Peter Matussek

Faust II - die Tragödie der Gedächtniskultur

 


Erschienen in: Schieb, Roswitha (Hg.): Peter Stein inszeniert Faust; Köln 2000, S. 291–296

 

     
 

Paradoxes Gedächtnistheater: Dreitausend Jahre Kulturgeschichte – vom trojanischen Krieg bis zur industriellen Revolution – läßt Goethe in seinem Faust II Revue passieren, doch der Protagonist durchläuft dieses Panorama der Denkwürdigkeiten nicht als Erinnernder, sondern als Vergessender. Fausts "Cursum" durch die "große Welt" (V. 2052ff), der ihn aus der kleinen Welt des ersten Teils herausführt, beginnt mit einem Lethebad, und endet in einem Läuterungsprozeß, der "Alles Vergängliche", mithin die gesamte Memorialkultur des Abendlands, zum bloßen "Gleichnis" (V. 12104f) verflüchtigt. Auch, ja gerade dort, wo Faust sich im kulturellen Gedächtnis zu verewigen sucht – etwa in einer theatralischen Reanimation des antiken Schönheitsideals oder einem grandiosen Landgewinnungsprojekt – erweist er sich um so mehr als selbstvergessen: Kaum hat er die Bühnenexistenz Helenas herbeigezaubert, verpufft sie ihm in einer Explosion, die ihn bewußtlos zurückläßt; und der vermeintliche Entwässerungsgraben, an dem der blinde Kolonisator seine Arbeiter zu schaufeln wähnt, ist in Wirklichkeit nur sein eigenes Grab. Alles Bemühen um Fixierung des eigenen Tuns im Monument befördert es nur um so gründlicher in den Abgrund der Vergessenheit.

Goethes Drama aber bleibt uns nicht zuletzt deshalb als bedeutendes literarisches Denkmal gegenwärtig, weil es dieser Paradoxien eingedenkt.[1] Die Problemstellung, die es uns vor Augen führt, hat zu Beginn des Dritten Jahrtausends an Schärfe zugenommen. Wir wissen um die Amnesie-Wirkung der ins Gigantische gewachsenen Datenspeicher und ahnen zumindest, daß es eines anderen Erinnerns bedarf, wenn es seinen Wortsinn, das "Sich-innerlich-machen, Insichgehen" (Hegel), erfüllen soll. Doch jeder Versuch, diese Alternative zu realisieren, verstrickt sich nur um so tiefer in den Grundwiderspruch aller Gedächtniskultur. An der Tragik der Faustfigur läßt sich das ablesen.

 

1. Akt

 

Schon zu Beginn, in der Anmutigen Gegend, stoßen wir auf den paradoxen Zusammenhang von Erinnern und Vergessen. Die Tilgung des früher Erlebten aus dem Gedächtnis erscheint hier als Voraussetzung, die eigene Existenz in monumentale Höhen zu treiben. Goethe verordnet seinem Helden einen Regenerationsschlaf, der die Verstrickungen der Gretchentragödie aus seinem Gedächtnis löscht und ihn dadurch erst zu dem neuerlichen Entschluß befähigt, "zum höchsten Dasein immer fort zu streben" (V. 4684f.).

Die existentielle Wiedergeburt wird eingeleitet durch die Hypnosewirkung des Schlafs. Elementargeister, von Äolsharfen begleitet, besänftigen Fausts furioses Gemüt. Ariel fordert die Elfen auf:

Entfernt des Vorwurfs glühend bittre Pfeile,
Sein Innres reinigt von erlebtem Graus.
[…]
Erst senkt sein Haupt aufs kühle Polster nieder,
Dann badet ihn im Tau aus Lethes Flut,
Gelenk sind bald die krampferstarrten Glieder,
Wenn er gestärkt dem Tag entgegenruht. (V. 4624ff)

 

Unter dem Gesang der Geister sind Fausts Schuldgefühle bald "Hingeschwunden" (V. 4651). Zwar sind die Musen nach antiker Überlieferung Töchter der Mnemosyne. Doch die Göttin der Erinnerung, so steht es bei Hesiod, könnte ihre Wirkung nicht entfalten, wenn ihre Töchter nicht zuallererst "Vergessenheit brächten der Leiden und Ende der Sorgen" (Theog. V. 54f). Der Gegensatz von Mnemosyne und Lesmosyne ist nur ein scheinbarer, denn in der Tat muß, wer sich in einem anthropologisch grundlegenden Verständnis seiner selbst inne werden will, von äußeren Festlegungen der eigenen Lebensgeschichte frei machen. Zu dieser Art des Erinnerns verhilft die Musik. So löst das Melos der Äolsharfen die "krampferstarrten Glieder" Fausts und bringt ihn mit den Urquellen des Daseins in Berührung. Der Erwachende spürt des "Lebens Pulse" wieder "frisch lebendig" in sich schlagen; er fühlt den Kontakt zur "Erde", die sich als "beständig" erwiesen hat (V. 4681) – Symbol eines Bewahrens nicht im biographischen, sondern im biologischen Sinne.

