Peter Matussek

In- und auswendig Lernen

Zur Dialektik von Bildung und Information

 


Erschienen in: Dieckmann, Bernhard / Sting, Stephan / Zirfas, Jörg (Hg.): Gedächtnis und Bildung. Pädagogisch-anthropologische Zusammenhänge; Weinheim und Basel 1998, S. 285-300.

 

     
 

Als ich meinen achtjährigen Sohn wieder einmal in televisionärer Trance versunken fand und mir aus seinem verglasten Blick das ganze Elend unserer Infotainment-Kultur zu starren schien, verfiel ich auf eine fragwürdige pädagogische Maßnahme. Ich streute in den nächsten Werbeblock die Information, zu meinem bevorstehenden Geburtstag könne ich mir nichts Schöneres vorstellen, als daß er mir ein Gedicht aufsage. Freilich sind Gedächtnisaufgaben Routinesache für ihn. Tapfer schluckt er seine Schulspeisung an dem, was man für kindgerechte Lyrik hält und als Stärkungsmittel gegen den heutigen Bildungsverfall durch Bildkonsum verabreicht. Und auch mich hat er schon durch eine Rezitation von Goethes Gefunden beglückt, da sie die Anschaffung eines größeren Gameboy begünstigte. Mit meinem Geburtstagwunsch aber hatte ich den Ehrenpunkt berührt. Nun mußte er zeigen, was er aus intrinsischen Motiven zu memorieren bereit war.

Der Tag der deklamatorisch zu enthüllenden Wahrheit kam – wohl vorbereitet durch mein "achtloses" Herumliegenlassen von Gedichtanthologien, obenauf Conradys Sammlung deutscher Balladen, gleichsam als Eisbergspitze latenter Erwartung. Diese wurde von dem jungen Rezitatoren dann sogar noch übertroffen – allerdings in einer Weise, die sich mir erst nach umständlicher Reflexion erschloß. Denn die Verse seines Gedichts erwiesen sich als eine abgründige und intensiver Exegese bedürftige intertextuelle Anspielung auf die Situation ihres Vortrags:

In Hamburg lebten zwei Ameisen,
die wollten nach Australien reisen.
Bei Altona auf der Chaussee,
da taten ihnen die Beine weh,
und da verzichteten sie weise
dann auf den letzten Teil der Reise.

So gab er mir Stoff zum Grübeln. Einerseits imponierte mir die Ringelnatz-Lösung der Gedächtnisaufgabe ob ihres eleganten Unterlaufens meiner Erwartungshaltung. Andererseits verdroß mich sein schlagender Beweis für die Tatsache, daß die mnemonische Kraft der nachwachsenden Generation im Unterschied zu früheren bereits in Altona erlahmt. Als die klassische Rhetorik noch zum festen Unterrichtsprogramm gehörte, war das Auswendiglernen ganzer Reden – das mnemotechnische Australien sozusagen – eine Selbstverständlichkeit. Die geltenden Lehrpläne empfehlen immerhin noch gelegentliche Ausflüge nach Arkadien. Wenn es jetzt nur noch bis Altona gehen sollte, weil hier, in Zeile vier, schon die Füße weh tun, dann war mir das buchstäblich allzunah am Ausgangspunkt. Denn schließlich bemessen wir die Höhe einer Kultur an der Weite ihres Gedächtnisraums.

Die Schuldigen sind leicht ausgemacht: Das "Nullmedium" Fernsehen (Enzensberger) und das Universalmedium Computer (Kittler) vollenden den Prozeß der Externalisierung des Gedächtnisses, den schon Platon für die Verkümmerung des Erinnerns verantwortlich machte.[1] Die universalisierten Hypomnemata annullieren den Spielraum anamnetischer Eigenaktivität.

Wie ist auf diese Situation zu reagieren? Im folgenden seien einige Optionen zur Verhältnisbestimmung von Bildung und Information mit den daraus jeweils resultierenden mnemonischen Postulaten durchgespielt. Zur Illustration der unterschiedlichen Konsequenzen werde ich zu jeder die ideale Erfüllung meines Geburtstagswunsches anzugeben suchen.

 

 

I. Australien per Tastendruck.
Informationstechnische Bildung

 

