Peter Matussek

Mediale Praktiken

 


Erschienen in:
>>Böhme, Hartmut / Matussek, Peter / Müller, Lothar: Orientierung Kulturwissenschaft;
2. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2002, S. 179-202.

 

     
 

Der Begriff "Medium" wird heute meist nachrichtentechnisch aufgefaßt. Eine typische Definition im Konversationslexikon etwa lautet: "Mittel und Verfahren zur Verbreitung von Informationen" (Meyer 1987). Historisch gesehen ist dies ein reduzierter Sprachgebrauch, der ein urspünglich magisches und kultisches Erbe verdrängt hat: "Medien" sind im herkömmlichen Sinn nicht einfach Übermittler von Botschaften, sondern Vermittler von spirituellen Kräften. Sie dienten nicht nur der Distribution von kulturellem Wissen zwischen Sendern und Empfängern, sondern führten zum Erlebnis einer Transformation der Beteiligten im Vollzug kultureller Praktiken – mit allen Vorzügen und Risiken der Selbstpreisgabe.

Man mag ähnliche Tendenzen auch den technischen Medien attestieren. Allerdings ist der transformatorische Charakter bei ihren archaischen Vorläufern, Opfer- und Initiationsriten, religiösen Festen und Trancetänzen (vgl. J. Assmann. ;1991, Faulstich 1997) sinnfälliger als beim Umgang mit modernen Kommunikationsmitteln. Daß diese gleichfalls einen rituellen Charakter haben und auf die Beteiligten eine oft magische, ja bisweilen religiöse Faszinationskraft ausüben, die das verdrängte Erbe durchscheinen läßt, erschließt sich erst einem kulturhistorischen Blick, der in Medien mehr sieht als Signalübermittler. Freilich wäre es sinnlos, dem etablierten neuen Sprachgebrauch die alte Bedeutung entgegenhalten zu wollen. Denn diese hat sich mittlerweile zu jenen "Medien" verdünnt, die in spiritistischen Séancen und Hypnose-Vorführungen ihr Schattendasein führen. Offenbar hängt die eine Begriffsreduktion mit der anderen zusammen. Um beiden Wortfeldern Raum zu geben, haben wir dieses Kapitel nicht mit dem gängigen Ausdruck "Medientheorie", sondern dem umfassenderen "Mediale Praktiken" überschrieben. In dieser perspektivischen Öffnung erst werden Medien als Gegenstände kulturwissenschaftlicher Forschung und Lehre interessant.

Auch das Nachdenken über die Medienabhängigkeit der Kultur ist nicht so neu, wie es der modische Diskurs bisweilen suggeriert. Schon das biblische Bilderverbot verriet eine differenzierte Einsicht in die Manipulationsmacht visueller Medien. Und spätestens mit der komplementären Warnung vor der Schrift durch den Schriftsteller Platon (vgl. oben S. ###) wurde die Medienkritik selbstreflexiv: als Kulturkritik, die weiß, daß sie sich der als schädlich erkannten Kommunikationsmittel zu bedienen hat. Ein Aspekt dieser Selbstreflexion ist die Einsicht in die kultische Herkunft medialer Praktiken. Sie ist bis in unser Jahrhundert hinein präsent geblieben.

Noch für Ernst Cassirer war "Medium" ein entsprechend universaler Begriff, der alle Wissens- und Handlungbereiche, religiöse Riten ebenso wie mathematische Formeln umfaßt. Ihm zufolge sind die "einzelnen 'symbolischen Formen': der Mythos, die Sprache, die Kunst, die Erkenntnis [...] die eigentümlichen Medien, die der Mensch sich erschafft, um sich kraft ihrer von der Welt zu trennen und sich eben in dieser Trennung um so fester mit ihr zu verbinden" (1942b, S. 25).

