Peter Matussek

Der selbstbezügliche Blick.

Ein Merkmal des erinnernden Sehens und seine medialen Metamorphosen

 


Erschienen in: Zeitschrift für Germanistik 3 (1999), S. 637–-54.

 





"Eine interessante Interpretation bietet Peter Matussek in der 'Zeitschrift für Germanistik' (3/1999) an. Das technische Reproduktionsmittel – Kamera/Monitor – erscheine, ganz entgegen Walter Benjamins Progrnose, nun als 'das eigentlich auratische Objekt, demgegenüber die Buddhafigur nur Diener ist, Priester einer Kultpraxis."
Generalanzeiger

     
 

Staunen mag, wer die seit einigen Jahren virulente Diskussion um den sogenannten iconic oder pictorial turn[1]verfolgt: Bisweilen wird mit einer Emphase für ihn gestritten, als gelte es, den kulturanalytischen Alleinvertretungsanspruch, den der linguistic turn für sich beanspruchte und der inzwischen als lähmend erkannt wird, mit umgekehrten Vorzeichen zu restituieren. Dabei zeigen uns doch schon die PET-Scans der Hirnforschung in leuchtenden Farben, daß angesichts der neuronalen Kräfteverhältnisse Gelassenheit angebracht wäre: Der visuelle Kortex umfaßt weit über die Hälfte der Großhirnrinde und läßt das für die Sprache zuständige Broca-Zentrum vergleichsweise dürftig aussehen. Dies nährt unter Visualprimaten den alten Verdacht, daß das Wort, das am Anfang gewesen sein soll, kulturgeschichtlich chancenlos gewesen wäre, wenn ihm nicht das Sehen mit äußeren wie inneren Illustrationshilfen, Schriftzeichen und Tropen, beigestanden hätte. Indessen wollen auch Bilder gelesen sein, und wer das nicht tut, wer also die immanente Narrativität der Bilder[2] nicht erkennt, dessen Sehvermögen ist eingeschränkt. Freilich folgt die ikonologische oder piktogrammatische Lektüre eigenen Gesetzmäßigkeiten der Blickbewegung. Und das gilt selbstverständlich auch noch für die von phänomenophoben Medientheoretikern betonte digitale Kodiertheit elektronisch generierter und präsentierter Bilder. Das "Scanning" der menschlichen Bildbetrachtung funktioniert, wie Vilém Flusser die irreführend technoide Metapher zurechtrückend konstatiert, nicht wie das apparative zeilenweise, sondern schweifend.[3] Gerade die relativ große Eigengesetzlichkeit beider Vermögen indessen ermöglicht eine "Doppelcodierung […], wonach das 'verbale System' des Gedächtnisses mit dem 'imaginalen System' derart verbunden ist, daß ein Bild oder Begriff das jeweils korrespondierende System aktivieren kann".[4] So wird auch der neue Paragone nur insoweit Erfolge bringen, wie er zur Klärung der unterschiedlichen Kompetenzen von Wort und Bild und ihrer Wechselwirkungen beiträgt.

Die Notwendigkeit einer Aufmerksamkeit für die Ambiguität des Bildes, die es weder ikonoklastisch auf linguistische Termini abzieht noch seine Zeichenhaftigkeit ikonolatrisch verleugnet[5], zeigt sich insbesondere hinsichtlich seiner Einflüsse auf das Gedächtnis. Diese sind zweischneidig.

Zum einen: Es gibt keine effektiveren Mnemotechniken und keine stabileren Memorialkulturen als solche, die visuell orientiert sind. Bilderverbote und Bilderstürme widersprechen dieser Beobachtung keineswegs, sondern sind deren deutlichste Symptomträger: Sie bestätigen die Eindringlichkeit des Bildes durch die Heftigkeit, mit der sie sie bekämpfen. Warum die ikonische Form der mentalen Speicherung stabiler ist als etwa die auditive oder literale[6], läßt sich heute mit Labormethoden nachweisen. So haben psychologische Tests ergeben, daß die Retentionsleistung eines Menschen in einer direkten Korrelation zu seiner räumlichen Visualisierungskapazität steht.[7] Im Kern freilich ist diese Entdeckung uralt: Daß Topographien die besten Merkmethoden sind, hat schon Simonides von Keos erkannt. Die angeblichen Umstände seiner Entdeckung aber müssen stutzig machen: Ein Palasteinsturz und die daraus resultierende Not, Leichen einzig anhand ihrer Positionen zu identifizieren, soll Simonides darauf gebracht haben, daß Memorabilia sich am besten einprägen, wenn man ihnen imaginäre Gedächntisorte zuweist. Daß ausgerechnet ein für seine gefühlvollen Trauerklagen berühmter Sänger im Angesicht der Katastrophe, der er nur knapp entrann, eine so nüchterne Entdeckung wie die Gedächtniskunst gemacht habe, ist denn auch inzwischen als Legitimationslegende der römischen Rhetorik entlarvt.[8]

Doch diese – und das offenbart die Zweischneidigkeit des visuellen Gedächntisses – hatte sich im Grunde schon selbst als instrumentalistische Reduktion von lebendiger Erinnerung in totes Gedächtnis zu erkennen gegeben. Die zur Illustration des Verfahrens herangezogene Geschichte dokumentiert ja überdeutlich, wie aus der ästhetischen Kunst der Mnemosyne die technische Kunst der Mnemonik wird: Das in Analogie zur Identifizierung von verschütteten Leichen gebildete Verfahren der loci et imagines  kann offensichtlich nur solche Memorabilia vorrätig halten, die zuvor mortifiziert wurden. Dem legitimatorischen Gedächtnisbild über die Urspünge und die Methode der Mnemonik ist also unterschwellig eine gegenläufige Bedeutung beigegeben – die Erinnerung an diejenigen Qualitäten, die bei dieser Form der Einprägung verloren gehen. Ein entsprechendes Sehen vermag die Statuarik der äußeren Erscheinung zu durchringen und das verborgene Leben der Bilder, ihre unsichtbare Dynamik wahrzunehmen. Um es zu aktivieren, bedarf es einer anderen Art des Blicks als derjenigen, die sich im Registrieren von ikonographischen Informationsgehalten erschöpft – eines Blicks, der auf sich selbst, seine eigenen Bedingtheiten achtet. Ihn werde ich im folgenden als Merkmal des erinnernden Sehens zu explizieren suchen. Zu diesem Zweck formuliere ich zunächst einige systematische Bemerkungen, die das erinnernde Sehen als kontrafaktisches, produktives Vermögen charakterisieren; danach werde ich in einem historischen Dreischritt – Antike, 18. und 20. Jahrhundert – untersuchen, welchen Veränderungen der selbstbezügliche Blick im Wandel der ästhetischen Medien unterworfen ist.

 


Erinnerndes Sehen -
die Selbstüberwindung des visuellen Gedächtnisses

 

Nicht minder alt als die Ursprünge der topographischen Gedächtniskunst ist der Appell, den Augen nicht zu trauen und ihnen schon gar nicht das Erinnern anzuvertrauen. Wie Platon mehrfach hervorhebt, erweist sich "von den körperlichen Wahrnehmungen […] für uns die optische als schärfste" (Phaidros 250d, vgl. Politeia 507c u.ö.) – und gerade deshalb sind visuelle Gedächtnisstützen, die Hypomnemata, das größte Hindernis für die wahre Erinnerung, die Anamnesis. Im Anschluß an die berühmte Phaidros-Stelle, in der die Buchstabenschrift als trügerische Erinnerungshilfe kritisiert wird, überträgt Sokrates ausdrücklich seine Befunde auch auf bildliche Darstellungen: "Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift […] und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich: Denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still" (Phaidros 275d). Dennoch verurteilt Plato den Augensinn nicht. Vielmehr fordert er ein anderes Sehen. Der Anblick von schönen Menschen etwa könne – je nachdem, wie weit es gelingt, sie ohne irdische Begierde zu betrachten – zu einem mehr oder weniger deutlichen Wiedererkennen der Urbilder des Schönen führen, welche das "Auge der Seele" (Politeia 533d) einst geschaut hat (vgl. Phaidros 249c). Diese visuelle  Anamnesis der Ideen bedeutet, wie Gottfried Boehm im Rückgriff auf Gadamer betont, "nicht nur Rückbezug auf präexistente und solare Fixpunkte an einem zeitlosen, außerweltlichen Firmament, sondern zugleich auch, daß das Wiedererinnern diese Urbilder bereichert, unerschöpflich und fruchtbar werden läßt."[9] Das Re-Medium des visuellen Gedächtnisses, das dessen Mortifikationen rückgängig macht, ist diesem artverwandt: es ist das erinnernde Sehen.