Folgt man der Argumentation derer, die aus der gegenwärtigen Bildungskrise durch informationstechnische Nachhilfe herauszuführen suchen, so wird die Schulung des Gedächtnisses unter der Voraussetzung obsolet, daß alles benötigte Wissen jederzeit aus externen Datenspeichern abgerufen werden kann. Ja, das Auswendiglernen ist ihnen zufolge sogar hinderlich, da es die Energien bindet, die für die Ausbildung zeitgemäßer Kulturtechniken erforderlich sind. Wissensnavigation sei wichtiger als Wissenserwerb, verkündet die Avantgarde der Computerpädagogen, die von den Netzbetreibern kräftig unterstützt oder gleich gestellt wird. So macht sich Ron Sommer, der Chef der Deutschen Telekom, mit rousseauistischem Eifer für die Kampagne "Schulen ans Netz" derzeit mit 36 Millionen DM stark. Der schuldengeplagte Aktienverkäufer weiß, daß dieses Geld gut angelegt ist: "Es muß in den nächsten Jahren gelingen, Schulen, Hochschulen und weitere Bildungseinrichtungen ans Netz zu bringen, sonst gefährden wir nicht nur die Zukunft des Standorts Deutschland. Wir verwehren unseren Kindern auch den Anschluß an die Zukunft."[2] Die Marketing-Idee vom Netzanschluß an die Zukunft begeistert auch das etatgeschwächte Bundesministerium für Bildung, das sich am Telekom-Projekt beteiligt – wohl auch in der Hoffnung, mit derartigen Investitionen Lehrerstellen einzusparen. Denn wo Datenbankzugänge und Lernsoftware vorhanden sind, kann der klassische Pauker abdanken. Ron Sommer bringt die um den Hauptanteil didaktischer Vermittlungsarbeit befreite Light-Version des neuen Lehrertyps auf den Punkt: "an die Stelle zentraler Informationsvermittlung tritt die neue Funktion als Moderator von Kommunikation und Lernen über Netze sowie als Türöffner von Informationswelten für Schüler."[3] Die Anleitung zum Auswendiglernen wird damit obsolet. Die externe Memoria der elektronischen Informationssysteme hält, wenn das pädagogische Personal erst einmal in seinen neuen Job als Internet-Portier eingearbeitet ist, alles parat, was die Schüler brauchen. Und die Qualität der Inhalte, nach der sich Skeptiker besorgt erkundigen,[4] ist nach den Beteuerungen der Befürworter durch zwei Attribute gekennzeichnet, die über allen Zweifel erhaben sind: sie ist "attraktiv" und "optimal". Sommer verspricht "die Anwendung einer attraktiven Technik, die in der Freizeit zunehmend genutzt und im Beruf zum notwendigen Handwerkszeug gehören wird […], didaktisch optimal aufbereitete Lernangebote" sowie "die Nutzung attraktiver Multimedia-Angebote."[5] Bei derart attraktiven und optimal aufbereitenen Angeboten bleibt der Kopf frei für – ja wofür eigentlich? Diane Ravitch, die frühere Staatssekretärin im Erziehungsministerium der USA, weiß auch darauf eine Antwort: "In dieser neuen Welt der pädagogischen Fülle werden Kinder und Erwachsene in der Lage sein, ein Programm auf ihrem häuslichen Fernseher zu empfangen, das es ihnen ermöglicht, jederzeit alles zu lernen, was sie wollen. Wenn die kleine Eva nicht schlafen kann, so kann sie statt dessen Algebra lernen. Auf ihrer häuslichen Lernstation kann sie sich in eine Reihe von interessanten Aufgaben einschalten, die im interaktiven Medium angeboten werden, Videospielen ähnlich… [/] Der junge John wird vielleicht beschließen, daß er etwas über die Geschichte des modernen Japan wissen möchte. Er kann die größten Autoritäten und Lehrer dieses Gebiets anwählen. Sie werden nicht nur mit faszinierenden Statistiken und Bildern aufwarten, sondern sie werden ihm auch ein historisches Video 'erzählen', das seine Neugier und Phantasie anregt."[6]

Angesichts solcher Aussichten müßte ich mich schämen für meinen Gedichtwunsch zum Geburtstag; hält er doch meinen Jungen, der ebenso ungern einschläft wie die kleine Eva, möglicherweise von seinem nächtlichen Algebra-Studium ab, was er dringend nötig hätte.

 

 

II. Wandern, wenigstens bis Arkadien.
Informationskritische Bildung durch Inhalte

 

Neil Postman hat unterdessen in seinem Buch Keine Götter mehr. Das Ende  der Erziehung Zweifel an Ravitchs Vision angemeldet. Sie verrate, schreibt er, "eine sehr bezeichnende Selbstzufriedenheit und Realitätsferne. Die kleine Eva kann nicht schlafen, also beschließt sie, ein bißchen Algebra zu lernen? Wo kommt die kleine Eva her? Vom Mars? Wenn nicht, wird sie wahrscheinlich eher einen guten Film ansehen. Der junge John möchte etwas über die Geschichte des modernen Japan wissen? Wie ist der junge John denn an diesen Punkt gekommen? Wie kommt es, daß er bisher noch nie in einer Bücherei war? Oder konnte er auch nicht schlafen und dachte sich, ein bißchen japanische Geschichte sei genau das, was er jetzt brauche?"[7] Postman mißtraut der Cyberpädagogik. Er hält sie für die "technologische Lösung eines psychologischen Problems".[8] Das psychologische Problem nämlich sei das Desinteresse der heutigen Schülergeneration an ihrer natürlichen Umgebung, ohne das sie sich nicht so begeistert auf die virtuellen Parallelwelten stürzen würde. Die Protagonisten der computergestützten Bildung verwechselten diesen psychischen Defekt mit Wissensdurst, und indem sie sich bemühten, ihn zu befriedigen, sorgten sie nur für die Stabilisierung des krankhaften Zustands, anstatt ihn ursächlich zu bekämpfen.