Auch Walter Benjamin ging bis in die zwanziger Jahre von einem kulturübergreifenden, ursprachlichen Medienbegriff aus: "jede Sprache teilt sich in sich selbst mit, sie ist im reinsten Sinne das 'Medium' der Mitteilung. Das Mediale, das ist die Unmittelbarkeit aller geistigen Mitteilung, ist das Grundproblem der Sprachtheorie, und wenn man diese Unmittelbarkeit magisch nennen will, so ist das Urproblem der Sprache ihre Magie" (1916, S. 142f.). Gerade Benjamin, der zunächst noch aller Medialität ausdrücklich ein theologisches Erbe attestierte, sollte der erste sein, der für seine Gegenwart einen prinzipiellen Bruch mit diesem Erbe diagnostizierte und ihn theoretisch zu begründen suchte. Mit drei Aufsätzen aus den dreißiger Jahren wird er so zum Vorreiter dessen, was später "Medientheorie" genannt wird: "Kleine Geschichte der Photographie" (1931), "Der Autor als Produzent" (1934) und "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (1936). Alle drei Texte können als Versuche gewertet werden, den ästhetischen Schock zu erklären, der von den neuen Reproduktions- und Distributionstechniken Photographie, Radio und Film in jener Zeit ausging – ein ästhetischer Schock, der auf eigentümliche Weise mit den gewaltigen politischen und ökonomischen Umbrüchen der Zeit zusammenzuhängen, ja in sie verstrickt zu sein schien. Bekannt wurde vor allem Benjamins "Kunstwerk"-Aufsatz, und zwar in einer politisch entschärften französischen Fassung, die Max Horkheimer nach teilweise eigenmächtigen Streichungen und Änderungen in der Zeitschrift des von ihm geleiteten Instituts für Sozialforschung publizierte.

Das Anstößige an dem Aufsatz war für den Direktor des gerade erst nach New York exilierten und den Vorwurf des Linskradikalismus fürchtenden Instituts der Versuch Benjamins, in Reaktion auf die faschistische Propaganda die neuen Massenmedien in den Dienst der kommunistischen Bewegung zu stellen. Dieser Versuch wird in dem Text nicht einfach durch die triviale Forderung einer Änderung der Inhalte realisiert. Der theoretische Ehrgeiz Benjamins zielt vielmehr darauf, allein aus der technischen Beschaffenheit der neuen Kommunikationsmittel ihre progressive gesellschaftliche Funktion abzuleiten. Diese macht er vor allem an dem Merkmal der massenhaften Vervielfältigung und Verbreitung fest. Während das traditionelle bürgerliche Werkverständnis einzigartige Originalwerke für vereinzelte Rezipienten darbietet und eine kontemplative Rezeptionsweise verlangt, die noch auf die kultischen Ursprünge der Kunst zurückgeht, versorgt die neue Reproduktionstechnik viele Menschen gleichzeitig mit exakt denselben Produkten, so daß sie zu einer Gemeinschaft Gleichgestellter verschmelzen. Benjamin bringt das auf die Formel, daß der bisherige rituelle "Kultwert" durch den politischen "Ausstellungswert" (1936, S. 357) ersetzt werde. Diesen Übergang, den er als emanzipatorisch zu erweisen sucht, diagnostiziert er mit einem bis heute vieldiskutierten Theorem als "Verfall der Aura" (S. 354).

Benjamins Grunddefinition für die Aura, die in mehreren seiner Texte wiederkehrt, lautet: "einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag" (S. 355; ebenso 1931, S. 378 sowie 1939, S. 647). Damit sind zugleich die Unnachahmlichkeit wie die Unnahbarkeit des kultischen Artefakts angesprochen – Kriterien, die von den Höhlenmalereien bis in die bürgerlichen Vorstellungen authentischen Schöpfertums und ästhetischer Autonomie Gültigkeit behielten. Benjamins Optimismus, daß mit deren Verdrängung durch die neuen Reproduktionsmedien ein neues Reich der Freiheit aufdämmere, wirkt allerdings bemüht, zumal er für die Aura so prägnante und poetische Formulierungen findet, daß sie ihren Verlust eher als beklagens- denn erstrebenswert erscheinen lassen. Auch was er an ihre Stelle treten sieht, klingt nicht unbedingt verlockend: eine Umstellung und Anpassung des menschlichen Wahrnehmungsapparats an den Rhythmus der modernen Fließbandproduktion (1936, S. 381; vgl. 1939, S. 631).

