Spielplätzen Meßkirchs, sondern auch auf den Podien der großen Öffentlichkeit. Hier wie dort, suchte er die Sonderrolle, die ihn über die anderen erhob, um die peinliche Einsicht in das Fehlen einer privaten Selbstidentität zu vermeiden. Bei der Beerdigung sprach Heideggers Sohn Verse aus Hölderlins Elegie 'Brot und Wein', wo es heißt: "Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist…" (Pfizer S. 196). Die Suche nach dem Eigenen und Eigentlichen, die philosophisch unvergleichlich ertragreich war, blieb in Bezug auf seine eigene Identität ergebnislos. Doch er verstand es immer wieder, ein Publikum mit dieser im Öffentlichen ertragreichen Suche zu beeindrucken, hinter der die erfolglose Suche nach dem Privaten die Triebkraft war.

Eben dies hat ihn vor einer akuten Psychose bewahrt, im Gegensatz zu Jung, der akut psychotische Episoden durchzustehen hatte, wie auch der letzte unserer Fallbeispiele, Axel Springer.



[1]Genauso wie es Jung getan hat hinsichtlich aller politischen wie persönlichen Vergehen, die ihm die Öffentlichkeit vorwarf.

[2]Vgl. hierzu den oben geschilderten Fall des Pjotr Kazimierczak. Auch ihm, den keiner verstand, ging es offenbar primär darum, nicht verstanden zu werden.