Postmans Bildungskonzept läßt sich als ein dezidiert anti-informationstechnisches beschreiben, das die wertbestimmten Ziele pädagogischen Bemühens durch die Beschränkung auf das Einüben von Sekundärtugenden gefährdet sieht. Mit seinen Zweifeln an der Fähigkeit elektronisch distribuierter Wissensangebote, sinnvolle Inhalte vermitteln zu können, gehört er zur wachsenden Gruppe von Fundamentalkritikern der neuen Informationsmedien. Sie fordert "Inhalte statt Information".[9] Der zu diesem Bekenntnis konvertierte Internet-Pionier Clifford Stoll etwa vergleicht die Informationssuche im Cyberspace mit dem Trinken aus einem Feuerwehrschlauch: "Man wird ziemlich naß und zieht doch durstig von dannen."[10] Für den TV-Konsum gilt das ohnehin, wie unlängst Bill McKibben anhand eines heroischen Selbstversuches dokumentiert hat: Er verfolgte das komplette Tagesangebot von 93 Fernsehsendern, das er auf Video aufzeichnete (die Danksagung für das Verständnis seiner Frau fiel entsprechend emphatisch aus), und verglich die darin gebotenen Informationen mit den Entdeckungen eines Wochenendes auf dem Lande. McKibbens Ergebnis lautet, wie zu erwarten war: Die Landpartie war ergiebiger als alle Fernsehsender zusammengenommen.[11]

Echten Durst vermag nun einmal kein virtuelles Naß zu löschen. Deshalb setzt Postman auf das Auswendiglernen. Es genüge eben nicht, gewisse Informationen einfach abzurufen; es komme vielmehr darauf an, sie zu internalisieren. "Ich bin mir bewußt", schreibt Postman, "daß moderne Pädagogen gegen das Auswendiglernen sind, aber ich glaube, daß Schüler gewisse fundamentale Texte im Kopf haben sollten."[12] Auswendig gelernte Inhalte als Stärkemittel gegen die Verflüchtigung des Wissens zur Information   hatte schon Ende der achtziger Jahre George Steiner im Zuge seiner Abrechnung mit den sekundären Diskursen der Dekonstruktivisten empfohlen. "Hat unser Sprechen Inhalt?", fragte er im Untertitel seines Buches Von realer Gegenwart, und gab zur Antwort, daß es auf den Grad seiner Memorierung ankomme: "Auswendig zu lernen heißt, dem Text oder der Musik eine innewohnende Klarheit und Lebenskraft zu verleihen, sie zu ver-innerlichen. […] Genaue Erinnerung und Rückgriffe auf das Gedächtnis vertiefen nicht nur unsere Auffassung eines Werkes: sie erzeugen auch einen wechselseitigen Austausch zwischen uns und dem, was das Herz weiß."[13]

Mußte ich also das Geburtstagsgedicht meines Sohnes als ein Alarmsignal dafür werten, daß seine Herzensbildung gefährdet war? Hätte er mir nicht zum Beweis einer gelungenen Erziehung statt des Ringelnatz den Ring des Polykrates präsentieren müssen? Wäre es nicht ein deutlicheres Zeichen seiner inneren Klarheit gewesen, wenn er mit Ägyptens König das Lob der Schmerzen gesungen hätte, als mit den angeblich weisen Hamburger Ameisen das Schlappmachen zu sanktionieren?

 

 

III. Australien mit der Seele suchend.
Informationskritische Bildung durch Innehalten

 

Trotz des derzeit dem Auswendiglernen günstigen Lehrplanklimas dürften die Plädoyers von Postman und Steiner nicht unumstritten sein. Das liegt schon an einer Spezialität der deutschen Sprache, die zwischen in- und auswendigem Lernen explizit unterscheidet, und die das "learning by heart" oder "apprendre par cœur" der Anglo- und Frankophonen als Euphemismus abzutun geneigt ist. Explizit gibt sie zu bedenken: Wer sich etwas einprägen will, muß es sich entäußern. Das läßt sich insbesondere an Postmans Argumentation verifizieren, die der Computerpädagogik letztlich doch näher steht, als seine Abgrenzungsgeste vermuten läßt. Denn sie orientiert sich an demselben speichertechnischen Modell des Gedächtnisses. Als handle es sich beim Auswendiglernen eben doch nur um einen in Bits und Bytes zu berechnenden Input, fügt Postman – antizipierte Überlastungsbedenken entkräftend – seinem Plädoyer die folgende Kalkulation hinzu: "Das erste Amendment besteht im übrigen aus nur 45 Wörtern, und ich kann mir nicht vorstellen, daß das Gehirn eines Schülers von einer solchen Gedächtnisleistung geschädigt würde." Eher verschämt läßt Postman durchblicken, daß er die 272 Wörter der Gettysburg Address auch noch gerne zur Bildung der amerikanischen Teenager in deren Oberstübchen abgespeichert sähe.[14]