Die Erfahrung, "daß mit jedem Atemzug ein ätherischer Lethestrom unser ganzes Wesen durchdringt" hat Goethe selbst als regenerative "Gottesgabe" empfunden, wie er am 15.2.1830 an Zelter schreibt. Diese Gottesgabe ist freilich eine außermoralische. Das Prekäre daran zeigt sich in der Verantwortungsflucht Fausts: Sein Lethebad tilgt das Andenken an Margarete, die Reue über das Unglück, in das er sie stürzte. Der Geisterchor hat ganze Arbeit geleistet: "verloschen sind die Stunden" (V. 4650) der peinlichen Selbstvorwürfe. Schon im Kerker war ihm das Vergessen des eigenen Tuns als existenznotwenig erschienen, als er sein Opfer anflehte: "Laß das Vergang'ne vergangen sein,/ Du bringst mich um" (V. 4518f).

Nicht erst seit Freud wissen wir, daß es ohne Annahme der eigenen Lebensgeschichte keine Befreiung aus ihren Prägungen gibt. Schon Goethe demonstriert dies an seinem Faust, indem er das Verdrängte später wiederkehren läßt. Zunächst aber gönnt er seinem Helden einen vitalistischen Neuanfang. So beginnt der zweite Teil der Tragödie damit, daß die biographische Lebenserinnerungen im Konflikt liegen mit einer Erinnerung des Lebens.[2]

Die Abkehr vom Eingedenken moralischer Wahrheit zugunsten einer Selbstfindung in der Sphäre natürlicher Erscheinungen wird programmatisch ausgesprochen in Fausts großem Eingangsmonolog. Geblendet von ihrem übermächtig reinen Licht wendet der zu neuem Leben Erwachte der Sonne den Rücken zu und erkennt im Angesicht eines Regenbogens: "Am farbigen Abglanz haben wir das Leben" (V. 4727). Kann diese naturalistische Sicht auf das Leben auch ein Modell dafür abgeben, wie sich menschliche Taten in das kulturelle Gedächtnis einschreiben? Indem Goethe seinen anthropologisch erneuerten Faust in den Kontext der abendländischen Überlieferung einführt, beginnt ein poetisches Experiment, das diese Frage in wechselnden Konstellationen durchspielt.

Die erste Bewährungsprobe für sein Streben nach Unvergänglichkeit findet Faust in der Kaiserlichen Pfalz. Hier, auf der ersten Etappe seiner "großen Weltfahrt", zeigt sich das kulturelle Gedächtnis des Mittelalters im Stadium seiner Erosion. Dem Kaiser gehen die Nahrungsspeicher und Goldreserven aus und damit zugleich die materiale Deckung seiner symbolischen Macht. So droht er dem historischen Vergessen anheimzufallen. Mephistos Erfindung des Papiergelds soll den realen Mangel durch virtuellen Reichtum beheben. Solange alle Beteiligten an die Scheinwerte glauben, funktioniert der neue Markt. Für dieses Vertrauen steht das Wort des Kaisers ein, der hiermit seine Legitimation als gemeinschaftsbildende Instanz zurückgewinnt.

Was in diesem poetischen Bild zur Anschauung kommt, reicht über den ökonomischen Bereich hinaus: Wie das Papiergeld, so beruht das kulturelle Gedächtnis überhaupt auf der kollektiven Anerkennung virtueller Werte. Nur soweit die Mitglieder einer Gemeinschaft sich auf die verbindliche Geltung von Merkzeichen einigen, können sie eine soziale Identität ausbilden und deren Kontinuität im Wandel der Geschichte sichern. Die Mummenschanzszene antizipiert in allegorischen Figuren, deren Deutung zunehmend Rätsel aufgibt, den Verfall dieser symbolischen Verbindlichkeiten. Es kommt zu einer Inflation der Bedeutungen, die analog zur Geldinflation das Reich zerfallen läßt. Die Maske des Kaisers geht schließlich in Flammen auf.