Was nun genau die Differenz zwischen beiden Vermögen ausmacht, die Platon und – in variierter Bedeutung – Aristoteles mit den Begriffen Mneme und Anamnesis explizierten[10], ist bis heute umstritten. Gerade der von Hegel angestrengte Versuch, die deutsche Etymologie von Gedächtnis und Erinnerung für die Gegenüberstellung von Auswendigem und Inwendigem zu bemühen, verfängt sich in der von ihm selbst durchschauten Dialektik, daß das Er-Innern ohne die Inanspruchnahme äußerer Zeichen in einem "nächtlichen Schacht" versinken müsse und insofern abstrakt sei. "Solches abstrakt aufbewahrte Bild", erklärt Hegel nun, "bedarf zu seinem Dasein einer daseienden Anschauung".[11] Jacques Derrida hat im Anschluß an Paul de Man diese Dialektik aufgegriffen und versucht, gegen das französische Äquivalent des Erinnerungsbegriffs, die mémoire involontaire, ihn als "Intimation" in seine Landessprache zu übertragen und ihm damit den falschen Schein der reinen Innerlichkeit zu nehmen: Das Wort spielt gleichzeitig auf "Intimität" wie auch auf deren Gegensatz, den "Befehl oder das Gebot" an: "on intime l'ordre", sagt man im Französischen.[12] Derrida begründet diese Doppeldeutigkeit damit, daß die Verinnerlichung immer auf die Sprache des Verinnerlichten angewiesen bleibt. Und doch ist es unabweisbar, daß wir von sehr verschiedenen Erfahrungsqualitäten sprechen, wenn wir sagen, wir erinnerten uns bei der Betrachtung eines Bildes: Es kann bedeuten, daß wir schlicht seine objektiven ikonographischen Merkmale wiedererkennen, wie wir sie etwa im Studium gelernt haben, oder daß wir uns – sei es nun anläßlich dieser oder anderer, eventuell unbewußter Merkmale – in eine Situation und Atmosphäre der Selbstbegegnung versetzt fühlen. Auch dabei wird Vergangenes gegenwärtig. Aber ist dieser Vorgang wirklich genauso durch Fixationen determiniert, wie der Abruf aus einem lexikalischen Speicher? Hat das Erinnern faktisch nicht, wie Phänomenologen behaupten, eine vom Gedächtnis unterschiedene Seinsweise?[13]

Ausgerechnet die faktizistischste aller Bewußtseinsforschungen scheint den qualitativen Unterschied neuerdings zu bestätigen: Für die Neurowissenschaften steht fest, daß wir über zwei grundsätzlich verschiedene Gedächtnisarten verfügen, das implizite bzw. prozedurale und das explizite bzw. deklarative Gedächtnis. Das eine arbeitet mechanisch und unbewußt – so daß wir z.B. ohne Nachdenken radfahren oder ikonographische Daten aufsagen können, wenn wir sie einmal auswendiggelernt haben. Das andere bezieht sich auf autobiographische Erlebnisse und Ereignisse – so daß wir uns etwa unserer Erlebnisse bei einer Radtour oder eines Museumsbesuches erinnern können. Was uns dabei in der – von technischen Bildern genährten – Vorstellung erscheinen mag, wie der Abruf aus einem inneren Archiv, ist in Wirklichkeit ein "Remake" aus variablen neuronalen Erregungsmustern, die mehr oder weniger den Erregungsmustern bei der Wahrnehmung der urspünglichen Eindrücke ähneln. Während also die Adressen in einem Computerspeicher festgelegt sind, ist das erinnernde Sehen, neurophysiologisch betrachtet, ein schöpferischer Prozeß, der vergangene Ereignisse oder Erlebnisse interpretiert und im Sinne einer aktiven Synthese re-konstruiert.[14] Kurz: Explizites Erinnern heißt die eigene Vorgeschichte produktiv Imaginieren.

Freilich hieße es den Bock zum Gärtner machen, wollte man die Neurowissenschaften als Anwälte einer Phänomenologie der Wahrnehmung berufen. Sie sind ja ihrerseits mit ihren hochkomplexen bildgebenden Verfahren, die keineswegs das Hirngeschehen selbst zeigen, sondern eine spezifische apparative Projektion, das Produkt einer historisch kontingenten Sichtweise.[15] Anstatt sich auf ein technisch induziertes Bild von unseren Gedächntisfunktionen zu kaprizieren, gilt es umgekehrt, die mediengeschichtlich wechselnden Wahrnehmungssituationen zu untersuchen, in denen die Bildwahrnehmung sich ihrer selbst inne ward. Hinter die empirischen Befunde jedoch kann nicht zurück, wer die historische Anthropologie des erinnernden Sehens untersuchen will – und das heißt auch: die Schimäre verabschieden, wonach es Bilder gäbe, die aus einem kollektiven Unbewußten wie aus einem urgeschichtlichen Bilderfundus abgerufen werden könnten. C.G. Jungs Archetypenlehre kann also nicht als Vorläufer der hier propagierten Untersuchungen zum erinnernden Sehen angesehen werden, höchstens als Symptom für die evokatorische Kraft von Bildern, deren anamnetisches Potential bis in präexistente Urspünge hinabzureichen scheint. Dagegen wird Aby Warburgs Mnemosyne-Projekt dem konstruktiven Charakter des zu erforschenden Phänomens weit eher gerecht. In Bildkonstellationen sucht es das Nachleben der Antike zu erfassen, die "Präsenz des Vergangenen" in der jeweiligen Gegenwart – ein Verfahren freilich, das weitgehend philologisch orientiert ist, nicht phänomenologisch.[16] So bleibt das Erlebnis des erinnernden Sehens auf den Betrachter und seine Veranlassung durch die Blickregie des Bildes bei ihm noch grundsätzlich ausgespart. Rezeptionsästhetische Fragestellungen mußten in der Kunstgeschichte erst durch das Vorbild der Literaturwissenschaft angeregt und (wieder-)entdeckt werden.[17] Doch bis heute ist ihre Anwendung auf Erinnerungsvorgänge bei der Bildbetrachtung eher selten. Wo sie stattfindet – in Ansätzen etwa bei Hans Belting und programmatisch bei Gottfried Boehm – scheint man sich darüber einig, daß eine historische Anthropologie des "menschlichen Verhaltens vor dem Bild" kein gangbarer Weg sei, und es vielmehr gelte, den Betrachter im Werk und dessen Rezeptionsimpulsen aufzusuchen.[18] Entsprechend definiert Gottfried Boehm: "Erinnerndes Sehen wird vom Bilde immer dann angestoßen, wenn seine Struktur die Weiterentwicklung in der Zeit, das Mitsehen von Abwesendem intendiert und steuert."[19] An diese Grundbestimmung werde ich mich im folgenden anschließen, wobei es mir erforderlich scheint, ihr die verschmähte Frage nach den lebensweltlichen Rahmenbedingungen der Bildbetrachtung an die Seite zu stellen. Denn das Abwesende eines Bildes, das anamnetisch evoziert wird, rekurriert auf die Einbildungskraft des Betrachters, und diese wiederum wird – sei es im Modus der Annahme oder Abwehr – beeinflußt durch die medialen Veränderungen der Formen, in denen das Sehen seiner selbst ansichtig wird. Dies kann hier nicht ausgeführt werden.[20] Ich begnüge mich im folgenden mit exemplarischen Andeutungen der mediengeschichtlichen Differenzen. Dabei nehme ich als Konstitutionsbedingung des Blicks in der Antike die Kultbildpraxis, die von transsubjektiven Erinnerungsursachen ausgeht, in der Spätaufklärung das Konstrukt des natürlichen Menschen, der sein Sehen innersubjektiv zur fühlenden Selbstvergewisserung vertieft, und im 20. Jahrhundert schließlich die Techniken der Bildanimation, die auf externalisierte Gedächtnisse zugreifen und insofern erneut transsubjektiv orientiert sind, jedoch anders als in der Antike keine glaubwürdige Internalisierungsstrategie mehr zulassen. Wenn also im folgenden durchgängig von selbstbezüglichen Blicken die Rede ist, so sind doch die Subjekte dieses Bezuges jeweils verschieden. Es kann der Betrachter sein, der sich im Werk oder im Vollzug des Betrachtens erkennt; es kann aber auch das Werk sein, das auf sich selbst verweist und durch seinen Selbstbezug zum Modell für den des Betrachters wird. Gemeinsam ist all diesen Spielarten, daß sie als Merkmale des erinnernden Sehens gedeutet werden können.