Steiners Thesen werfen vor dem Hintergrund der Unterscheidung von in- und auswendigem Lernen ähnliche Fragen auf. Vermischen sie nicht in unzulässiger Weise Mnemosyne und Mnemonik, die sich – wie etwa Friedrich Georg Jünger unter Berufung auf eine weitere deutsche Spracheigentümlichkeit hervorhebt – "nur auf das Gedächtnis, nicht auf die Erinnerung"[15] bezieht? Daß ausgerechnet Simonides, ein Dichter, der Erfinder der Mnemonik gewesen sein soll, hält Jünger deshalb für "eine unglaubwürdige Behauptung".[16] Tatsächlich ist die rhetorische Überlieferung, die sie aufgestellt hat, mittlerweile als Legitimationslegende dekuvriert worden.[17] Und daß Platon in seiner Fehde gegen die sophistischen Rhetoriker vom Schlage eines Hippias, der damit prahlte, fünfzig Namen nach einmaligem Zuruf auswendig hersagen zu können, zwischen Mneme und Anamnesis strikt unterschied,[18] gibt der deutschen Abgrenzung der Erinnerung vom Gedächtnis zusätzlichen Auftrieb. Auch Phaidros, der seine auswendiggerlente Rede unter dem Mantel trug, wird ja von Sokrates geoutet, als der die Kladde entdeckt und vorschlägt, lieber gleich das Original zu lesen als es in sinnloser Mühe aus dem Kopf zu reproduzieren.[19] Und in den Nomoi macht Platon vollends deutlich, was er vom Auswendiglernen hält: "wir haben", sagt der Athener, "sehr viele der Hexameter, der Trimeter sowie aller Versmaße, die man sonst angibt, sich bedienende Dichter, von denen die einen auf Ernstes, die anderen auf Lachen Erregendes es abgesehen haben; durch diese müsse man, behauptet die große Mehrzahl, die jungen Leute, um sie gehörig zu unterweisen, auferziehen und mit solcher Kost sie sättigen, indem man sie, vermöge des Vorlesens, durch vollständiges Auswendiglernen der ganzen Dichter, zu Vielbewanderten und Vielwissenden mache".[20] Die "Vielbewanderten und Vielwissenden" – das sind die Sophisten, gegen deren mnemonische Gedächtnistechnik Platon seinen anamnetischen Erinnerungsbegriff ins Feld führt. In der deutschsprachigen Philosophie ist es dann Hegel, der den Unterschied beider Memorierkünste stark macht. Hegel nennt das Gedächtnis ein "Beinhaus der Wirklichkeiten", ja einen "Galgen, an dem die griechischen Götter erwürgt hängen"[21], und stellt ihm das Erinnern gegenüber, das er etymologisch als "Sich-innerlich-machen, Insichgehen" versteht.[22] Steiners Votum für das "learning by heart" läßt vor diesem Hintergrund eine zentrale Frage offen, nämlich die nach der Vermittlung von auswendigem und inwendigem Lernen. Das mechanische Reproduzieren mag zwar durchaus, wie er schreibt, die "Bedeutungen von Dichtung und die Musik dieser Bedeutungen" als "solche des menschlichen Körpers" erfahrbar machen: "Der Widerhall der Empfindungen, die sie hervorrufen, geht in die Eingeweide und ist taktiler Art."[23] Doch genau hier steckt das ungelöste Problem, wie die sensomotorische Innervation mit einer Aufmerksamkeit für die Inhalte in Beziehung zu bringen ist.

Gerade die Betonung des somatischen Aspekts beim Auswendiglernen erinnert fatal an das Prinzip, mit dem der Nürnberger Dichter Harsdörffer 1647 seine Poetik anpries: Poetischer Trichter, die Teutsche Dicht- und Reimkunst, ohne Behuf der lateinischen Sprache, in VI Stunden einzugießen. Schon die zeitgenössischen Karikaturen, die diesen Nürnberger Trichter als martialische Input-Folter zeigen, weisen voraus auf die fundamentale Kritik an den Schrecken des Gedächtnismachens, die sich unter den Bedingungen der Museums- und Archivkultur des 19. Jahrhunderts herausbildete und die sture Einpaukerei an preußischen Gymnasien wie ein erfrischender Lethestrom unterspülte. Für Nietzsche ist "nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen als seine Mnemotechnik. 'Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss' – das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden."[24] Nietzsche läßt keinen Zweifel daran, daß er die Kunst des Vergessens, die schon Themistokles zu lernen begehrte,[25] für den Schlüssel zum Glück hält. Dieses Glück freilich sei uns versagt, wie er an der folgenden Szene deutlich macht: "Der Mensch fragte einmal das Thier: Warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Thier will auch antworten und sagen, das kommt daher, dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergass es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so dass der Mensch sich darob verwunderte."[26] So sehr dem Menschen die volle Teilhabe am Geheimnis der glücklichen Tiere verwehrt ist, gibt Nietzsche ihm doch zu bedenken, daß "das Vergangene vergessen werden muß, wenn es nicht zum Totengräber des Gegenwärtigen werden soll"; "es giebt", sagt er, "einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt, und zuletzt zu Grunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Cultur."[27]

Einswerdung mit dem Lebensstrom durch ein dem Vergessen nicht entgegengesetztes Erinnern ist auch die Maxime, mit der Henri Bergson sein philosophisches Leitmotiv der durée in der Abhandlung Materie und Gedächtnis entfaltet. Er erläutert diese Maxime hier am Beispiel des Auswendiglernens eines Gedichts. Je nachdem, so Bergson, ob wir uns an das Auswendiggelernte oder die Situation des Auswendiglernens erinnern, haben wir es mit zwei grundsätzlich verschiedenen Formen des Gedächtnisses zu tun. Das eine nennt Bergson mémoire habitude, die auf dem sensomotorischen Mechanismus der Gewohnheit beruht; die andere nennt er mémoire souvenir, die sich aus den spontan aufsteigenden Erinnerungsbildern eines attentiven Wiedererkennens nährt. "Sie ist wie ein Ereignis meines Lebens", sagt Bergson; "es ist ihr wesentlich daß sie genau datiert ist, sich also nicht wiederholen kann."[28] Ein inhaltsorientiertes Bildungskonzept, wie es Postman und Steiner vorschwebt, hat vor dem Hintergrund dieser Differenzierung im Auswendiglernen keinen Verbündeten. Im Gegenteil: Die sensomotorische Gewohnheit des mechanischen Reproduzierens macht sich zum Komplizen der Informationstechnologie; sie verhindert die intuitive Aufmerksamkeit für den Gehalt, die sich erst einstellt, wenn der Reproduktionsmechanismus angehalten wird.[29]

Demnach wäre mein Geburtstagswunsch am besten dadurch erfüllt worden, daß der Rezitator sich mitten in seiner Deklamation unterbricht – etwa nach Zeile zwei, um innehaltend sich an die konkrete Situation zu erinnern, als er sich den Australienwunsch der beiden Ameisen einzuprägen suchte. Sein attentives Wiedererinnern hätte ihn mit den eigenen Lebensbedürfnissen in Kontakt gebracht, und er hätte seine eigenen Sehnsüchte, sein persönliches Australien sozusagen, formulieren können. Dies scheint die exemplarische Konsequenz aus einem Bildungskonzept zu sein, das ganz auf ein inwendiges, der bloßen Auswendigkeit der Informationstechniken dichotomisch entgegengesetztes Lernen setzt.