Verständlich werden solche Überlegungen nur vor dem Hintergrund der historischen Situation: Der bürgerliche Kunstbetrieb hatte die Aura zu instrumentalisieren begonnen; ihre Huldigung in der Andacht großer Werke diente zur weltflüchtigen Ignoranz gegenüber den politischen Tendenzen des Totalitarismus. Die ästhetischen Avantgarden sagten sich deshalb von der Beschwörung auratischer Qualitäten los, blieben dabei aber meist einem elitären Werkverständnis verhaftet. Auch sie wichen dadurch einer Auseinandersetzung mit dem Faschismus aus, der die neuen Reproduktionstechniken äußerst erfolgreich einsetzte, um Massenkultur und Führerkult zu amalgamieren. Benjamins Plädoyer für eine entauratisierte, politische Kunst sucht dieser Herausforderung offensiv zu begegnen. Er möchte den von der einen Seite verschmähten, von der anderen mißbrauchten neuen Rezeptionsbedingungen aufklärerische Potentiale abgewinnen. In diesem Bemühen deklariert er selbst so evident auf kommerzielle Unterhaltung angelegte Produkte wie die "Micky-Maus" noch als volkspädagogisch wertvoll. Auch das schadenfrohe Lachen über die verprügelten Protagonisten signalisiert für ihn nicht Akzeptanz von Gewalt, sondern deren kathartische Entladung, den "vorzeitigen und heilsamen Ausbruch" von "Massenpsychosen" (1936, S. 377).

Benjamins Versuche einer revolutionären Nobilitierung der Massenkunst haben ihm die scharfe Kritik seines Freundes Adorno eingebracht. Adorno zufolge geht die "einfache Antithese zwischen dem auratischen und dem massenreproduzierten Werk, die, um ihrer Drastik willen, die Dialektik beider Typen vernachlässigt", an der Tatsache vorbei, daß die Aura authentischer Kunst eine "fernrückende, gegen die ideologische Oberfläche des Daseins kritische" Qualität haben kann (1970, S. 89f.). Dadurch opponiere gerade sie der "Kulturindustrie", die "Aufklärung als Massenbetrug" betreibe (Horkheimer/Adorno 1947, S. 108), während das falsche Versprechen einer künstlichen Auratisierung eher von den neuen Reproduktionstechniken ausgehe, was man etwa am Starkult der Filmbranche beobachten könne. Adorno erinnert zugleich daran, daß Benjamin in der "Kleinen Geschichte der Photographie" noch einen differenzierteren Begriff der Aura verwendete, indem er ihr jene kritische, sich den Verdinglichungsprozessen der modernen Reproduktionstechnik entziehende Qualität zuschrieb. Erst mit der Reproduktionsarbeit, die sich einer "penetranten Beliebtheit" (1970, S. 90) erfreue, sei Benjamin der Simplifikation erlegen, die Wirkungen von Kunst allein an ihren Produktionsmitteln festzumachen und nicht etwa am Verhältnis ihrer Formsprache zum gesellschaftlichen Kontext. Doch gerade die programmatische Fokussierung auf die technischen Aspekte der Kommunikation macht den Kunstwerkaufsatz zu einem Prätext der "Medientheorie".

Als deren Gründungsdokument ist das knapp 30 Jahre nach Benjamin und unabhängig von diesem geschriebene Buch "Understanding Media" (1964, dt.: Die magischen Kanäle) des kanadischen Anglisten Herbert Marshall McLuhan anzusehen. Es hebt an mit der phonetisch so eingängigen wie inhaltlich provozierenden Formel "The medium is the message", in der alle Medientheorien bis heute ihren – mehr oder weniger expliziten, mehr oder weniger bejahten – Bezugspunkt finden. Um das Anregungspotential dieser Formel zu verstehen, muß man ihren Entstehungskontext berücksichtigen.

McLuhan hatte kurz zuvor ein anderes Werk abgeschlossen, "Die Gutenberg-Galaxis" (1962), eine Studie über die kulturrevolutionären Folgen des Buchdrucks, die er nicht aus den mit der neuen Technik verbreiteten Inhalten, sondern allein aus den mit ihr verbundenen Produktions- und Distributionsformen ableitete. So nimmt er etwa die Uniformität des typographischen Schriftbildes und seine im Vergleich zur Handschrift statische Erscheinung als Ursache für eine sich entwickelnde Starrheit des Blicks. Es kommt zur Etablierung von festen "Standpunkten" im Denken wie im Sehen: Die Philosophie sucht nach Begründungsfundamenten, und die Malerei führt die Zentralperspektive ein. Die Inspiration zu derartigen Analogiebildungen zwischen technischen und kognitiven Prozessen verdankte McLuhan seiner Begegnung mit dem Ökonomen Harold Innis. Dieser hatte bereits zu Beginn der fünfziger Jahre die These aufgestellt, daß die materiale Beschaffenheit von Kommunikationsmedien einen determinierenden Einfluß auf den Charakter von Kulturen habe. So leitete er etwa aus der Tatsache, daß die Ägypter sich vornehmlich in Stein und Ton "verewigten", die Dauerhaftigkeit und Immobilität ihrer Kultur ab, aus der papiernen Grundlage der neuzeitlichen Nationen hingegen deren Dynamik und Instabilität (vgl. Innis 1997).