Eine ästhetische Parallele zum ökonomischen "Flammengaukelspiel" (V. 5987) liefert das "Fratzengeisterspiel" (V. 6546), das Faust mit Mephistos Hilfe zur Zerstreuung des Kaisers aufführt. Sie bereiten ihm ein Illusionstheater über den Raub der Helena. Darin wird das antike Schönheitsideal auf analoge Weise hervorgezaubert wie zuvor das "Papiergespenst der Gulden" (V. 6198), d.h. durch eine ungedeckte Fiktion: Helena wird nicht durch eine reale Figur verkörpert, sondern mithilfe einer Laterna Magica auf künstlichen Nebel projiziert.[3] Auch das geht nur solange gut, wie Faust seiner Erkenntnis eingedenkt, am "farbigen Abglanz" das Leben zu haben, das heißt hier: solange er nicht die Lichtquelle für das Wesentliche nimmt, sondern die von ihr hervorgerufenen Erscheinungen. Doch bald schon durchstößt er die Grenzen dieser virtuellen Realität. Ein Déjà-vu-Erlebnis versetzt ihn in die Situation der Hexenküche, als ihn Helena schon einmal "In Zauberspiegelung beglückte" (V. 6496). Damals erkannte er das "Muster aller Frauen" (V. 2601) in Margarete wieder; nun, da er seine biographische Existenz abgestreift hat, richtet sich sein Erinnern auf das Urbild selbst. Das für den Kaiser aufgeführte Stück inszeniert diese Anamnesis des Archetyps als Gang zu den "Müttern" (V. 6216ff). Daß die von der Laterna Magica gelieferten Erscheinungen künstlich sind – "regsam ohne Leben" (V. 6430) – mindert nicht, sondern verstärkt Fausts Begehren, weil sie die Phantasie zu Ergänzungsleistungen veranlassen.[4] Vergeblich warnt ihn Mephisto vor der Suggestionsmacht des Geräts, die zur Verwechslung der eigenen Projektionen mit den Techniken der Bildproduktion verführt: "Machst du's doch selbst, das Fratzengeisterspiel!" (V. 6546). Das Urbild nicht in sich, sondern außer sich wähnend, greift Faust selbstvergessen in die "magische Laterne" (V. 5518) und verursacht damit eine "Explosion. Faust liegt am Boden. Die Geister gehen in Dunst auf" (vor V. 6564). Die Verkennung seines imaginären Charakters hat das Erinnerungsbild zum Verschwinden gebracht. Doch der schockhaft erlebte Defekt des Projektionsapparats führt Faust zur Selbstbesinnng. Er begibt sich in das Reich der Imagination, um das Urbild seines Begehrens in sich zu suchen.

 

2. Akt

 

Durch die Explosion der Laterna Magica bewußtlos geworden, kann Faust das Objekt seiner Liebessehnsucht nun unbeeinträchtigt von äußeren Wahrnehmungen in seiner Phantasie erstehen lassen. Er träumt den Mythos von der Zeugung Helenas. Das rein imaginäre Eintauchen in die Welt der antiken Sagen vermeidet die Kollision von Schein und Realität, an der er zuvor gescheitert war. Die symbolischen Inszenierungen des kulturellen Gedächtnisses stehen dem persönlichen Erleben nicht mehr fremd gegenüber: "Vom frischen Geiste fühl' ich mich durchdrungen;/ Gestalten groß, groß die Erinnerungen" (V. 7189f) – das klingt zunächst zwar noch etwas bildungstouristisch aufgesetzt, doch bald schon geht Faust über das passive Anstaunen der mythischen Figuren hinaus und animiert sie durch seine Einbildungskraft zu neuem Leben. "Wie sie dorthin mein Auge schickt" (V. 7271ff, Hv. PM) – in der produktiven Sicht auf die Antike verschmilzt das individuelle mit dem kollektiven Gedächtnis bis zur Ununterscheidbarkeit:

 

So wunderbar bin ich durchdrungen!
Sind's Träume? Sind's Erinnerungen?
Schon einmal warst du so beglückt. (V. 7274ff)

 

Abermals kehrt das Déjà-vu-Erlebnis aus der Hexenküche zurück. Doch diesmal bleibt der biographische Horizont ausgeblendet, der auf der Theaterbühne die mythischen Phantasmen zerstörte. Im Unterschied zur dilettantischen Darbietung am Kaiserhof hat Faust nun die Virtualität der Gedächtnisbilder als solche hinzunehmen gelernt. Seine transitorischen Sehnsucht nach dem Urbild der Schönheit stillt das freilich nicht: "Mein Auge sollte hier genießen,/ Doch immer weiter strebt mein Sinn" (V. 7289f).