 

 

IV. Der Weg ist das Ziel.
Informationstechnik als Bildung

 

Es scheint aber nur so. Denn die geschilderte Konsequenz übersieht die Dialektik eines Erinnerns, das als Innerlichkeit verstanden wird. Jacques Derrida hat auf diese Dialektik in Hegels Erinnerungsbegriff aufmerksam gemacht, indem er ihn als "Intimation" in die französische Sprache importierte. In dem schillernden Neologismus scheinen zwei Bedeutungen auf, die sich diametral zu widersprechen scheinen, in Wirklichkeit aber zusammengehören. Die eine verweist natürlich auf die "Intimität des Inneren", wie wir sie schon von Hegel her kennen. Zum anderen aber verweist "Intimation" auf den Gegensatz des Er-innerns, nämlich den "Befehl oder das Gebot": "on intime l'ordre", sagt man im Französischen.[30] Derrida begründet diese Doppeldeutigkeit damit, daß die Verinnerlichung immer auf die Sprache des Verinnerlichten angewiesen bleibt: "Sie kann ihm das Wort nur lassen, denn sie könnte ihn nicht zum Sprechen bringen, ohne daß er nicht bereits (déjà) gesprochen hätte, ohne diese Spur eines Sprechens, das vom anderen kommt und das uns auf die Schrift und gleichermaßen auf die Rhetorik angewiesen macht."[31] So ist "die Technik […] immer der Parasit für die wahre Mnemosyne, die Mutter aller Musen und die lebendige Quelle aller Inspirationen."[32]  Kurz: Das Inwendiglernen bleibt stets auf ein Auswendiglernen angewiesen.

Die Pointe ist keineswegs so antihegelianisch, wie es auf den ersten Blick scheint. Denn der Erinnerungsbegriff der Phänomenologie des Geistes findet in eben diesem Sinne seine weitere Entfaltung im Rahmen der Philosophie des Geistes.[33] Der dritte Teil der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften greift die Opposition von Gedächtnis und Erinnerung in der zuvor explizierten Weise auf, kommt dabei aber zu überraschenden Konsequenzen. Zunächst urteilt Hegel erwartungsgemäß über das Auswendiglernen: "Man weiß bekanntlich einen Aufsatz erst dann recht auswendig, wenn man keinen Sinn bei den Worten hat; das Hersagen solches Auswendiggewußten wird darum von selbst akzentlos. Der nichtige Akzent, der hineingebracht wird, geht auf den Sinn; die Bedeutung, Vorstellung, die herbeigerufen wird, stört dagegen den mechanischen Zusammenhang und verwirrt daher leicht das Hersagen." Bis hier wiederholt Hegel seine frühere Gedächtniskritik. Doch nun fährt er fort: "Das Vermögen, Reihen von Worten, in deren Zusammenhang kein Verstand ist oder die für sich sinnlos sind (eine Reihe von Eigennamen), auswendig behalten zu können, ist darum so höchst wunderbar, weil der Geist wesentlich dies ist, bei sich selbst zu sein, hier aber derselbe als in ihm selbst entäußert, seine Tätigkeit als ein Mechanismus ist."[34] Das auf den ersten Blick erstaunliche Loblied des mechanischen Reproduzierens wird verständlich vor dem Hintergrund des dialektischen Systems. Die Erinnerung ist darin nur eine Vorstufe zur Selbstverwirklichung des Geistes; sie sorgt für die nur bewußtlose Aufbewahrung der Bilder der Anschauung im "nächtlichen Schacht" der Intelligenz.[35] Insofern ist ihr Inhalt abstrakt. "Solches abstrakt aufbewahrte Bild", erklärt Hegel nun, "bedarf zu seinem Dasein einer daseienden Anschauung".[36] Diese erlangt sie stufenweise, ausgehend von den Bestimmungen der Anschauung zu Bildern durch die Einbildungskraft, über deren assoziative Verknüpfung mittels der Vorstellung bis schließlich hin zu ihrer ädaquaten Äußerung im Zeichen. Die zur Zeichenhaftigkeit aufgestiegene Erinnerung aber ist das Gedächtnis.[37] Mit demselben etymologischen Gespür, mit dem er den Erinnerungsbegriff bedeutungsvoll machte, weist Hegel nun auf die Verwandtschaft zwischen Gedächtnis und Denken hin. "Schon unsere Sprache", schreibt er, "gibt dem Gedächtnis, von dem es zum Vorurteil geworden ist, verächtlich zu sprechen, die hohe Stellung der unmittelbaren Verwandtschaft mit dem Gedanken." Und er zieht sogleich pädagogische Konsequenzen, die er in der Vernunft der Natur angelegt findet: "Die Jugend", fährt er fort, "hat nicht zufälligerweise ein besseres Gedächtnis als die Alten, und ihr Gedächtnis wird nicht nur um der Nützlichkeit willen geübt, sondern sie hat das gute Gedächtnis, weil sie sich noch nicht nachdenkend verhält, und es wird absichtlich oder unabsichtlich geübt, um den Boden ihrer Innerlichkeit zum reinen Sein, zum reinen Raume zu ebnen, in welchem die Sache, der an sich seiende Inhalt ohne den Gegensatz gegen eine subjektive Innerlichkeit, gewähren und sich explizieren könne."[38]