McLuhan charakterisiert seine "Gutenberg-Galaxis" ausdrücklich als "Fußnote" zu Innis (1962, S. 63). Dessen Ansatz fortschreibend, verfolgt er die Entwicklungslinie vom schweren Medium des Steins über das Papier hin zum elektrischen Licht, das er als den zentralen kulturellen Transformator der Gegenwart betrachtet und um das nun seine Beobachtungen in "Understanding Media" kreisen. Dabei betont McLuhan immer wieder, daß ein Verständnis von Medien nur möglich ist, wenn man von deren Inhalten absieht: So hat für ihn "die Botschaft des elektrischen Lichtes […] sein Verwandlungs- und Informationsvermögen" nicht etwa in den Mitteilungen von Signallampen oder Leuchtschriften, sondern darin, daß es den Lebensrhythmus verändert. "Autos können die ganze Nacht fahren, Ballspieler die ganze Nacht spielen und Fenster bei Gebäuden kann man weglassen. […] Der Medienforscher braucht nur über das Vermögen dieses Mediums des elektrischen Lichtes nachzudenken, kraft dessen jede Raum- und Zeitordnung und jede Arbeits- und Gesellschaftsordnung, das es durchdringt oder berührt, umwandeln kann, und er hat schon den Schlüssel zum Verständnis der Art von Kraft, die in allen Medien steckt, jede Lebensform, die sie berühren, umzugestalten" (1964, S. 69).

Dieser kritische Blick hinter die pseudo-informativen Kulissen der modernen Massenmedien ist es, der sich in der Formel "The medium is the message" verdichtet. Dessen ungeachtet ist sie schon bald nach Erscheinen von "Understanding Media" derart popularisiert und trivialisiert worden, daß McLuhan 1969 ein Bändchen folgen ließ, dessen parodistischer Titel "The Medium is the Massage" (dt.: Das Medium ist Massage) auf das unbedachte Nachgelalle der These anspielt und zugleich klarstellt, daß es ihm nicht einfach um eine zynische Konstatierung von Sinnverlusten ging, sondern darum, auf die neuen Formen der kulturellen Einflußnahme durch Medien aufmerksam zu machen.

Medien bewirken aber nach McLuhan nicht nur Massage-Effekte, sondern sorgen darüber hinaus für Organersatz: "The Extensions of Man"lautete der Untertitel von "Understanding Media".Damit greift McLuhan eine – in Deutschland vor allem mit dem Namen Arnold Gehlen verbundene – These auf, derzufolge Techniken für den Menschen nicht nur äußere Werkzeuge, sondern prothetische Erweiterungen seiner natürlichen Ausstattung sind, und schreibt sie für den Bereich der neuen Kommunikationstechniken fort: Die mit Hilfe der Elektrizität ermöglichten Informationsnetze ergänzen nicht mehr nur mechanische Funktionen des Menschen, sondern sein Zentralnervensystem. Dieses wird durch die Möglichkeiten elektrischer Datenübetragung einerseits "weltumspannend erweitert" (1964, S. 406) und läßt doch andererseits dank der Geschwindigkeit elektrischer Impulsübertragung alle Informationen greifbar nah erscheinen – so entsteht die "neue Welt des globalen Dorfes" (S. 113). Wie bei jeder Prothese aber sind auch die medialen Extensionen des Menschen ihrer selbst notwendig unbewußt: "Selbstamputation schließt Selbsterkenntnis aus" (S. 59). Diese unvermeidliche Ambivalenz der Technik ins Bewußtsein zu heben und damit in die menschliche Verfügung zurückzuholen, ist das zentrale Anliegen McLuhans. Immer wieder bekennt er sich dezidiert zu dem "Versuch, alle Medien sowie die Konflikte, aus welchen sie entstehen, und die noch größeren Konflikte, zu welchen sie Anlaß geben, zu verstehen, diese Konflikte durch zunehmende Autonomie des Menschen zu verringern" (S. 68). "Da Verstehen das Handeln unterbindet […] können wir die Härte dieser Auseinandersetzung nur dadurch mildern, daß wir die Medien verstehen, die uns ausweiten und diese Kriege in uns und um uns verursachen" (S. 27).