Wie er sein persönliches Begehren erfüllen kann, ohne die Bedingungen der Wirklichkeit, in der er sich aufhält, zu verleugnen, wird durch Anspielungen auf den Orpheus-Mythos verdeutlicht: Manto hatte ihm geraten, es beim Gang in die Unterwelt "besser" (V. 7494) zu machen als sein Vorgänger, der das erinnernd wiederbelebte Bild Eurydikes im "habgierigen Blick" (Ovid, Met. X, 56) zu fassen suchte und die Geliebte dadurch endgültig verlor. Faust, den Goethe in einer früheren Skizze dieser Dramenpartie einen "zweyten Orpheus" nennt (FA I, 7/1, S. 643), hatte bei seinem Gang zu den Müttern in vergleichbarer Weise die Projektion Helenas vernichtet. Es nun "besser" zu machen heißt für ihn, das Ziel seiner Sehnsucht innerhalb der Realität des Phantasmagorischen zu suchen. Er holt das Erinnerungsbild aus den Tiefen seiner Einbildungskraft; nur dadurch kann es für ihn lebendig werden.

Analog zur naturgeschichtlichen Erinnerungdynamik der Anmutigen Gegend ist die kulturgeschichtliche der Klassischen Walpurgisnacht an ihren Gegensatz, das Vergessen, gebunden. Entsprechend finden wir die gliederlösende Wirkung der Musik auch hier. Schon von Orpheus wissen wir ja, daß sein anrührender Gesang Selbstvergessenheit hervorrief bei seinen Zuhörern, die sich gerade dadurch ihrer kreatürlichen Urspünge inne wurden – vor allem in der Bildtradition, die ihn unter den Tieren zeigt, ist das aufbewahrt. Es ist diese Fähigkeit zur Selbsthingabe, die auch beim "zweyten Orpheus" das Wiederaufleben der Antike ermöglicht. Fausts Gang in den Hades bedeutet Einswerdung mit den kreativen Kräften, die die mythischen Bilder einst erzeugten; so wird er "zum neuen Schöpfer der Helena".[5] Selbstauflösung aber heißt nicht, die Geschichte außer Kraft zu setzen. Nur im Rahmen der kulturhistorischen Perspektive, die Fausts Blick auf die Antike bestimmt, kann er "sehnsüchtigster Gewalt,/ Ins Leben ziehn die einzigste Gestalt" (V. 7438f). Er begegnet der antiken Schönheit auf einer mittelalterlichen Burg.

 

3. Akt

 

Um sich mit der Gegenwart Fausts, ihres anamnetischen Animateurs, vermählen zu können, muß sich Helena zunächst der Festlegungen ihrer mythologischen Identität entledigen. Als sie den Strand betritt, erfährt sich selbst als ein ins Leben zurückgeworfenes "Idol" (V. 8881). Ihre Persönlichkeit ist noch vollständig überformt von den Stereotypen der Überlieferung. Denn in ihrem Namen sind die Gewalttaten des trojanischen Krieges begangen worden. Die Vorstellungen über sie haben sich dabei von der "Sage" zum "Märchen" immer weiter fiktionalisiert (V. 8515), bis sie schließlich selbst nicht mehr weiß, wer sie war und ist:

 

Ist's wohl Gedächtnis? war es Wahn, der mich ergreift?
War ich das alles? Bin ich's? Werd ich's künftig sein,
Das Traum- und Schreckbild jener Städteverwüstenden? (V. 8838ff)

 

Helena muß die Erzählungen über sich vergessen, um wieder sie selbst sein zu können. Eben das sucht ihre Gegenspielerin Phorkyas-Mephisto zu verhindern – zur Entrüstung des Chors, der ihr vorwirft: "statt […]/ Letheschenkenden holdmildesten Worts/ Regest du auf […] Vergangenheit" (V. 8895ff). Wiederum geht es um das Abstreifen biographischer Erinnerungen zugunsten eines Innewerdens der eigenen Natur. Diesmal aber erscheint das Biographische nicht nur als Äußerlichkeit, sondern schlechthin als Fiktion. Das Bestreben, sich dieser Fiktion zu entledigen, verbindet Helena mit Faust, der ja ebenfalls die eigene Lebensgeschichte im Lethebad tilgte. Wer also vermählt sich hier mit wem?