 


Antike Kultbildpraxis: Erinnerung transpersonaler Ursprünge

 

Die Anfänge des selbstbezüglichen Blicks liegen im Dunklen.[21] Woran wir uns aber halten können, sind seine Ursprungsmythen. In ihnen fließen die verschiedenen rudimentären Erfahrungen zusammen, in denen Menschen der Frühzeit sich im Vorgang des Betrachtens ihrer kosmologischen Herkunft, ihrer Ahnen, ihrer eigenen Lebensgeschichte innewurden. Ein spätes Produkt dieser mythologischen Rechenschaft über das erinnernde Sehen, in dem der ursprünglich sakrale Transformationscharakter visueller Objekte bereits zum Gleichnis für künstlerische Produktion und Rezeption zu werden beginnt, ist Ovids Überlieferung der Pygmalionsage. Bei aller Unsicherheit über die genaue Herkunft der Quellen besteht kein Zweifel, daß die Metamorphosen wesentlich älteres, auch vorantikes Material kompiliert und narrativ verdichtet haben, so daß auch in dieser Geschichte heterogene Traditionsstränge des Motivs der (Wieder-)belebung von Statuen verflochten sind[22], die aber zugleich einer neuen Deutung unterzogen werden. Diese Doppelstellung der Metamorphosen[23] teilt sich auch der Erzählung selbst mit. Denn sie handelt von zwei Arten der Animation: Diejenige, die mit Heirat und Kindern schließlich das Happy End der Geschichte besiegelt, entspricht der sakralen Kultbildpraxis; die Statue ist hier lediglich das Gefäß, in das die von Pygmalion im Opferritus angeflehte Venus ihre göttliche Flamme des Lebens einfahren läßt (X 270–279). Noch maßt sich der Mensch nicht an, sein Werk dem der Gottheit gleichzustellen: Pygmalion bittet denn auch nur um eine Gattin, die seiner "elfenbeinernen ähnlich" sei. Doch ihm lag es bereits auf der Zunge, seine Schöpferkraft als ebenbürtig darzustellen – nur ein Rest von anerzogener Ehrfurcht hindert ihn daran (275f.). Denn eigentlich hat er, schon bevor es zu diesem traditionellen Animationsakt kommt, einen anderen, autogenen, bereits vollzogen: die scheinbare Beseelung der Statue durch den sie erschaffenden Künstler. Zweifellos ist dieser erste Teil der modernere und literarisch raffiniertere. Denn hier galt es glaubhaft zu machen, daß das Werk selbst schon – vor der rituellen Praxis – beseelt war, beseelt durch den Künstler, der sich seiner eigenen schöpferischen Quellen erinnerte. Die Konfrontation der beiden Textpartien offenbart, daß es gerade die Unaufgelöstheit des ästhetischen Scheins ins reale Leben ist, die das Kunstwerk lebendig erscheinen läßt. Um dies zu verdeutlichen, sei zunächst ein Blick auf den literarischen Kontext geworfen.

Die Geschichte Pygmalions wird von Orpheus erzählt – dem Sänger, der seine verstorbene Geliebte nur solange reanimieren kann, wie er sie nicht "habsüchtig"  zu sehen verlangt (avidusque videndi, 56): Die erinnernde Belebung der Toten kann nur insoweit gelingen, wie sie nicht in einen festen Besitz überführt wird – platonisch gesprochen: wie der anamnetische Prozeß nicht hypomnematisch fixiert wird. In dem Moment, wo aus der nichtfixierbaren, lebendigen Erinnerung ein fester Bestand, ein objektiviertes Gedächtnis werden soll, ist Eurydike für immer verloren. In seiner Wendung nach außen verleugnet Orpheus das Organ, das ihn die Nähe der Geliebten fühlen läßt. Sie haben zu wollen heißt, ihr einzig noch mögliches Dasein zu negieren. Pygmalions Statue freilich darf unter den Lebenden bleiben, aber (sit venia verbo) sie wird geheiratet, was literarisch ihrem Ende gleichkommt: Die verwirklichte Phantasie verwandelt diese in ein Phantom. Was Pygmalion am Ende erhält, ist, wie Hartmut Böhme schreibt, "keine Frau, sondern eine Untote, ein Double, ein Zombie." Pygmalion verfehle – analog zu Orpheus – "das Divine des Schaffens gerade, indem er den Abstand zur lebendigen Schöpfung nicht gelassen ertragen kann"[24]. Wie nun aber das Divine seines Schaffens überhaupt zustandekommt, das im ersten Teil der Geschichte offenbar ohne die göttliche Einwirkung von außen schon besselende Wirkung zu haben scheint, sei im folgenden näher untersucht.

Was Pygmalion zur Schöpfung seiner Wunschfrau veranlaßt, ist Enttäuschung über die realen Frauen (schon das muß gegenüber dem Ende der Geschichte, die in der Heirat eines verwirklichten Frauenbildes kulminiert, skeptisch stimmen). Als Beispiel für die grundsätzlichen Fehler der weiblichen Natur hat er die Töchter des Propœtus vor Augen. Diese nämlich sind schamlos gewesen; und zur Strafe hat Venus sie zu Skulpturen erstarren lassen: "Und, wie dahin ihre Scham, wie kein Blut ihre Wangen mehr rötet,/ sind sie – nur wenig gewandelt – zu kalten Steinen geworden." (241f.) Die genaue Inversion dieser Metamorphose vollzieht nun Pygmalion: Er schafft sich aus weißem Elfenbein "eine Gestalt, wie sie nie ein geborenes Weib kann/ haben" – also eine dezidiert virtuelle Realität. Und was diese dann in seiner Anschauung lebendig erscheinen läßt, ist just die Eigenschaft, deren Fehlen die Propœtus-Töchter zu toten Skulpturen erstarren ließ: "Wie einer wirklichen Jungfrau ihr Antlitz, du glaubtest, sie lebe,/ wolle sich regen, wenn die Scham es ihr nicht verböte." (250f.)[25] Warum macht Ovid gerade die Scham zum Lebenszeichen?

Daß in der Antike – entgegen der tradierten These vom spätzivilisatorischen Aufbau der Schamschwelle, wie sie noch von Elias und Sennett vertreten wird[26] – das Schamgefühl ein tief im kulturellen Leben verankerter Affekt war, dürfte inzwischen als erwiesen gelten.[27] Nun hat Scham, folgt man der Definition von Michael Lewis, zwei Aspekte, einen bewegenden und einen hemmenden: Zum einen ist "Scham ein Gefühlszustand […], der damit zusammenhängt, daß wir bewußt auf uns selber achten"; zum anderen soll Scham "für die Vermeidung von Verhaltensweisen sorgen, die wahrscheinlich Scham verursachen werden".[28] Beide Aspekte werden von Pygmalion an seiner Statue wahrgenommen, wenn es heißt, daß nur die Scham sie hinderte, sich zu regen. Äußerst geschickt nimmt Ovid gerade die Starrheit der Statue, die Reglosigkeit des Materials, als Indiz für ihre Selbstreflexivität. Daß sie stillhält, zeigt ihm, daß sie beseelt ist.

Das Paradox der statuarischen Bewegtheit wiederum läßt sich als Erinnerungsmoment präzisieren. Es entspricht der Alltagserfahrung, daß wir uns einer körperlichen Bewegung gerade dann inne werden, wenn wir sie plötzlich anhalten. Denn das ist der Moment, in dem unsere Aufmerksamkeit für das Nachempfinden des soeben noch mechanisch vollzogenen Prozesses geweckt wird. Henri Bergson erläutert just an diesem Beispiel den Unterschied zwischen automatischem und attentivem Wiedererkennen und gibt uns mit dem letzteren, der mémoire attentive, ein Kriterium für das erinnernde Sehen an die Hand.[29] Dieses läßt sich auf Pygmalions Statue übertragen: Sie scheint einen Bewegungsimpuls aus Scham zu unterdrücken und in diesem Innehalten ihrer selbst bewußt zu werden. Aber was hat ihr diesen selbstbezüglichen Blick verliehen?

Es ist der Blick des Künstlers – und zwar in einem doppelten Sinn: Zum einen ist ja er es, der ihr den Schamanlaß gibt; ohne seine Anwesenheit gäbe es für sie keinen Grund, sich zu genieren. Zum anderen ist sie vollständig aus seiner Einbildungskraft geschöpft. Explizit stellt Ovid klar, daß es für Pygmalions Statue kein Vorbild in der Realität gibt; sie ist also nicht nach dem Gedächtnis schon gesehener Frauen gebildet, sondern nach den Phantasien klassischer Männersehnsüchte: irreal vollendet in der Gestalt, mit elfenbeinern glatter Oberfläche und vor allem reglos still. Pygmalions Traumfrau bezieht denn auch ihren Reiz für ihn zunächst aus ihrer idolatrischen Unnahbarkeit: Er bestaunt und verehrt sie und unterdrückt den ersten Impuls, sie zu küssen und zu umfangen, da er "fürchtet, es mache der Druck das berührte Glied sich verfärben" (257f.). Sie ist also nicht nur das scheinbare Subjekt, sondern selbst das realisierte Produkt einer mémoire attentive: Durch das Unterbrechen des natürlichen Beziehungsverhaltens zwischen den Geschlechtern erinnert sich Pygmalion einer Sehnsucht, deren Ursprung in ihm allein liegt: So ward er "von Liebe zum eigenen Werk ergriffen" (249). Der selbstbezüglicher Blick Pygmalions also ist es, der seiner Figur den ihren verleiht.