Einen Hauptgrund für die Konflikte der Moderne sieht McLuhan darin, daß sie durch den Buchdruck in einen "typographischen Trancezustand" versetzt worden sei, der die Lebendigkeit oraler Kulturen in einer Blickfixierung zum Verstummen gebracht habe. Die Zukunftsperspektive der Menschheit macht er entsprechend davon abhängig, wie die "Entscheidungsschlacht zwischen Sehen und Hören, zwischen der schriftlichen und mündlichen Form der Wahrnehmung und Organisation des Daseins" ausgeht (S. 26f.). Diese sinnesästhetische Differenzierung und Bewertung medialer Wirkungen, die McLuhans Werk durchzieht, ist ebenfalls keine Innovation McLuhans, sondern verdankt sich Anregungen aus der Altphilologie. Milman Parry war es bereits in den zwanziger Jahren gelungen, den empirischen Nachweis für eine These zu erbringen, die seit August Wilhelm Schlegel immer wieder nur als Vermutung vorgebracht werden konnte: daß die homerischen Epen urspünglich kein schriftstellerisches Werk seien, sondern dazu bestimmt waren, gesungen, also mündlich überliefert zu werden. Anhand von Feldstudien bei den jugoslawischen Guslaren, die seinerzeit als letzte lebenden Epensänger galten, zeigte Parry, daß charakteristische Stilmerkmale der homerischen Epen (formelhafte Wiederholungen, Rhythmik etc.) primär die Funktion hatten, besser im Gedächtnis behalten werden zu können, also nicht auf dichterische Freiheit, sondern die Erfordernisse einer oralen Mnemotechnik zurückgingen.

Parrys Beobachtungen sind vor allem durch eine Veröffentlichung seines Schülers Albert B. Lord aus dem Jahre 1960 bekannt geworden. Geradezu schlagartig erschienen in den folgenden Jahren neben McLuhans Hauptwerken eine Reihe weiterer bedeutender Untersuchungen zur Medienabhängigkeit von kulturellen Äußerungsformen, insbesondere zum Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Erwähnt seien nur Claude Lévi-Strauss (1962), Eric A. Havelock (1963), Jack Goody und Ian Watt (1963), Walter J. Ong (1967) und Jacques Derrida (1967).

Daß so plötzlich in den sechziger Jahren eine bis heute anhaltende Flut von Untersuchungen über den griechischen Übergang von der Oralität zur Literalität aufkam, spricht für andere Beweggründe als rein historische Interessen. Vielmehr ist es die Zeit, in der Computer den Alltag zu durchdringen begannen und die kulturelle Vorherrschaft des Buchs zu bedrohen schienen. Das führte zu dem Bedürfnis, aus einer genaueren Kenntnis vergangener Medienwechsel Kriterien für die Beurteilung des gegenwärtigen zu gewinnen. So hat etwa Ong, ein Freund und Schüler McLuhans, im Anschluß an Havelocks Charakterisierungen der mündlichen Kultur der Griechen seine Prognose vom Anbruch eines Zeitalters der "sekundären Oralität" abgeleitet: Die elektronischen Medien dementieren die von der Schrift bewirkte Distanzierung zwischen Autor und Leser; denn das globale Dorf bietet Partizipationsmöglichkeiten, die die Merkmale der primären Oralität, Situations- und Adressatenbezogenheit, auf höherer Stufe erneuern (1982, S. 136).

Bei aller Vielfalt der Quellen, die McLuhan aufgriff, und bei aller Unterschiedlichkeit der Anregungen, die von seiner provokativen Verdichtung dieser Quellen ausging, bildet er, wie gesagt, den zentralen Bezugspunkt dessen, was heute unter Medientheorie verstanden wird. Diesen Status verdankt er der Konsequenz, mit der er die "Materialität der Kommunikation" (vgl. Gumbrecht/Pfeiffer 1988) als konstitutiv für die Stiftung von kulturellem Sinn herausgestellt und so die alte geisteswissenschaftliche Ansicht von der Kulturgeschichte als Ideengeschichte unterminiert hat.