Es sind die von aller Individualität bereinigten Idealtypen der kulturgeschichtlichen Sphären, denen Faust und Helena angehören. Als dichterische Urbilder des romantisch-mittelalterlichen Burgherrn und des klassisch-antiken "Musters aller Frauen" finden sie zueinander. Goethe vollzieht denn auch die Liaison der beiden aus rein poetischen Mitteln – durch Anverwandlung im lyrischen Sprachklang: Helena, in klassischen Pentametern sprechend, wundert sich über die reimgebundene Sprechweise Fausts. Er führt sie daraufhin in diese Eigenart seines Kulturkreises ein, wobei er umgekehrt ihren Sprachduktus aufgreift, so daß sich ein gemeinsames Drittes ergibt:

 

Helena: So sage denn, wie sprech' ich auch so schön?
Faust: Das ist gar leicht, es muß von Herzen gehn.
Und wenn die Brust von Sehnsucht überfließt,
Man sieht sich um und fragt –
Helena:                                            wer mitgenießt.
Faust:; Nun schaut der Geist nicht vorwärts nicht zurück,
Die Gegenwart allein –
Helena:                           Ist unser Glück." (V. 9377ff)

 

Ist dieses Leben für den Augenblick, zu dem Faust in seiner Reimvermählung mit Helena findet, nur eine seiner "Gedächtnislöschungen"?[6] Aber wie verträgt sich das mit der Tatsache, daß die Liaison aus dem Repertoire des kulturellen Gedächtnisses geschöpft ist?

Die Antwort liegt abermals in Goethes paradoxem Gedächtnisbegriff. Wenn Faust und Helena sich ihrem Gegenwartsglück hingeben, so ist gerade diese Selbstvergessenheit nicht Vermeidung, sondern Erfüllung eines Erinnerns im Zeichen der Mnemosyne. Das melodische Zueinanderfinden im Reim macht diese Dialektik poetisch sinnfällig: Die angenehme Wirkung des Gleichklangs beruht ja darauf, daß der zuvor gehörte Laut mit dem folgenden zu einem Erlebnis psychischer Präsenzzeit verschmilzt. Der Genuß des aktuellen Moments verdankt sich also dem Nachleben des vergangenen. Fausts Reimunterricht symbolisiert damit ein anthropologisches Grundphänomen: den konstitutiven Anteil des Erinnerns für das Erleben. Im kulturhistorischen Maßstab zeigt sich das daran, daß Faust und Helena zum Genuß ihres Gegenwartsglücks nur vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Gedächtnishorizonte kommen können, ohne die das Vermählungserlebnis substanzlos wäre. Beider Selbstvergessenheit ist hier nicht als Leugnung der mythischen Gehalte zu verstehen, sondern im Gegenteil als deren Verlebendigung durch Ausblendung ihrer medialen Bedingtheit – so wie ein faszinierter Leser vergißt, daß er ein Buch in Händen hält oder der Spieler eines Adventure Games, daß er an einem Computer sitzt.

Solange Faust sich sozusagen an die Spielregeln seiner virtuellen Realität hält, bewahrt der Traum seine Suggestionskraft. In dem Moment aber, wo er sich seiner medialen Situation bewußt wird, ist das arkadische Idyll zerstört. Wer träumt, daß er nur träumt, wacht auf. Eben dies geschieht im Verlauf der Euphorion-Episode. Es kommt zur desillusionierenden Kollision mit der Außenwelt, als das aus der Verbindung von Faust und Helena hervorgegangene Kind sich an den Spielräumen der Phantasie, in die es hineingeboren wurde, zu langweilen beginnt und sie von innen heraus in Frage stellt. Da Euphorion die Außenwelt nicht kennt, vermag er seine Lust am Abenteuer- und Kriegsspiel nicht durch Vorsichtsmaßnahmen zu zügeln, wie sie nur die reale Lebenserfahrung lehrt. So stürzt er schließlich beim Versuch zu fliegen in den Abgrund. Es handelt sich um einen Absturz, den das Medium, in dem er sich bewegte, nicht mehr auffangen kann. Fausts Traum ist beendet, da die in ihm phantasierte Gestalt das Erinnerungsvermögen, aus dem sie geschöpft ist, überfordert hat. Was von Euphorion wie auch bald darauf von Helena bleibt, sind ihre entseelten Exuvien: "Kleid, Mantel" und "Schleier" (nach V. 9902 bzw. V. 9944), also das Faßliche der äußeren Hülle, der das innere Leben entwichen ist.