Der anamnetische Prozeß, der in dieser Blickbewegung liegt, ist mit der platonischen Anamnesis verwandt. Im Phaidros führt Sokrates aus, daß die erotische Begeisterung eine Form des Wahnsinns sei, die "von den Musen" komme (245a); sie erkläre sich aus der "Erinnerung an das, was unsere Seele einst gesehen hat" (249c). Dieses einst Gesehene ist, wie im Falle Pygmalions, nicht von dieser Welt, wohl aber durch den defizienten Modus der irdischen Körper veranlaßt: "Das also ist es, worauf unsere ganze Erörterung der vierten Art des Wahnsinns hinausläuft, die, wenn jemand, durch den Anblick der Schönheit hier auf Erden an die wahre erinnert, dadurch Flügel erhält und beschwingt den Wunsch hat, emporzufliegen, es aber nicht kann und nun, wie ein Vogel mit dem Blick nach oben, ohne sich um die Dinge unten zu kümmern, sich den Vorwurf zuzieht, er sei nicht bei Sinnen – daß also von allen Verzückungen diese als die beste sich erweist und aus bestem Anlaß sowohl für den, der sie in sich hat, als auch für den, der nur an ihr teilhat, und daß, wer das Schöne begehrt, wenn er von diesem Wahnsinn erfaßt, Liebender genannt wird." (249e) Auch der Philosoph also muß erst  "sich erinnern […] lassen von den Dingen hier unten an jene anderen" (250a), und es kommt einzig darauf an, was aus diesem Erinnerungsanlaß gemacht wird. Platon beschreibt zwei Möglichkeiten der Reaktion auf den Anblick der Schönheit:

Wessen Einweihung nun schon länger zurückliegt oder wer verdorben ist, der wendet sich nicht schnell von hier nach dort der Schönheit selbst zu, wenn er erblickt, was hier nach ihr benannt wird, so daß er nicht in Anbetung fällt bei ihrem Anblick, sondern der Sinnenlust gefügig sucht er, gleich dem Vieh, zu besteigen und Kinder zu zeugen, und hat, in ungezügelter Ausschweifung, weder Furcht noch Schamgefühl, wider die Natur der Lust nachzugehen. Der frisch Eingeweihte dagegen, der viel gesehen hat von den damaligen Dingen, wenn der ein göttergleiches Gesicht erblickt, das die Schönheit getreulich spiegelt, oder auch eine körperliche Gestalt, dann ergreift ihn als erstes ein Schauer und etwas von den damaligen Beklemmungen beschleicht ihn, dann aber blickt er auf ihn wie auf einen Gott, voller Verehrung, und wenn er nicht den Ruf heftigen Wahnsinns fürchtete, so möchte er dem Geliebten Opfer bringen wie einem Götterbild und einem Gott. (250e–251a)

 

Auch wenn Pygamalion letztlich dem zweiten Typ zuzurechnen ist, verhält er sich doch zunächst philosophisch im Sinne Platons. Seiner Paarung mit der Statue geht ja durchaus der andächtige "Schauer" voraus, der zu schamhafter Zurückhaltung gemahnt. So partizipiert Ovids Geschichte an der Anamnesislehre, kehrt aber deren innere Dynamik um: Was bei Platon am Ende des Erinnerungsprozesses steht, das Sehen mit dem Auge der Seele, bildet hier den Anfang einer Entwicklung, die ihr Telos in der Verwirklichung des Idealbildes hat. Daß Pygmalion den artifiziellen Charakter seiner Schöpfung nicht gelassen ertragen kann, sondern diese ins Leben zu ziehen versucht, kann als Rückfall in archaische Kultbildpraktiken gelesen werden. Diese beruhen nicht auf dem nach innen gewendeten Blick allein, sondern auf der gefühlten Präsenz des äußeren Bildes, das im rituellen Vollzug lebendig wird. In diesem performativen Akt erst wird der Statue Empfindungsfähigkeit zugesprochen ("Die Jungfrau fühlte die Küsse" – 292); erst jetzt scheint sie "zu erwarmen", wird sie "weich" und verliert ihre "Starrheit" (281ff.). Mochte der Künstler Pygmalion auch den heimlichen Ehrgeiz gehabt haben, seiner Schöpfung diese Attribute selbst zu verleihen, vermag er sie letztlich doch nur als Priester von der Gottheit zu erlangen.

Bis zu den Geniekonzeptionen des 18. Jahrhunderts und ihrer Apotheose des Künstlers wird es nicht gelingen, Belebung anders als im traditionellen Sinne durch göttliche oder magische Einwirkung zu erklären. Noch in dem Pontormo zugeschriebenen Gemälde von 1529/30 steht im Zentrum das Kultopfer als der eigentliche Animationsgrund. Erst unter dem Eindruck der rationalen Natursysteme und der ersten Automaten wurde Animation zu einem Dispositiv, das aus irdischen Ursachen zu erklären war. Das Ungenügen des selbstbezüglichen Blicks, wie er sich in der Schamreaktion offenbart, ließ sich nun divinatorisch nicht mehr glaubhaft kompensieren. Die Beseelung des Körpers, Leiblichkeit, war ihrerseits im Selbstbezug zu erfahren.

 


Spätaufklärung: Der sich spürende Blick

 

Der Übergang vom äußerlichen Blick in ein inneres Betrachten und Fühlen – das große Thema der Spätaufklärung – spiegelt sich präzise in den Bearbeitungen des Pygmalion-Stoffs durch Rameau und Rousseau. Während die ersten Worte der Statue in Rameaus Ballett noch lauten: "Que vois-je?"[30] erwacht Rousseaus Galathea wenig später mit einem sich ertastenden "Moi".[31] Hartmut Böhme erläutert:

Wodurch wird sie sich inne? Nicht durch das Sehen, sondern durch die Selbstberührung und die Berührung des nicht-eigenen Leibes. Selbstberührung ist autoreflexiv: wir spüren uns zugleich identisch und different mit der eigenen Hand, mit der wir uns berühren, und in der eigenen Haut, über die wir streichen. […] Man kann nicht etwas spüren, ohne zugleich sich zu spüren. […] Der berühmte, gegen Descartes' "Cogito ergo sum" gerichtete Doppelruf Herders: "Ich fühle mich! Ich bin!" ist der Kontrapunkt zum Visualprimat.[32]

Der Hinweis auf Herder freilich stellt klar, daß die Gegenposition zum Sehen, wie sie das Tasten einnimmt, ihrerseits visuell orientiert ist: Das Sehen mit dem Gefühl ist als er-innerndes Sehen konzipiert – ein Betrachten, das so wenig im bloßen Blick aufgeht, wie das Spüren im kruden Anfassen. Schon im ersten Entwurf zur Plastik hatte Herder diese reflexive – von Diderots zugreifender Attitüde unterschiedene[33] – Rezeptionshaltung im Hinblick auf die pygmalionische Schöpfung formuliert: "Wir müssen sie anzutasten glauben und fühlen, daß sie sich unter unsern Händen erwärmt. Wir müssen sie vor uns stehen sehen, und fühlen, daß sie zu uns spricht."[34] Das aus dem nicht-ergreifenden Habitus hervorgehende tastende Sehen ist verantwortlich dafür, daß ein Spannungsfeld entstehen kann, in dem aus der Empfindungsfähigkeit des Betrachters der Eindruck der Lebendigkeit erwächst. Die Skulptur wird belebt durch das eigenleiblicheSpüren des Betrachters. Wir müssen fühlen, schreibt Herder "daß sie sich unter unseren Händen erwärmt".

Mit dieser sensualistischen Auslegung des selbstbezüglichen Blicks unterscheidet sich Herders Schrift von den unmittelbar vorausgegangenen Skulpturdeutungen Winckelmanns und Lessings, die sittengeschichtlich bzw. semiotisch argumentieren: Der eine hatte die Animation der Statue durch das "edle Bestreben" erklärt, "den harten Gegenstand der Materie zu überwinden, und wenn es möglich gewesen wäre, dieselbe zu begeistern"[35]; der andere dadurch, daß ein für die Phantasie "fruchtbarer Augenblick" im Zeichen einer unabgeschlossenen Bewegung geboten wird.[36] Nach Herder dagegen beruht die Lebendigkeit der Statue auf der gefühlten Präsenz einer der Trennung von Werk und Betrachter vorausgehenden Einheit. Inka Mülder-Bach bemerkt dazu: "An die Stelle der nachträglichen Überwindung einer vorgängigen Polarität tritt die vorgängige Vermitteltheit des scheinbar Polaren. Während Winckelmanns Beschreibung der narrativen Logik der Ovidschen Erzählung folgt und den Gegensatz zwischen Kunst und Leben 'progressiv' überwindet, sucht Herder diese Opposition vom Ursprung her zu unterlaufen."[37] Erinnerung kommt in Herders Deutung des Pygmalion-Motivs also dadurch ins Spiel, daß der Gegensatz von Werk und Schöpfer erst das Resultat einer vorgängigen Einheit ist, die im Verständnis der "Plastik als fühlbarer Körper"[38] begründet liegt. So ist es für Herder nicht bloß Phantasie, nicht bloß Täuschung, wenn er "von dem sich regenden, unter der fühlenden Hand belebten Marmor" spricht, sondern es sind "Erfahrungen. Das Auge, das sie sammlete, war sammlend nicht Auge mehr; es war Hand: der Sonnenstral Stab in die Ferne, das Anschauen unmittelbare Betastung: die Phantasie spricht lauter Gefühle!"[39] Diese Wahrnehmung der Plastik ist zwar nur möglich durch einen Akt der Einbildungskraft – aber nicht im Sinne einer puren Erfindung, sondern zugleich einer Erinnerung: Es handelt sich um eine "restitutio ad integrum, die den 'Sinn des Gefühls', welcher 'so sehr vom Gesichte verkürzt und verdrängt ist, wieder in seine alten Rechte' setzt." Dieses Ursprungskonzept freilich stößt, wie Mülder-Bach weiter zeigt, auf einen Selbstwiderspruch, wo es das tastende Sehen als "zeichenhafte Restitution" begreift:

Der Anthropologe Herder will die Selbstpräsenz des Gefühls als Matrix und Ursprung behaupten; der Ästhetiker jedoch läßt sie aus einem Mangel erwachsen. Nicht der kalte Marmor hält die begehrende Hand auf Distanz und zwingt zur Imagination der Berührung. Vielmehr sagt die Statue umgekehrt, daß Distanz eine Bedingung des Begehrens ist und Präsenz als imaginärer Überschuß symbolisch vermittelt werden muß.[40]

 

Bei aller Akzentverlagerung zum Tastsinn also wird Lebendigkeit auch hier von einer selbstreflexiven Qualität des Werks abhängig gemacht, das erinnernde Sehen von der Selbstbezüglichkeit des Gesehenen. Dieser Linie folgt auch Goethe, den die physiologisch orientierte Rezeptionshaltung mit Herder verbindet, die er aber gleichzeitig mit Lessings Theorie vom fruchtbaren Augenblick kombiniert:

Wenn ein Werk der bildenden Kunst sich wirklich vor dem Auge bewegen soll, so muß ein vorübergehender Moment gewählt sein; kurz vorher darf kein Teil des Ganzen sich in dieser Lage befunden haben, kurz hernach muß jeder Teil genötigt sein, diese Lage zu verlassen; dadurch wird das Werk Millionen Anschauern immer wieder neu lebendig sein. […] Um die Intention des Laokoons recht zufassen, stelle man sich in gehöriger Entfernung mit geschloßnen Augen davor; man öffne sie und schließe sie sogleich wieder, so wird man den ganzen Marmor in Bewegung ansehen, man wird fürchten, indem man die Augen wieder öffnet, die ganze Gruppe verändert zu finden. Ich möchte sagen, wie sie jetzt dasteht, ist sie ein fixierter Blitz, eine Welle, versteinert im Augenblicke, da sie gegen das Ufer anströmt. (HA XII, 60)

 

Es ist für Goethe bezeichnend, daß er das Erlebnis der Bewegtheit der Statue nicht nur beschreibt, sondern den Leser auffordert, dieses Erlebnis selbst zu vollziehen. Es geht ihm nicht einfach um die Vermittlung der Erkenntnis, daß der Ausdruck der Verlebendigung durchs blitzartige Innehalten zustande kommt, sondern um deren selbstreflexive Erfahrung. Diese ist allemal bemerkenswert. Wer die Skulptur betrachtet, wie Goethe es vorschlägt, spürt unweigerlich, wie die eigene Blickrichtung sich umkehrt: Vom Blick auf die Skulptur zum Blick nach innen. Für das subjektive Empfinden wird dabei das eigene Schauen passivisiert; der eben noch aktive Betrachter fühlt sich nun von der Statue angeblickt. Diese Inversion hat, wie Goethe weiter feststellt, ihr Korrelat in der Skulptur selbst: Der ältere der beiden Söhne, der noch kaum umwunden ist, wird weniger als Handelnder denn als betroffener Zuschauer gezeigt: "hier ist also noch ein Beobachter, Zeuge und Teilnehmer bei der Tat, und das Werk ist abgeschlossen" (63). Goethe mag hierbei auch an Falconets Pygmalion und Galathea gedacht haben, jener Figurengruppe, das ihm durch Diderot bekannt war und die den bildenden Künstler als bewundernden Betrachter inszeniert. Auch hier ist es die Selbstreflexion des Werks, die den selbstbezüglichen Blick des Betrachters antizipiert.

Der Vorwurf einer Literarisierung der bildenden Kunst ist Goethe ob dieser Rezeptionshaltung nicht erspart geblieben.[41] Doch erst die romantische Transzendentalpoesie wird den reflexiven Charakter der bildenden Kunst über die Dimension der Anschaulichkeit radikal hinaustreiben und damit eine Moderne vorbereiten, die den Veränderung des Blicks durch die von Goethe verdammten Sehapparate gerecht zu werden versucht.

 


Video-Kult: Selbstbegegnung in der Telepräsenz

 

Mit den neuen Illusionstechniken, wie ihn das Panoramabild, die Photographie und die zahlreichen Frühformen des Kinos repräsentierten, kamen Metaphern in Umlauf, die dem selbstbezüglichen Blick seine Unschuld raubten. Henri Bergson beschreibt nun unsere Alltagswahrnehmung als "kinematographische Illusion"[42] und Hugo von Münsterberg setzt unsere Imaginationstätigkeit mit dem "Photoplay" ineins.[43] Wie kann angesichts dieser Mediatisierung der ästhetische Ausdruck des autoreflexiven Blicks noch Authentizität verbürgen? Wie soll ein Auge, dem der unmittelbare Gefühlskontakt zum Seelenleben abgesprochen werden muß, das also gleichsam nur noch nach außen, nicht nach innen schauen kann, sich selbst betrachten können? Muß das nicht zu monströsen Verrenkungen führen, wie in Nietzsches Vergleich des Künstlers mit "dem unheimlichen Bild des Mährchens […], das die Augen drehn und sich selber anschaun kann"?[44]

Eine Voraussetzung für die Inszenierung dieser Blickverdrehung, wie sie dann auch in der Tat die Kunst um die Jahrhundertwende revolutioniert, ist die radikale Ablösung des Sehens von der Alltagswahrnehmung, des Betrachtens vom realen Auge. Exemplarisch sei hier nur auf Rilkes Archaïscher Torso Apolls[45]verwiesen. Die Spuren der Technisierung des Sehens sind dem Gedicht nicht explizit eingeschrieben – außer dort, wo vom nachglühenden "Kandelaber", in dem das "Schauen […] zurückgeschraubt" sei, die Rede ist, was auf die neuen Gas- und Petroleumlampen mit ihrer Schraubregulierung hindeuten könnte.[46] Doch durch die Auswahl eines kopf-, also augenlosen Torsos und seine paradoxale Beschreibung als Subjekt des Blicks, der den Rezipienten trifft, gibt es sich als Reaktion auf die zeitgenössische Problematik der Mediatisierung zu erkennen, die in der Tat jenes Kunststück versucht, das Schauen des Betrachters auf ihn zurück zu wenden: "da ist keine Stelle, die dich nicht sieht". Paul de Man bemerkt dazu: "Die Umkehrung ist nur möglich, weil die Plastik zerbrochen und fragmentarisch ist; hätte die Statue wirklich das Auge Apollos dargestellt, hätte der Chiasmus nicht eintreten können. Das fehlende Auge eröffnet eine imaginäre Sicht und verwandelt die augenlose Plastik in ein Argusauge, das von sich aus fähig ist, alle Raumdimensionen zu erzeugen."[47] Zwar hatte schon Winckelmann die Beobachtung gemacht, daß der Torso eine unwillkürliche erinnernde Ergänzung der fehlenden Glieder evoziert[48]; doch die Inversion des Blicks durch physisch nicht vorhandene Augen ist Rilkes Erfindung. Es ist ein Blick, dessen anamnetische Energie daraus resultiert, daß die Imagination über die körperliche Vervollständigung der Skulptur weit hinausgeht. Die Normativität der klassizistischen wird durch die apollinisch-dionysische Griechentumskonzeption Nietzsches[49] gesprengt und überboten zu einer Instanz die mit der Autorität eines alle Sichtbarkeitsgrenzen überschreitenden Vollkommenheitsideals postuliert: "Du mußt dein Leben ändern." Der Horizont des eigenen Daseins wird im erinnernden Sehen über die eigene Prägung hinausgeführt zu einer Ursprungsvision, die einen dynamischen Neubeginn verlangt. Wie schon in Ovids Statuenbeschreibung und Goethes Laokoon-Sicht finden wir auch hier den selbstbezüglichen Betrachterblick im Werk vorgeformt: dort, wo ein "Lächeln" geht "zu jener Stelle, die die Zeugung trug". Es handelt sich um die Präfiguration des Blicks durch einen abwesenden Referenten.

Rilkes Lösung des Problems, wie ein erinnerndes Sehen unter Bedingungen seiner Technisierung möglich ist, steht insofern noch in einer Kontinuität zur Antike, als sie an derselben Art von Objekten, an unbeweglichen Skulpturen, gewonnen ist. Stets war es gerade diese Unbewegtheit, ihr Innehalten, das als Zeichen einer seelischen Bewegtheit den Betrachter die eigene wahrnehmen ließ. Freilich war die Unbeweglichkeit der klassischen Skulptur erzwungen durch die Unbeweglichkeit des Materials. Aus dieser Not haben die erwähnten Künstler und Kunsttheoretiker die Tugend des Sehens von Abwesendem, des inneren Vollzugs der äußerlich nur punkthaft angedeuteten Regungen, gemacht. Was aber geschieht, wenn dieser Zwang wegfällt? Wenn es technisch möglich wird, Objekte zu schaffen, die mit dem Betrachter interagieren? Schwindet mit der Grenze zwischen Werk und Rezeption dann nicht auch der appellative Charakter einer vom Werk präfigurierten Selbstreflexion?