McLuhans Kernthese, daß Medien der kulturbestimmende Faktor seien, unterscheidet seinen Begriff von Medientheorie sowohl von "Einzelmedientheorien" wie auch den in Kommunikations-, Gesellschafts- oder Systemtheorie eingerahmten Medientheorien (vgl. Faulstich 1991). Er präsentiert sich gegenwärtig in zwei konträren Varianten: Die eine sieht in der technischen Struktur der Medien ihre Wirkursachen, die andere in der Art, wie sie sich der Wahrnehmung präsentieren. Beide Richtungen, die technologische und die phänomenologische, sind in der heutigen Diskussion gleichermaßen stark vertreten. Sie seien in exemplarischen Ausschnitten dargestellt, um zu erkunden, inwieweit Kulturtheorie als Medientheorie überhaupt betrieben werden kann.

Der technologische Ansatz der Medientheorie geht wie der phänomenologische davon aus, daß "Medien anthropologische Aprioris" (Kittler 1986, S. 167) seien, begreift dies aber so, daß es nicht deren konkrete Erscheinungsweise ist, die die Lebenswelt der Benutzer prägt, sondern eine jenseits der phänomenalen Gegebenheit wirkende, prinzipiell unverstehbare Logik: "Alle Buchstaben, die scheinbar harmlos auf den Monitoren, Druckern und Synthesizerkeyboards laufen, sind nichts anderes als endlos verschlüsselte Zahlen" (Meier 1996, S. 168). Schulbildend für diese Betrachtungsweise ist der zum Medientheoretiker konvertierte Literaturwissenschaftler Friedrich Kittler, der diesbezüglich in Deutschland eine Vorreiterrolle hat. Sein Ausgangspunkt sind die kanonischen Objekte der literarischen Hermeneutik in Goethezeit und Jahrhundertwende, die er vor dem Hintergrund der ersten Erfahrungen mit PCs an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten als Teilelemente des jeweiligen historischen Standes technischer Datenverarbeitung liest. Diese Rekonstruktion der "Aufschreibesysteme 1800/1900" (1985) verdankt sich methodisch der Diskursarchäologie Foucaults (1966, 1969), die an der kulturgeschichtlichen Entwicklung der Ordnungsvorstellungen eine Perfektionierung unbewußt machtgesteuerter Regelsysteme des Denkens und Handelns offengelegt hatte. Kittlers Fortschreibung dieses Ansatzes besteht darin, daß er ihn zunehmend auf die "Regelkreise" von Kommunikationstechniken zusammenzieht: "Spätestens seit der zweiten industriellen Revolution mit ihrer Automatisierung von Informationsflüssen erschöpft eine Analyse nur von Diskursen die Macht- und Wissensformen noch nicht. Archäologien der Gegenwart müssen auch Datenspeicherung, -übertragung und -berechnung in technischen Medien zur Kenntnis nehmen. Gerade die Literaturwissenschaft kann nur lernen von einer Informationstheorie, die den erreichten technischen Stand formalisiert anschreibt, also Leistungen oder Grenzen von Nachrichtennetzen überhaupt meßbar macht" (1985, S. 429).

Der in diesen programmatischen Sätzen vollzogene Übergang von der Kenntnisnahme zur Priorisierung der Basisfunktionen der Datenverarbeitung bezeichnet präzise den Fortgang der Arbeiten Kittlers. Mit "Grammophon, Film, Typewriter" (1986) verfolgt er konsequent die Weiterentwicklung der Speichertechnologien seit 1900, die er in einer eigenwilligen Adaption Lacans Begriffen des Realen, Imaginären und Symbolischen zuordnet: Die Bezeichnungen, die der strukturalistische Psychoanalytiker für unterschiedliche Weisen der Selbstwahrnehmung (im unmittelbaren Begehren, im Spiegelbild, in der Sprache) verwendet hatte, werden bei Kittler auf die drei Formen der Nachrichtenübertragung projiziert.