Während der erste Wiederbelebungsversuch Helenas in einer Groteske endete, scheitert der zweite tragisch: durch eine konsequente Entfaltung seiner eigenen Dynamik. Damit hat die Tragödie der Gedächtniskultur ihren Umschlagspunkt erreicht.

 

4. Akt

 

Das Streben zum "höchsten Dasein" ließ sich weder mit noch ohne die Annahme der eigenen Biographie verwirklichen. Für diesen Konflikt wird Faust einen verhängnisvollen Ausweg finden: die Selbstverewigung im Monument. Der 4. Akt bereitet diesen Schritt psychologisch vor.

Faust befindet sich Im Hochgebirg, wo er aus der "Wolke" (nach V. 10038) der Phantasiewelt steigt, in die er sich zuvor hineingeträumt hatte. Die exponierte Position verschafft ihm eine desillusionierende Außenansicht von dem "Dunst", in den er beim ersten Beschwörungsversuch Helenas bewußtlos eingehüllt wurde (nach V. 6563), und den er nun, nach seinem zweiten Scheitern, als nebelhaften Rest der virtuellen Realität Arkadiens hinter sich läßt. Es ist der Vorgang der Imagination als solcher, der ihm dabei zum Reflexionsobjekt wird: Faust erkennt in den wechselnden Wolkenformen variierende Gestalten, "Junonen ähnlich, Leda'n, Helenen" (V. 10050), erfährt sie ob ihres Schwankens aber nur noch ephemer als Anlässe der eigenen Phantasieproduktion. Der Blick auf die medialen Bedingungen der Illusionserzeugung, neudeutsch: die Schnittstelle, bringt die Traumvisionen zum Verschwinden. In dem Moment nun, da diese durch das zu sich kommende Bewußtsein ihrer Scheinhaftigkeit fast gänzlich aufgelöst werden, kehrt die leibliche Selbstwahrnehmung zurück: Am letzten, flüchtigen Rest des verabschiedeten Wolkenbildes, macht Faust die sinnliche Erfahrung von einem verbliebenen "Nebelstreif" und erinnert sich dabei spontan an "jugenderstes, längstentbehrtes höchstes Gut" (V. 10055ff), mithin an Margarete, den Inbegriff der ersten Liebe: "Des tiefsten Herzens frühste Schätze quollen auf" (V. 10060ff) – das Präteritum markiert die Flüchtigkeit des Erinnerungserlebens als "eine nur augenblickshafte Herzensregung: vergangen schon, wenn ausgesprochen" (Schöne, FA I, 7/2, S. 654).

Das Zustandekommen dieser mémoire involontaire resultiert aus der Schwellensituation, in der Faust sich befindet. In der Übergangszone zwischen Schein und Realität können – wie Prousts Roman es später präzise beschreibt – Bilder früheren Erlebens aufsteigen, die sonst entweder im Traum verschlüsselt bleiben oder vom Wachzustand unterdrückt werden. Gerade ob ihrer Unwillkürlichkeit sind solche Erinnerungen intensiver und nachhaltiger als alles vorsätzlich Eingeprägte. Dem Subjekt erscheinen sie als Wesenselemente der eigenen Identität. So erlebt sie auch Faust:

Wie Seelenschönheit steigert sich die holde Form,
Löst sich nicht auf, erhebt sich in den Äther hin,
Und zieht das Beste meines Innern mit sich fort. (V. 10055ff)

 

Er läßt den Nebelstreif ziehen, da er sich innerlich von seiner früheren Lebensgeschichte distanziert hat. Aber er spürt, daß er damit zugleich das Wesentliche seiner Identität preisgibt. Wie ist diese Lücke zu füllen? Faust reagiert nicht anders als viele Menschen (darunter ein berühmter Faustforscher, der aus Unfähigkeit zum Eingeständnis seiner schuldbeladenen Biographie die beschädigte Identität gegen eine rühmlichere auszutauschen versucht hatte): Er will den lebensgeschichtlichen Defekt durch ein Denkmal der eigenen Größe kompensieren.