Der Medienwechsel von Materialien, die ihrer Beschaffenheit nach passiv sind, zu bewegten und interaktiven Installationen, steht seit je im Zeichen der Verlebendigung. Wie nicht erst der im Computerzeitalter doppelsinnig gewordene Begriff der Animation anzeigt, sind Antikensehnsucht und Maschinenglauben in diesem Interesse gleichurspünglich.[50] Zu den neueren diesbezüglichen Metamorphosen des Pygmalion-Mythos gehört Joseph Weizenbaums berühmtes Gesprächsprogramm Eliza. Analog zu Shaws Adaption des Motivs, der es seinen Namen verdankt, nimmt auch die elektronische Elise mimetisch auf, was man ihr sagt, und bleibt doch, was sie ist – in diesem Fall freilich kein einfaches Blumenmädchen, sondern eine simple Schaltung aus Bits und Bytes. Die an sich leicht durchschaubare Technik der modifizierten Spiegelung des Inputs – "verstehend" allenfalls in dem Sinne, daß aus vorgefertigten Skripts Wortzugehörigkeiten herausgesucht werden[51] –, genügte, um enorme affektive Reaktionen bei den Benutzern des Programms auszulösen. Insbesondere anhand einer Doctor genannten Version, die einen nichtdirektiven Gesprächtherapeuthen à la Rogers parodierte, konnte Weizenbaum "bestürzt feststellen, wie schnell und wie intensiv Personen, die sich mit Doctor unterhielten, eine emotionale Beziehung zum Computer herstellten und wie sie ihm eindeutig menschliche Eigenschaften zuschrieben. Einmal führte meine Sekretärin eine Unterhaltung mit ihm; sie hatte seit Monaten meine Arbeit verfolgt und mußte daher wissen, daß es sich um ein bloßes Computerprogramm handelte. Bereits nach wenigen Dialogsätzen bat sie mich, den Raum zu verlassen."[52]

Das Faszinosum von Weizenbaums Eliza, das den Pionier der KI-Forschung so erschreckte, daß er zum Computerkritiker konvertierte, besteht just in der Abwesenheit jeder eigenständigen personalen Qualität des Programms. Denn gerade diese Absenz ist es, die in einem so erstaunlichen Maße zur Freisetzung projektiver Energien führt.[53] Auch das bei "Online-Chats" mit virtuellen Identitäten zu beobachtende Suchtphänomen ist damit zu begründen. Man mag gegen diesen Vergleich einwenden, daß es sich hierbei ja nicht um Beziehungen zu Computern handelt, sondern um die zu realen Menschen. Aber die evokatorische Energie dieser Interaktionsform beruht gerade darauf, daß sie die Beziehungen zu Menschen wie  Beziehungen zu Computern, das heißt zu beliebig manipulierbaren Objekten, erleben läßt. Das ist mittlerweile in diversen psychologischen und kultursoziologischen Untersuchungen bestätigt worden.[54] Immer wieder wird dabei hervorgehoben, daß es die Abwesenheit des anderen ist, die dazu verleitet, ihm intimste Geheimnisse anzuvertrauen. Nicht selten treten dabei Zustände auf, die intensiver empfunden werden als alle bisherigen im realen Leben.[55]

Mit wirklicher Interaktivität hat diese Erlebnisintensität also weit weniger zu tun, als die Propagandisten des Mediums glauben machen wollen. Wenn die behauptete Korrelation tatsächlich existierte, dann würden die – ohnehin meist ängstlich vermiedenen – Begegnungen der Akteuere im realen Leben nicht so enttäuschend ausfallen, wie das gewöhnlich der Fall ist. Gerade die körperlose Tele-Präsenz steigert das Gefühl der Nähe. Denn sie erlaubt es, den anderen nach Herzenslust den eigenen Wünschen anzupassen. So war es denn auch nicht etwa eine Erlebnisreduktion der herkömmlichen Chat-Technik, daß sie ohne Bilder auskommen mußten – ganz im Gegenteil. Trotzdem ändert sich das nun mit den Fortschritten der Interface- und Vernetzungs-Technologie. Die Multi User Domains (MUDs) einschließlich ihrer Bewohner zeigen sich in immer aufwendigeren grafischen Repräsentationen. Je mehr aber die Programmierer – in der Absicht, den Eindruck der Lebendigkeit zu steigern – an der Perfektionierung der optischen Simulation arbeiten, um so mehr sorgen sie gegen ihren Willen für den Abbau der Imaginationsleistungen.[56] Im audiovisuellen Life-Erlebnis schließlich ist sie vollständig getilgt. Während Eliza noch ein Geheimnis hatte, nämlich das, kein menschliches Wesen zu sein, läßt eine übertragungstechnisch perfektionierte Online-Konferenz zum Bedauern der Chatsüchtigen nichts zu wünschen übrig. Auch hier bewahrheitet sich Lessings Satz: "dem Auge das Äußerste zeigen, heißt der Phantasie die Flügel binden."[57]

Die zunehmende Verbreitung von Cybersex in allen Abarten bis hin zur Kinderpronographie zeigt, welche Tendenzen dieses Erlebnisvakuum bei visueller Überpräsenz hervorrufen kann: den triebhaft aufgeladen Wunsch, den anderen auf bestimmte Funktionen zu reduzieren, ihn zu verletzen, zu vernichten. Nur in dieser extremen Reduktion hat die Bildersucht eine Chance – und diese wird genutzt: Das Prinzip des Kultbildes, dessen auratische Wirkung aus der Zurücknahme der individuellen Züge und aller Merkmale von Spontaneität auf ein ikonenartiges Schema resultiert[58], findet hier seine perverse Zuspitzung. Keineswegs "winkt aus den frühen Photographien", wie Benjamin glaubte, "die Aura zum letzten Mal".[59] Gerade die telematischen Interaktionstechniken gewähren mit ihrer Hyperkonkretion bei gleichzeitiger Ausblendung der realen Lebenssituationen die "Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag".[60] In seiner ikonischen Inszenierung ist der andere verlockend gegenwärtig.

Diese Art der auratischen Erscheinung ist aber dennoch eine ganz andere als die der spontanen Imagination. Slavoj Zizek beschreibt den Unterschied, mit einer kritischen Wendung gegen die gängige Gleichsetzung beider Abwesenheitsformen, folgendermaßen:

Eine der Tendenzen der Theoretisierung des Cyberspace besteht darin, Cybersex als das äußerste Phänomen in der Kette, deren Schlüsselglied Kierkegaard mit seinem Verhältnis zu Regina ist, aufzufassen: auf demselben Weg, auf dem Kierkegaard die Nähe des Anderen (der geliebten Frau) zurückwies und die Einsamkeit als die einzig authentische Art und Weise, sich zu einem Liebesobjekt zu verhalten, verteidigte, so beinhaltet auch Cybersex die Annullierung des 'realen Lebens-Objekts' und zieht erotische Energie aus eben dieser Annullierung – der Moment, in dem ich meine(n) Cybersexpartner im wahren Leben entdecke, ist der Moment der Desublimation, der Augenblick der Rückkehr in die gewöhnliche 'Realität'. So überzeugend diese Parallele zu sein scheint, ist sie doch eine höchst irreführende: der Status meines Cybersexpartners ist gerade nicht der von Kierkegaards Regina. Regina war die Leerstelle, an die Kierkegaard seine Worte richtete, eine Art 'Vakuole', gesponnen durch das Gewebe seiner Rede, während mein Cybersexpartner vielmehr überpräsent ist und mich mit der reißenden Flut der Bilder und expliziten Äußerungen ihrer (oder seiner) geheimsten Phantasien überrollt.[61]

 

Der neue Angriff der Bilder auf den Rezipienten, wie er von Zizek mit einer Anspielung auf Petrarca als "Pest der Phantasmen" charakterisiert wird[62], scheint mit seiner schamlos übermäßigen Präsenz jeden Versuch, nach dem klassisch-kontemplativen Modell die Erfahrung eines selbstbezüglichen Blicks zu ermöglichen, in den Schatten zu stellen.

Eben dieses alte Merkmal erinnernden Sehens mit neuen Mitteln zu realisieren, ist die Herausforderung, der sich Medienkünstler heute gegenübersehen. Allemal geht es ihnen darum, die vordergründige Informativität der elektronischen Bildpräsentation zugunsten einer Reflexion auf ihre situative und atmosphärische Qualität zu durchbrechen.[63] Hierfür seien abschließend einige Beispiele erwähnt.

Was für Nietzsche noch eine monströse Vorstellung sein mußte: die Selbstansicht einer Statue, ist für die Videotechnik (deren Name schon selbstbewußte Sehfähigkeit verspricht) anscheinend kein Problem mehr: Sie kann die Aufnahme des Kameraauges simultan auf einem Monitor oder Display darstellen – bei einer entsprechenden Aufstellung beider Geräte also sich selbst "betrachten". Mit entsprechenden Arrangements spielt Nam June Paik in seiner TV-Buddha-Serie. Eine frühe Arbeit, Video-Buddha II von 1974, zeichnet sich dadurch aus, daß sie die rekursive Anordnung in eine Sackgasse führt: Eine lebensgroße Buddha-Figur sitzt in Meditationshaltung vor einem Monitor, auf dem ihr eigenes Bild erscheint, das von einer dahinter aufgestellten Kamera aufgenommen wird. Dabei teilt sich die kontemplative Haltung der Statue dem Medium, in dem sie telepräsent ist, mit – ja sie scheint im Flimmern des Bildschirms überhaupt erst ihre psychische Vibration zu erhalten. "Ausstrahlung" wird hier zu einem doppeldeutigen Begriff: Das technische Reproduktionsmittel erscheint – ganz entgegen Benjamins Prognose – nun als das eigentlich auratische Objekt, demgegenüber die Buddhafigur nur Diener ist, Priester einer Kultpraxis. Er ist es freilich nur im Sinne einer kinematographischen Illusion: Die Figur wird ihrer selbst ansichtig, ohne die technische Vermitteltheit dieses Selbstbezugs im Blick zu haben: die Kamera bleibt außerhalb des Sichtfeldes. Durch die Ruhe der Installation entsteht aber gleichwohl der Ausdruck kontemplativer Betrachtung, der ob seines offensichtlich schimärischen Charakters etwas hoffnungslos Ironisches bekommt.