Eine weitere Zuspitzung seines Erklärungsansatzes, der seinen Fluchtpunkt in einem digitalen "Aufschreibesystem 2000" hat, vollzieht Kittler in weitgestreuten und facettenreichen Einzelstudien mit Hilfe der mathematischen Informationstheorie Claude E. Shannons. Diese Theorie fußt auf einer Konzeption von 1928, die sich dem Versuch verdankte, den damaligen Stand der Nachrichtentechnik so weit in eine formale Beschreibung zu überführen, daß es möglich wurde, die Fähigkeiten verschiedener Systeme, Informationen zu übertragen, rein quantitativ durch Zahlen auszudrücken. Zu diesem Zweck unterschied Shannon fünf miteinander verschaltete Instanzen für die Übertragung von Datenströmen: Informationsquelle, Sender, Kanal, Empfänger und Senke (d.h. die Adresse, wo die Information schließlich niedergelegt wird). Kittler sieht in dieser formalen Einteilung den Endpunkt einer Medienevolution, die sich aus ursprünglichen Amalgamierungen der fünf Instanzen allmählich ausdifferenziert habe, wobei "der historische Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit einer Entkopplung von Interaktion und Kommunikation gleichkam, der Übergang von Schrift zu technischen Medien dagegen einer Entkopplung auch von Kommunikation und Information" (1996, S. 650). Nach Shannon allerdings besteht ein Primat der "semantischen Aspekte der Kommunikation" über die technischen: Während jene "nicht im Zusammenhang mit den technischen Problemen stehen", wäre ihm zufolge der Umkehrschluß gleichwohl falsch, "daß die technischen Aspekte unabhängig sind von den semantischen" (Shannon/Weaver 1948, S. 41 u. 18). Eben diese Priorisierung der Semantik wird von der Kittler-Schule invertiert: Das rechnerische Maß der Informierbarkeit wird zur Determinante aller mit ihr übermittelten Bedeutungen wie auch der lebensweltlichen Kontexte, in denen diese Übermittlungen stattfinden (vgl. Kümmel 1997) – eine Engführung der Kernthese McLuhans im Geiste der Mathematik.

Diese Engführung ist nicht unwidersprochen geblieben. Besonders jüngere Medientheoretiker – aufgewachsen mit Computern, die nicht mehr nur als Rechen- und Chiffriermaschinen fungieren – melden Bedenken an gegenüber einer Verabsolutierung des nachrichtentechnischen Modells: "Denn geht es in der Rockmusik oder im Spielfilm tatsächlich um eine 'Speicherung von Information'? Und wenn, ist dies der gleiche Informationsbegriff, der innerhalb der Datenverarbeitung gilt? Der Begriff scheint zu wenig geklärt, als daß eine solche Verallgemeinerung sinnvoll wäre" (Winkler 1997, S. 83). In der Tat bedarf es angesichts der Vielfalt medialer Praktiken mehr als nur formaler Argumente, um die These zu halten, daß es die Signalübertragung ist, die allen Lebensbereichen, also etwa auch Körpertechniken, wesentlich zugrunde liegt. Kittler sucht den empirischen Nachweis hierfür dadurch zu erbringen, daß er den Krieg zum Vater aller Medien erklärt. Angeregt durch die einschlägige These von Paul Virilio (1984), leitet er die Universalität der nachrichtentechnischen Basisoperationen aus militärstrategischen Notwendigkeiten ab: das Speichern aus denen des amerikanischen Bürgerkriegs, das Übertragen aus denen des Ersten Weltkriegs und das Berechnen aus denen des Zweiten (1986, S. 352). Aus dieser funktionalen Zurüstung aller Medien nach militärstrategischen Erwägungen gibt es nach Kittler kein Entrinnen. Rockmusik etwa erscheint unter dieser Perspektive als "Mißbrauch von Heeresgerät" (S. 170).