 

5. Akt

 

Faust läßt sich als Belohnung für einen mit teuflischen Mitteln gewonnenen Krieg ein Stück Land vom Kaiser geben. Es ist kein kultiviertes Lehensgebiet, das er sich erbittet, sondern eines, das erst durch Trockenlegung eines Meeres urbar gemacht werden muß. Dieser Impuls zur künstlichen Belebung von Neuland ist symbolischer Ausdruck von Fausts Umgang mit der eigenen Biographie. Das eine Projekt wird ihm so wenig gelingen wie das andere. Denn überall lauern Erinnerungszeichen, die die neue Identität in Frage stellen und ihn zu immer rigoroseren Verdrängungsaktivitäten nötigen – mit letztlich verheerender Konsequenz auch für ihn selbst. Das Glöcklein einer Dünenkapelle ist ein solches Erinnerungszeichen. Faust reagiert nun anders als im ersten Teil des Dramas, wo ihn beim Klang der Osterglocken "Erinnrung […] mit kindlichem Gefühle" (V. 781) von der Selbstverleugnung abhielt. Diesmal kann er sich mit der eigenen Lebensgeschichte nicht versöhnen; der Klang ist ihm unerträglich:

 

Verdammtes Läuten! Allzuschändlich
Verwundets, wie ein tückischer Schuß,
[…]
Erinnert mich durch neidische Laute:
Mein Hochbesitz er ist nicht rein (V. 11151ff)

 

Die Unreinheit ist eine des Gewissens; sie soll durch die Reinheit der Plankultur, die zur Vernichtung des Hüttenidylls von Philemon und Baucis führt, beseitigt werden. So kann Faust zwar die Erinnerungszeichen vernichten, doch das latente Weiterleben der Erinnerungen kann er sich damit nicht "vom Gemüte" schaffen (V. 11257). Die Sorge schleicht sich ein und "nistet" – wie er aus seinem früheren Leben weiß, als er sie noch gekannt und anerkannt hat – "im tiefen Herzen,/ Dort wirket sie geheime Schmerzen" (V. 644f). Um sie vergessen zu können, benötigt er eine Absicherung seiner neuen Identität in einem unvergänglichen Merkzeichen. Dies ist die Funktion seines Zivilisationsmonuments, das freilich so fiktiv ist wie sein Selbstbild. Der sorglos blinde Faust bildet sich ein: "Es kann die Spur von meinen Erdentagen/ Nicht in Äonen untergehn. – " (V. 11583f).

Die Gigantomanie dieser Vision korrelliert mit Fausts Verdrängungsbedarf gegenüber dem Eingedenken der "kleinen Welt" Margaretes.[7] Ironischerweise ist es aber gerade der Wunsch nach Selbstvergessenheit, der sich in der Arbeit am kompensatorischen Merkzeichen dokumentiert. Faust sieht nicht, daß er sich mit dem Antreiben der Knechte zur Aushebung des Neuland-Grabens nur das eigene Grab bereitet. Sein Bemühen um Verewigung im Monument hat zum unfreiwilligen Ziel das "Ewig-Leere", wie Mephisto nüchtern bilanziert (vgl. V. 11595ff). So beschließt Goethes Drama die Lebensbahn seines Helden mit einer fundamentalen Denkmalskritik.

Diese Kritik nimmt Paradoxien der Memorialkultur vorweg, die erst viel später, im Rückblick auf den Monumentalismus des 19. Jahrhunderts, in aller Schärfe erkannt werden. So notiert etwa Robert Musil in seinem Nachlaß zu Lebzeiten die Beobachtung: "Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie die Denkmäler. Sie werden doch zweifellos aufgestellt, um gesehen zu werden, ja geradezu, um Aufmerksamkeit zu erregen; aber gleichzeitig sind sie durch irgend etwas gegen Aufmerksamkeit imprägniert, und diese rinnt Wassertropfen-auf-Ölbezug-artig an ihnen ab, ohne auch nur einen Augenblick stehenzubleiben."[8] Die Beobachtung, daß das Bedürfnis des Menschen nach Selbstfindung notwendig zu Vergegenständlichungen führe, die ihn vom urspünglichen Ziel des Eingedenkens seiner selbst zugleich abbringen, läßt Georg Simmel um die gleiche Zeit von einer Tragödie der Kultur sprechen.[9] Goethes Drama antizipiert und konkretisiert diesen Gedanken in einer Tragödie der Gedächtniskultur. Welche Konsequenz ist daraus zu ziehen? Die Abschaffung der Denkmäler?