Mediatisierte Blicke sind auch ein Leitmotiv in den Arbeiten von Cindy Sherman. Schon mit ihren Untitled Film Stills verstand sie es, den Pygmalion-Effekt der sistierten Bewegung zu erzeugen – hier im Stil von Filmstarposen.[64] Mit den Mannequin Pictures demaskiert sie dieses männliche Blickregime und legt dessen dialektische Kehrseite, das pornographische Prinzip der Überkonkretion, offen – etwa, indem sie es durch Puppen in lüsterner Pose mit absurd großer Genitalöffnung, die den inneren Hohlraum freigeben, ad absurdum führt. Zwar ist Sherman mittlerweile auch im World Wide Web mit einem "Interactive Space" vertreten[65], doch handelt es sich hierbei lediglich um eine konventionelle Materialpräsentation in hypermedialer Struktur: In ihr werden schriftlich formulierte Reaktionen von Betrachtern auf Fotos der Künstlerin aufgenommen und als Elemente eines "storyspace" dargeboten, den neu hinzukommende Besucher betreten und kommentierend erweitern können.

Was es heißen kann, mediale Selbstreferenz auch im Internet zu realisieren, ziegt die unter dem Namen jodi.org firmierende Gruppe von Künstlern, die im Rahmen der Documenta X ausstellte und seither ihre Web-Site kontunierlicher Weiterentwicklung unterzieht.[66] Das Markenzeichen der Gruppe sind "virale Interfaces"[67], die sich unter den Benutzereingaben kollabierend verhalten. Schon die auf der Ars Electronica 1992 preisgekrönte Installation "Zerseher" von Sauter und Lüsebrink hatte diesen buchstäblich bestürzenden Effekt eingesetzt: Mithilfe einer "Eyetracking"-Kamera wurden dort die Blicke des Betrachters aufgenommen und in Steuerbefehle übersetzt, die das dargebotene Bild immer genau an den angeblickten Stellen zerstörten – eine erhellende Lektion über den destruktiven Charakter des identifizierenden Sehens, das als Kontrafaktur zur imaginativen Restitution bei der Betrachtung von Torsi erfahren werden kann. In den Installationen von jodi.org nun wird der Benutzer in eine noch heillosere Interaktion verstrickt, indem er immer wieder zum Input aufgefordert, dieser aber stets nur verstümmelt repräsentiert wird. Auch bei diesem elektronischen Torso scheint es keine Stelle zu geben, die den Betrachter nicht sieht, da seine Spuren überall erkennbar sind; doch je mehr er sich ihrer zu versichern sucht, um so fremder wird er sich im selbstbezüglichen Blick.

Was es mit diesem unter dem Mandat der interaktiven Bildschirmmedien auf sich hat, wird durch eine Web-Seite des französischen Internet-Künstlers Valéry Grancher auf unüberbietbar schlichte Weise deutlich gemacht: Seine Installation heißt "nomemory" und stellt auf minimalistische Weise jene Leere wieder her, die das Medium im Überfluß der Bilder zu vernichten droht: Unter der Überschrift "void" zeigt sie auf dunkelgrauem Hintergrund ein scharzes, etwa vier mal vier Zentimeter großes Quadrat. Ansonsten nichts weiter als den Satz: "Observez ce carré noir pendant une seconde, mémorez vous un moment intense de votre vie, regardez votre montre, mémorisez l'heure exacte, désormais, chaque jour, la même heure remémorez vous cet instant."[68]Das schwarze Quadrat, eine leere Fläche, soll dieser Anweisung zufolge durch Ritualisierung zum Anlaß einer idolatrischen Selbstreflexion werden. In der Tat bietet die Objektlosigkeit des Blickfangs die Chance, das Erinnerungsbild an einen intensiven Moment des eigenen Lebens austeigen zu lassen. Doch die ernste Aufforderung zum Kult des selbstproduzierten Bildes hat einen spielerischen Nebeneffekt, auf den es der Künstler eher abgesehen zu haben scheint. Dank der optischen Eigenschaften dunkel hinterleger Glasflächen kann der pygmalionische Betrachter am Terminal seinen Moment höchster Intensität in einer unspektakulär alltäglichen Beobachtung finden: Daß Bildschirme mehr oder weniger deutliche Spiegel sind, durch die wir uns fortwährend anblicken. Nur merken wir es nicht. Das ist an diesem Medium das eigentlich Erstaunliche.

 



[1] Mitchell, W.J.T.: Der Pictoral Turn. In: Kravagna, Christian (Hg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur; Berlin 1997, S. 15-41. Vom "Iconic Turn" spricht Gottfried Boehm in seinem Aufsatz: Die Wiederkehr der Bilder. In: ders. (Hg.): Was ist ein Bild? 2. Aufl. München 1995, S. 11–38, hier S. 13. Zur Geschichte des Disputs vgl. Konersmann, Ralf (Hg.): Kritik des Sehens; Stuttgart 1997.

[2] Vgl. Belting, Hans: Bild und Kult; München 1990, S. 20.

[3] gl. Flusser, Vilém: Für eine Philosophie der Fotografie; Göttingen 1989, hier das Kapitel: Das Bild. – Einen Systematisierungversuch für die Bewegungen des Betrachters unternimmt, im Rekurs auf Husserl, Pochat, Götz: Bild-Zeit; Köln 1996, S. 22.

[4] Wenzel, Horst: Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter; München 1995, S. 321. Ob die "Gehirnkarten" von Sprach- und Sehzentrum derart fließend sind, wie etwa beim visuellen bzw. auditorischen und sensomotorischen Kortex (Psychophysiology Bd. 34, S. 292; Journal of Neurophysiology 79, S. 1117), ist umstritten. Gerade hier scheint es sich mehr um getrennte Systeme zu handeln, wie z.B. der McGurk-Effekt sowie Experimente zur Interferenz von visuellen und sprachlichen Leistungen nahelegen (Vgl. Goldstein, Bruce E.: Wahrnehmungspsychologie; Heidelberg Berlin Oxford 1997, S. 403ff. und Baddeley, Alan D.: Die Psychologie des Gedächtnisses; Stuttgart 1979, S. 262ff.).

[5] Daß gerade die Kritik des Sehens eine neue Aufmerksamkeit für das Sehen statt seiner Abwertung erfordert, ist auch die These von Martin Jay: Downcast Eyes; Berkeley, Los Angeles, London 1994.

[6] Selbstverständlich sind auch und gerade Schriftkulturen Bildkulturen (vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen; München 1992, S. 266). Worum es mir hier geht, ist die reine Merkleistung; und die ist auch bei der Schrift dann am größten, wenn sie ihre Inhalte in Bilder faßt.

[7] Di Vesta, F.J./Ross, S.M.: Imagery ability, abstractness, and word order as variables in recall of adjectives and nouns. In: Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior 10 (1971), S. 686–693.

[8] Goldmann, Stefan: Statt Totenklage Gedächtnis. Zur Erfindung der Mnemotechnik durch Simonides von Keos. In: Poetica 21 (1989), S. 43–66.

[9] Boehm, Gottfried: Mnemosyne. Zur Kategorie des erinnernden Sehens. In: Ders./Stierle, K.-H./Winter, G. (Hg.): Modernität und Tradition. Festschrift für Max Imdahl; München 1985, S. 37–59, hier S. 45.

[10] Platon: Philebos 34b. Aristoteles: De memoria et reminiscentia.

[11] Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse III. Die Philosophie des Geistes. In: Werke in zwanzig Bänden; Frankfurt am Main 1995, Bd. 10, S. 260f.

[12] Derrida, Jacques: Mémoires. Für Paul de Man; Wien 1988, S. 60.

[13] Vgl. auch Schmitz, Hermann: Leibliche und personale Kommunikation. In: Ders.: Höhlengänge; Berlin 1997, S. 77–91, hier S. 88f.

[14] Vgl. Kandel, Eric R. u.a. (Hg.): Neurowissenschaften; Heidelberg 1995, S. 673.

[15] Zur Geschichte der Neurowissenschaften und ihren wechselnden Vorstellungen vom Gehirn vgl. Gross, Charles G.: Brain, Vision, Memory. Tales in the History of Neuroscience; Cambridge (Mass.) 1998.

[16] Kany, Roland: Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin; Tübingen 1987, S. 180; vgl. 129.

[17] Vgl. Kemp, Wolfgang: Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik. In: Ders. (Hg.): Der Betrachter ist im Bild; Neuausgabe Berlin Hamburg 1992, S. 7–27.