Die mechanische Reproduktion gleichgültig welcher Gedächtnisinhalte als Voraussetzung für das autonome Denken – diese originelle Überlegung, die Hegel durchaus einleuchtend begründet, vermag das Auswendiglernen gerade unter den Bedingungen einer Informationsgesellschaft zu rehabilitieren, die von externalisierten Gedächtnisräumen beherrscht wird. Denn beim Auswendiggelernten – so Hegel wiederum unter Hinweis auf die Etymologie – wird "das im Gedächtnis Behaltene auswendig,  d.h. eigentlich von innen heraus, aus dem tiefen Schachte des Ich hervorgebracht".[39] Ein verwundertes Nachschlagen in Grimms Wörterbuch scheint dem spekulativen Philosophen zunächst den Boden für seine Paraphrase zu entziehen: "Auswendig" wird hier sprachgeschichtlich eindeutig auf "Wand" zurückgeführt, bedeutet also urspünglich ein externes Außerhalb von Gebäuden und insofern auch von Gedächtnisspeichern. Ein rechtschreibreformerisches "auswändig" – analog zu "behände" oder "Stängel", wie es die zukünftige Orthographie vorsieht – wäre dennoch genauso fragwürdig wie die ganze Reform. Denn Grimms Wörterbuch räumt ein, daß ein von "wenden" abgeleitetes "auswendig" sich mit dem von "wand" abgeleiteten nahe berührt, und nennt Belege von Schweinichen bis Schiller, die zur Bedeutungsfamilie des englischen "by heart" und des französischen "par cœur" gehören.[40]

Hegel vermag also das Auswendiglernen zu rehabilitieren – allerdings in einer Argumentation, die konträr zu den Bildungskonzepten Postmans und Steiners steht: Nicht auf den Inhalt kommt es an, sondern auf dessen Vertilgung im bedeutungsentleerenden Mechanismus des Gedächtnisses, der sich zur reinen Selbstbezüglichkeit des Geistes im Denken läutert. Die Devise "Inhalte statt Information" wird travestiert zu einem Votum für die "Inhaltslosigkeit der Information". Der kritische Impetus des Auswendiglernens bleibt gleichwohl erhalten: Im Unterschied zur Mnemonikfeindschaft der Innerlichkeitspädagogik betont Hegel die disziplinatorische Eigenaktivität, die nötig ist, um Informationen, gleich welcher Art, im Gedächtnis zu behalten – ein Gedanke, der unter den Auspizien der Informationsgesellschaft Beachtung verdient, da er eine Gegenbewegung zur Tendenz passiven Datenkonsums zu begründen vermag. Gerade weil er nicht mit den Ansprüchen einer intuitionistischen Metaphysik beladen wird, vermeidet er die damit verbundene Gefahr, sich im er-innernden Aneignen widerstandslos dem Strömen der Informationsfluten zu überlassen.

Hegels Ansatz treibt die humanistische Bildungsidee, die stets auf einer Kritik verdinglichter Inhalte und ihrer Sublimierung in einem – Subjekt und Objekt wechselseitig ergreifenden – Transformationsprozeß beruhte, auf die Spitze: Die Fähigkeit zur bildsamen Selbstverwandlung wird von der Entäußerung bis hin zur Vertilgung der Inhalte abhängig gemacht. Dieser dialektischen Konsequenz des Bildungsbegriffs arbeitet eine Auffassung innerhalb der neueren Informatik zu, die sich als Rückkehr zu den Urspüngen des Informationsbegriffs versteht. In ihrem Plädoyer Wider den dinglichen Informationsbegriff schreiben Peter Fleissner und Wolfgang Hofkirchner: "In-Formation: das selbstorganisierte Sich-in-Form-bringen gleich welchen Systems – das ist der Begriffsinhalt, der an die alte Bedeutung anknüpft und sie im Lichte jüngster Forschungen neu interpretiert."[41]

Für unser Beispiel folgt daraus, daß die Gedichtauswahl meines Sohnes völlig belanglos wäre. Was ich im Interesse einer optimalen Erfüllung meines Wunsches einzig zu beachten hätte, wäre der mechanische Fortgang der Rezitation, nicht ihr Inhalt. Denn nach Hegel ist der Weg das Ziel.[42]

 

 

V. So weit die Füße tragen.
Informationsbildung

 