Wie wir bereits feststellten, bedarf jede Kultur zur Aufrechterhaltung ihrer Identität kollektiver Merkzeichen, die das Individuum überdauern. Auch Goethe gehört dazu, und zwar in herausragender Weise; er gilt geradezu als Inbegriff unseres kulturellen Gedächtnisses. Obwohl er also selbst literarische Denkmäler geschaffen und die eigene Person ganz gezielt zum Denkmal stilisiert hat[10], teilt er offenbar nicht das Schicksal seines Dramenhelden. Der Unterschied liegt darin, daß er die unvermeidlichen Selbstwidersprüche jeder Erinnerungskultur als solche zur Darstellung gebracht hat. Das paradoxe Gedächtnistheater seines Faust II führt uns vor Augen, daß keine Form des Erinnerns – sei sie anthropologischer, kulturgeschichtlicher oder biographischer Art – sich realisieren kann, ohne zugleich ihr Gegenteil heraufzubeschwören. Gerade durch diese Blicköffung überwindet er schließlich doch die tragische Perspektive – wenn auch nur im mystischen Gleichnis: In den Bergschluchten wird eine Art des Erinnerns angedeutet, die dauerhaft ist, weil sie nicht auf Fixierungen beruht. Fausts Entelechie steigt in dieser körperlosen Sphäre zum Wolkenbild Margaretes auf, das er im Hochgebirg hatte ziehen lassen. Die einst vergeblich scheinenden Bitten der aus seiner Lebensgeschichte Verstoßenen, ihre Verse im Zwinger, sind hier als Reminiszenz aufbewahrt (vgl. V. 3587ff; V. 12069ff). Sie bewirken nun, daß Fausts frühes Erleben "aus ätherischem Gewande" hervortritt (V. 12090f) – nicht vermöge festhaltender Erinnerung, sondern, nach Adornos Wort, der Hoffnung auf eine "Wiederkunft des Vergessenen"[11].

 



[1] Auf ausführliche Forschungshinweise mußte hier aus Platzgründen verzichtet werden. Eine ungekürzte Fassung dieses Textes ist abrufbar unter der Internet-Adresse: http://www.culture.hu-berlin.de/PM/Pub/Lit/Faust_II.html

[2] Vgl. Peter Matussek, Goethes Lebens-Erinnerungen, In: Hans Werner Ingensiep / Richard Hoppe-Sailer (Hg.), NaturStücke. Zur Kulturgeschichte der Natur, Ostfildern 1996, S. 135–167.

[3] Vgl. Albrecht Schöne FA I, 7/2, S. 479ff.

[4] Ein ähnlicher Mechanismus läßt sich auch für das Mütter-Reich unserer Tage, die Matrix des Cyberspace feststellen, wo es gerade die Abwesenheit des anderen ist, die das Präsenzerlebnis verstärkt. Vgl. Peter Matussek, www.heavensgate.com – Virtuelles Leben zwischen Eskapismus und Ekstase, in: Paragrana 6 (1997), H. 1: Selbstfremdheit, S. 129–147.

[5] Dorothea Hölscher-Lohmeyer, Natur und Gedächtnis. Reflexionen über die klassische Walpurgisnacht, in: Werner Keller (Hg.), Aufsätze zu Goethes 'Faust II', Darmstadt 1991, S. 93–122, hier S. 122.

[6] Harald Weinrich, Dante und Faust, in: Gary  Smith / Hinderk M. Emrich (Hg.), Vom Nutzen des Vergessens, Berlin 1996, S. 105–131, hier S. 125.

[7] Das läßt sich am Sprachduktus des Schlußmonolgs detailliert nachweisen, worauf hier verzichtet werden muß. Vgl. ausführlich dazu: Peter Matussek, Tun und Lassen. Zur Dynamik des 'Faust'-Schlusses, in: Oliver Jarasch / Thomas Greven (Hg.): Umwege. Für eine lebendige Wissenschaft des Politischen, Frankfurt am Main 1999, S. 50–60.

[8]Robert Musil, Nachlaß zu Lebzeiten. Unfreundliche Betrachtungen. Denkmale, in: ders.: Sämtliche Erzählungen, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 324–327.

[9] Georg Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, 3. Aufl. Potsdam 1923, S. 236–268.

[10] Das reicht von seiner eingestandenermaßen fiktional geprägten Lebensgeschichte Dichtung und Wahrheit über seine hoch selektive Nachlaßvorbereitung bis zur Beteiligung an Entwürfen für Goethe-Denkmäler.

[11] Theodor W. Adorno, Zur Schlußszene des Faust, in: ders., Noten zur Literatur II, Frankfurt am Main 1961, S. 7–18, hier S. 18.