[18] Belting: Bild und Kult, a.a.O., S. 19. Vgl. Kemp, a.a.O., S. 23.

[19] Boehm, a.a.O., S. 42.

[20] Es ist Teil eines laufenden Projekts, das unter dem Titel "Erinnerungstechniken im Medienwechsel" im nächsten Jahr publiziert werden soll.

[21] Über die Zusammenhänge von prähistorischer Malerei und Gedächtnis vgl. Pochat, Götz: Mensch und Natur im Spiegel der prähistorischen Kunst. In: Natur und Kunst 23 (1987), sowie ders.: Bild-Zeit, a.a.O., S. 27–38. Zum animistischen Hintergrund der Höhlenmalerei vgl. Clottes, Jean / Lewis-Williams, David: Schamanen. Trance und Magie in der Höhlenkunst der Steinzeit; Sigmaringen 1997.

[22] Zur ägyptischen und israelitischen Vorgeschichte des Pygmalion-Motivs vgl. Assmann, Aleida: Belebte Bilder: Der Pygmalion-Mythos zwischen Religion und Kunst. In: Mayer, Mathias / Neumann, Gerhard (Hg.): Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur; Freiburg 1997, S. 63–89.

[23] Hartmut Böhme sieht ihre Leistung darin, "Mythos wie Philosophie in Literatur zu transformieren und damit die antike Tradition freizusetzen zur ästhetischen Verwendung." Antike Athropogenie-Vorstellungen in Ovids 'Metamorphosen' (Prometheus - Deukalion - Pygmalion). In: Mayer/Neumann (Hg.): Pygmalion, a.a.O., S. 89–125, hier S. 91.

[24] Ebd., S. 119.

[25] Auch als die Figur am Ende von Venus in einen realen Menschen aus Fleisch und Blut verwandelt wird, ist Scham ihr eigentliches Lebenszeichen: "Die Jungfrau fühlte die Küsse,/ und sie errötete" (292ff.).

[26] Vgl. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation; 21. Aufl. Frankfurt am Main 1997, Bd. 1, S. 261f., 163 u.ö. – Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität; Frankfurt am Main 1991, S. 293.

[27] Vgl. Duerr, Hans Peter: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 1: Nacktheit und Scham; Frankfurt am Main 1988, Kapitel I.

[28] Lewis, Michael: Scham – Annäherung an ein Tabu; Hamburg 1993, S. 91 und 54.

[29] Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis; Hamburg 1991, S. 184f.

[30] Libretto von Ballot de Sauvot nach einem Text von Antoine Houdar de la Motte. Beiheft zur CD-Einspielung mit William Christie und Les Arts Florissants; Arles 1992, S. 18.

[31] Rousseau, Jean-Jacques: Pygmalion. Scène lyrique. In: Oeuvres complètes, ed. B. Gagnerin, II, Paris o.J., S. 1224-1231, hier S. 1230.

[32] Böhme, Hartmut: Der Tastsinn im Gefüge der Sinne. In: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Tasten; Göttingen 1996, S. 185–211, hier S. 203f.

[33] So heißt es im Kommentartext zu Falconets Pygmalion und Galathea für den Salon von 1763 explizit: "l'admiration embrasse et serre sans réflexion". Diderot, Denis:  Salons. Hg. von Jean Seznec und Jean Adhémar; 4 Bde. Oxford 1957–1967, 2. Ausgabe, Bd. 1, 1975, S. 247.

[34] Herder, Johann Gottfried: Von der Bildhauerkunst fürs Gefühl. In: Werke in 10 Bdn. Bd. 4, hg. v. Jürgen Brummack u. Martin Bollacher; Frankfurt am Main 1994, S. 1016–1022, hier S. 1016. Hv. von mir.

[35] So Winckelmann, ausdrücklich bezugnehmend auf Pygmalion, in: Geschichte der Kunst des Altertums. Repr. der Ausg. Wien 1934; Darmstadt 1993, S. 156.

[36] Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon: oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Werke, hg. v. Wilfried Barner, Bd. 5/2; Frankfurt am Main 1990, S. 11–206, hier S. 60.

[37] Mülder-Bach, Inka: Im Zeichen Pygmalions. Die lebendige Statue und die Entdeckung der "Darstellung" im 18. Jahrhundert; München 1998, S. 50.

[38] Ebd., S. 70.

[39] Herder: Die Plastik von 1770. In: Sämmtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Bd. 8, Berlin 1892, S. 126.

[40] Mülder-Bach, a.a.O., S. 74 u. 76.

[41] Vgl. Bätschmann, Oskar: Belebung durch Bewunderung: Pygmalion als Modell der Kunstrezeption. In: Mayer, Mathias / Neumann, Gerhard (Hg.): Pygmalion, a.a.O. S. 325–371, hier S. 369.

[42] Bergson, Henri: Schöpferische Entwicklung; Jena 1912, S. 305.

[43] Münsterberg, Hugo: The Photoplay; Reprint New York, London 1970, S. 96 f.

[44] KSA 1, S. 47f.

[45] Aus 'Der neuen Gedichte anderer Teil' von 1908.

[46] So, aber in skeptischer Zurückweisung, Georg Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik von Heine bis zur Gegenwart. Ein Grundriß in Interpretationen. Zweiter Teil; Frankfurt am Main 1990, S. 637.

[47] De Man, Paul: Tropen (Rilke). In: ders.: Allegorien des Lesens; Frankfurt am Main 1988, S. 52–90, hier S. 76.

[48]" […] und indem sich so ein Haupt voll von Majestät und Weisheit vor meinen Augen erhebet, so fangen sich an in meinen Gedanken die übrigen mangelhaften Glieder zu bilden: es sammlet sich ein Ausfluss aus dem Gegenwärtigen und wirket gleichsam eine plötzliche Ergänzung." Winckelmann, Johann, Joachim: Beschreibung des Torso im Belvedere im Florentiner Manuskript. In: ders.: Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe, hg. v. Walther Rehm; Berlin 1968, S. 281.

[49] Vgl. hierzu Duhamel, Roland: Rilkes Gedicht "Archaischer Torso Apollos". In: Zeitschrift für Germanistik 11 (1990), H.1, S. 21–28.

[50] Vgl. Bredekamp, Horst: Antikensehnsucht und Maschinenglauben; Berlin 1993.

[51] Der klassische ELIZA-Dialog sowie verschiedene Versionen des Programms selbst lassen sich im Internet abrufen unter der URL: http://www-cgi.cs.cmu.edu/afs/cs.cmu.edu/project/ai-repository/ai/areas/classics/eliza/0.html.

[52] Weizenbaum, Joseph: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft; Frankfurt am Main 1978, S. 19.

[53] Vgl. Turkle, Sherry: Die Wunschmaschine. Der Computer als zweites Ich; Reinbek bei Hamburg 1986.

[54] Vgl. Schachtner, Christel: Geistmaschine. Faszination und Provokation am Computer; Frankfurt am Main 1993. – Turkle, Sherry: Life on the Screen. Identity in the Age of the Internet; New York 1995. – Matussek, Peter: "www.heavensgate.com".Virtuelles Leben zwischen Eskapismus und Ekstase. In: Paragrana 6 (1997), H. 1, S.129–147.

[55] "This is more real than my real life", berichtet eine von Turkle interviewte Netzinkarnation (a.a.O., S. 10). Und über die intensivste Romanze ihres Lebens erzählt Gabriele Farke: Sehnsucht Internet; Kilchberg 1998.

[56] Das Mißverständnis, daß eine Perfektionierung der optischen Repräsentation einer Zunahme an "Lebendigkeit" korreliere, findet sich nicht nur in der Werbung, sondern auch in der akademischen Interface-Theorie: Vgl. Halbach, Wulf R.: Interfaces. Medien- und kommunikationstheoretische Elemente einer Interface-Theorie; München 1994, S. 173.

[57] Lessing: Laokoon, a.a.O., S. 32.

[58] Vgl. Belting, a.a.O., S. 92.

[59] Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Gesammelte Schriften.  Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. I.2; Frankfurt am Main 1980, S. 471-508, hier S. 485.

[60] Ebd., S. 479.

[61] Zizek, Slavoj: "Die Pest der Phantasmen". Die Effizienz des Phantasmatischen in den neuen Medien; Wien 1997, S. 139f.

[62] Ebd., S. 11.

[63] Vgl. das Statement des japanischen Videokünstlers IWAI Toshio zu seinem Projekt 'Seven Memories of Media Technology': "what stimulates me most is not the information conveyed by various media, but rather the actual machines those media use. What is interesting about the television is not the content of the programs but the fact that an electromagnetic wave broadcast from somewhere reaches one's own home". http://www.ntticc.or.jp/permanent/iwai_e.html.

[64] Vgl. hierzu Silvermann, Kaja: Dem Blickregime begegnen. In: Kravagna, a.a.O., S. 41-65.

[65] http://ebbs.english.vt.edu/hthl/etuds/freed/Sherman_I.S.html

[66] http://www.jodi.org

[67] Amerika, Mark: Countdown To Ecstasy: The Disappearance of The Interface. http://www.heise.de/tp/english/inhalt/kolu/3145/1.html

[68] http://wintermute.aec.at/nomemory/data/black.html.