Das berühmte Diktum aus dem Abschluß der Logik geht freilich von einem kargen Begriff des Weges aus, der seinen Erfahrungsgehalt auf die reine Denkfunktion reduziert. Was Hegels Votum für ein mechanisches Auswendiglernen ignoriert, ist die Tatsache, daß gerade das sinnentleerte Reproduzieren höchst intensive somatische Effekte hervorruft: Das Prinzip der schieren Repetition ist die physiologische Voraussetzung aller Ekstasetechniken. Mit monotonen Rhythmen trommeln sich die Schamanen, chanten sich die Lamas, zirkulieren sich die Derwische seit je in Trance. Wer also für ein Auswendiglernen im Sinne mechanischer Repetition plädiert, weil er unter Bildung nicht nur Informationsaufnahme, sondern ein Transformationsgeschehen begreift, darf das die Eingeweide durchdringende, taktil erfahrbare Moment dieser Gedächtnisfunktion nicht außer Acht lassen. Wie eng sich zum Beispiel unser Einmaleins mit archaischen Ekstasepraktiken berührt, demonstriert ein Erlebnis von Alain Gheerbrant: Der französische Ethnologe und Schriftsteller versuchte, Zugang zu einem indianischen Trance-Ritual zu bekommen – zunächst vergeblich. Nach wiederholter Abweisung durch den Häuptling verfiel er auf einen Trick: Als es Zeit war, sich zum Schlafen in die Zelte zurückzuziehen, sang er gemeinsam mit einem Gefährten Multiplikationsreihen, eine monotone Litanei, wie sie ihnen in der Schule eingepaukt worden war. Bald schon kam der Indianerhäuptling an ihr Zelt und war für einen wechselseitigen Geheimnisaustausch über die jeweils verwendeten Magieformeln zu haben.

Der Informationsgehalt derartiger Memorialfunktionen beruht wie bei Hegel auf dem Absehen von den memorierten Inhalten, doch anders als bei diesem geht er im reinen Geist nicht auf. Als taktile Empfindung ist er in-formativ im Sinne der Ein-Prägung vor allem Inhalt. Genau dies ist die Wirkung informationstechnischer Medien. Auf sie spielte Marshall McLuhan an, als er seine Formel "the medium is the message" präzisierte zu "the medium is massage"[43]. Die Massagewirkung ist es, die die neuen Medien mit alten medialen Praktiken verbindet. Verfehlt ist beiden gegenüber die Erwartung, daß Inhalte vermittelt werden. Beide sind dazu angetan, einen ekstatischen Vergessenstaumel zu erzeugen.[44] Just in der Tatsache, daß das Internet den Informationssuchenden durstig läßt, offenbart sich die message des Mediums, das ähnliche Funktionen erfüllt wie die Weihwasserduschen des äthiopischen Paters Tensae: sie wollen das irdische Verlangen in der Taufe des Vergessens wegspülen, nicht speisen.

Hat man sich einmal klargemacht, daß das Auswendiglernen gleichermaßen wie die neuen Informationsmedien Amnesie bewirkt, wird man es nicht mehr als deren Antidot empfehlen können. Mein Geburtstagswunsch war verfehlt. Mit Rührung erkenne ich nun, daß mein Sohn mit seinem Kurzgedicht eine schier unlösbare Aufgabe glänzend meisterte: Er befolgte das Desiderat, indem er es zugleich seiner Falschheit überführte. Genauso weise wie die beiden Ameisen, die zu Recht so genannt werden, verzichtete er darauf, über dem durch meine Erwartungshaltung gesteckten Ziel einer größeren Gedächtnisleistung die Mahnungen des Weges außer acht zu lassen. Es wäre, wie mir sein Gedicht versichert, gern bis zum Australien des Balladenformats gegangen, hielt es aber nicht für klug, die sich bald einstellenden Anzeichen einer Überforderung zu ignorieren. Und so belehrte er unversehens seinen Erzieher, der es hätte besser wissen müssen – von Rousseau etwa, der bei seinem Wunschkind Emile sorgsam darauf achtete, daß er nicht "seinen Geist unter der Vielfalt der Kenntnisse erdrücke". Rousseau machte es gleichsam zum bildungspolitischen Gebot, beim Auswendiglernen nicht weiter als bis Altona zu reisen. "Ich lasse ihn", berichtet er über seinen Umgang mit Emile, "die ersten Schritte tun, damit er den Eingang findet, aber ich erlaube ihm nicht, weiterzugehen." Wie bei den beiden Ameisen, so besteht auch bei Rousseau die Weisheit in der Erkenntnis, "daß man nur nach dem Maß seiner Kräfte fortschreitet, denn der Geist trägt wie der Körper nur das, was er zu tragen vermag. Wenn der Verstand sich Dinge aneignet, ehe er sie dem Gedächtnis einprägt, so ist alles, was er daraus schöpft, sein eigen. Wenn man dagegen das Gedächtnis gegen seinen Willen überlastet, läuft man Gefahr, niemals etwas eigenes hervorbringen zu können."[45]

Was folgt nun daraus für die Gedächtnisbildung in der Ära der neuen Informationstechniken? Da es das erklärte Ziel ihrer "Multimedia Learning Tools" ist, "to increase the learning rate and retention time",[46] steht zu befürchten, daß das Medium mißbräuchlich genutzt wird. Es soll – um im Bild des Ringelnatz-Gedichts zu bleiben – nach Australien versetzen, während die Füße nur von Hamburg bis Altona reichen. Die informationstechnische Bildung, wie sie heute verstanden wird, verfehlt über dem Ziel die Erfahrung des Reisens, das heißt die Bewußtwerdung für die Situation, in der sich die Schüler befinden – und sei es die Situation vor dem Computerterminal. Sie davon wegzulocken, indem man sie Gedichte auswendig lernen läßt, läuft freilich auf denselben Fehler hinaus. So wichtig auch eine informationskritische Bildung durch die Betonung von Inhalten oder des Innehaltens ist, so sehr auch der Gebrauch der Informationstechnik selbst als bildend verstanden werden muß – entscheidend ist die Entwicklung der Fähigkeit zur Informationsbildung, das heißt zur Reflexion und zur eigenen Gestaltung der Vermittlungsformen von Lerninhalten. Personalcomputer in der Schule erfordern kompetentes Personal, das dieser Aufgabe gerecht wird, anstatt sich auf die Sparmaßnahme verpflichten zu lassen, nur "Content Provider" und "Facilitator" für die modernste Form der Indoktrination: die automatisierte Information zu sein.[47]

 



[1]Vgl. Phaidros, 274e–275b.

[2] Sommer, Ron: Wir bringen die "Schulen ans Netz". In: Bertelsmann Briefe 135 (1996), S. 31—34, hier S. 33.

[3] Ebd.

[4] Vgl. etwa die Antwort von Konrad Adam auf Sommer im o.g. Heft, S. 34–37.

[5] Sommer, a.a.O., S. 33.

[6] Ravitch, Diane: When School Comes to You. In: the Economist, 11 (1993), S. 45f. Zit. nach Postman, Neil: Keine Götter mehr. Das Ende der Erziehung; Berlin 1995, S. 59.

[7] Ebd., S. 59f.

[8] Ebd., S. 61.

[9] Konrad Adam, a.a.O., S. 37. Vgl. auch seine Rezension des Buches von Postman in der FAZ v. 16.1.1996, S. 31.

[10] Stoll, Clifford: Die Wüste Internet. Geisterfahrten auf der Datenautobahn; Frankfurt am Main 1996, S. 318.

[11] The Age of Missing Information , New York 1993.

[12] Postman, a.a.O., S. 170.

[13] Steiner, George: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? München 1990, S. 21.

[14] Postman, a.a.O., S. 170.

[15] Jünger, Friedrich Georg: Gedächtnis und Erinnerung;  Frankfurt am Main 1957, S. 8.

[16] Ebd.

[17] Goldmann, Stefan: Statt Totenklage Gedächtnis. Zur Erfindung der Mnemotechnik durch Simonides von Keos.In: Poetica 21 (1989), S. 43–66.

[18] Vgl. etwa Philebos, 33f.

[19]Vgl. Phaidros, 228d–e.

[20] Nomoi, 810e.

[21] Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Frühe Schriften. A.a.O., Bd. 1, S. 346 u. 432.

[22] Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II. A.a.O., Bd. 19, S. 44.

[23] Steiner, a.a.O., S. 20.

[24] Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari; München/Berlin New York 1988, Bd. 5, S.245–412, hier S. 295.

[25] Und in seiner Nachfolge Kierkegaard: "Unter Entgegensetzung wider das im Gedächtnis Behalten begehre ich mit Themistokles, vergessen zu können; sich erinnern aber und vergessen sind keine Gegensätze." [Kierkegaard, Sören: Stadien auf des Lebens Weg. Band 1; 3. Aufl. Gütersloh 1991, S. 13.]

[26] Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In: ders.: Sämtliche Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 243–334, hier S. 248.

[27] Ebd., S. 251 u. 250 (im Original von Nietzsche hervorgehoben).

[28] Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist; Hamburg 1991, S. 69.

[29] Vgl. ebd., S. 185.

[30] Derrida, Jacques: Mémoires. Für Paul de Man ; Wien 1988, S. 60.

[31] Ebd., S. 63.

[32] Ebd., S. 64.

[33] Im folgenden lehne ich mich an Ausführungen an, die Rainer Warning bereits in wünschenswerter Klarheit gemacht hat; dabei unterscheide ich mich von seiner Darstellung lediglich in den Konsequenzen. Vgl. Warning, Rainer: Claude Simons Gedächtnisräume: La Route des Flandres. In: Haverkamp, Anselm / Lachmann, Renate (Hg.): Gedächtniskunst. Raum - Bild - Schrift. Studien zur Mnemotechnik; Frankfurt am Main 1991, S. 356–387, hier S. 357–361. Vgl. auch Schmitz, Hermann: Hegels Begriff der Erinnerung. In: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 9 (1964) , S. 37-44.

[34] Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse III. Die Philosophie des Geistes. In: Werke in zwanzig Bänden; Frankfurt am Main 1995, Bd. 10, S. 281.

[35] Ebd., S. 260.

[36] Ebd., S. 261.

[37] Ebd., S. 271.

[38] Ebd., S. 283.

[39] Ebd., S. 279.

[40] Grimm, Jakob / Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch; Reprint München 1984, Bd. 1, Sp. 1014f.

[41] Informatio Revisted. Wider den dinglichen Informationsbegriff. In: Informatik Forum, Bd. 9, Nr. 3, November 1995, S. 126–131, hier S. 131.

[42] Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik II. In: Werke in zwanzig Bänden; Frankfurt am Main 1995, Bd. 6, S. 548ff.

[43] McLuhan, Herbert Marshall / Fiore, Quentin: Das Medium ist Massage; Frankfurt am Main / Berlin 1969.

[44] Vgl. hierzu meinen Aufsatz:www.heavensgate.com – Virtuelles Leben zwischen Eskapismus und Ekstase. In: Paragrana 6 (1997), H.1, S. 129–147.

[45] Rousseau, Jean Jacques: Emil oder über die Erziehung; 4. Aufl. Paderborn 1978, S. 208.

[46] So Robert Beck, der Direktor des Chicagoer Institute of Image Processing Sciences, in einemVortrag, gehalten am 21.10.1996 in der Humboldt-Universität zu Berlin.

[47]Beck, a.a.O.