Gewiß entbehrt der "Umkehrschluß", der aus der Tatsache, "daß alle wesentlichen Kriegstechnologien Techniken der Kommunikation sind", die These folgert, "daß unsere Kommunikation durch Medien gewährleistet wird, die nichts als Kriegsabfall sind" (Kümmel 1997, S. 226), der formalen Stringenz, die von der eigenen Orientierung an der Unerbittlichkeit der Rechnerlogik eigentlich gefordert wird. Doch es ist gerade dieser Hang zur Übertreibung, der – als kryptonormativer Appell – die Engführungen der Kittler-Schule essayistisch aufhellt. Das unterscheidet sie von einem medientechnologischen Faktizismus, der im Bemühen um zeitgemäßes Denken jeden reflexiven Anspruch rigoros verwirft. "Menschen", befindet etwa Norbert Bolz, "sind heute nicht mehr Werkzeugbenutzer, sondern Schaltmomente im Medienverbund […] – wir rasten in Schaltkreise ein" (1993, S. 115). Diese Alternativlosigkeit bestimmt auch die anthropologische Innenperspektive: "Der Mensch – und auch sein Stolz: Phantasie, Kunst – zerfällt in Physiologie und Datenverarbeitung, die nur durch eine Medientheorie wieder zu integrieren wären." Die medientheoretische Integration muß unter diesen Umständen mager ausfallen; sie kann nur noch die Reduktionen addieren, von denen sie ausgeht: "So können wir die beiden Grundvorgänge bestimmen, die das Gesicht der postmodernen Welt prägen – nämlich einmal die Entäußerung des Zentralnervensystems in den neuen Medien; zum anderen der Transfer des Bewußtseins in den Computer durch elektronische Simulation." Ein Drittes gibt es nicht: "Was einmal Geist hieß, schreibt sich heute im Klartext von Programmen" (1994, S. 9).

Diese vorauseilende Unterwerfung unter die möglichen Tendenzen der Computergesellschaft findet den Beweisgrund ihrer Thesen in sich selbst. So hatte schon Alan Turing auf die Frage reagiert, ob Maschinen einmal ebenso denken können würden wie Menschen. Unser Begriff des Denkens, schrieb er, werde sich bis zur Jahrtausendwende so weit geändert haben, daß er auf Mensch und Maschine gleichermaßen angewendet werden könne, ohne daß mit Widerspruch zu rechnen wäre (1950, S. 117).

Auch wenn Turings Prognose noch nicht ganz zutreffen dürfte, hat die technologische Medientheorie zweifellos den Trend auf ihrer Seite. Indem sie es zum "Faktum" erhebt, "daß die Gegenwart von Algorithmen und Schaltkreisen gemacht wird" (Bolz/Kittler/Tholen 1994, S. 7), macht sie sich zur self-fulfilling prophecy. Damit aber entkräftet sie die Kernthesen McLuhans, die sie unter Abschneidung ihrer emanzipatorischen Gehalte zuspitzen möchte (vgl. Bolz 1990). Hatte McLuhan noch den Anspruch vertreten, den medialen Prothesen durch Bewußtmachung ihre determinierende Macht zu nehmen, versucht der technologische Ansatz der Medientheorie in seiner radikalisierten Variante nur noch, diese Determinationsmacht bestätigt zu finden.

In dieser pessimistischen Grundtendenz kommt er mit der kulturkonservativen Medienkritik überein, wie sie etwa von Neil Postman vertreten wird. Auch Postman beruft sich auf eine generalisierte Fassung von McLuhans berühmter Grundformel. Ihr zufolge sind Medien Metaphernmaschinen, die "ebenso unaufdringlich wie machtvoll ihre spezifischen Realitätsdefinitionen durchsetzen" (1985, S. 20). Für das Zeitalter der elektronischen Bildmedien heißt das, daß diese die Sinngehalte wortbestimmter Kulturen torpedieren und mit ihrer Mischung von Information und Entertainment einen neuen Denk- und Wahrnehmungsstil bewirken, der die Rezipienten zu urteils- und erinnerungsunfähigen Konsumenten infantilisiert. Damit aber sei ein "Absterben der Kultur" überhaupt verbunden: "Wir amüsieren uns zu Tode" verkündet Postman mit einem populären Buchtitel von 1985, denn nur das Lesen und Hören von Texten übt ihm zufolge jene geistige Konzentration, die für ein ernsthaftes und kohärentes Weltbild nötig ist. Die Fernsehwelt hingegen zeichne sich durch Konfusion, Unernst und Inkohärenz aus – und zwar nicht erst durch ihre Inhalte, sondern allein schon aufgrund ihrer Kombination von Telegraphie und Bildtechnik, die per se bestimmte Darbietungs- und Rezeptionsformen begünstige. Als Symptom dieser "Guckguck-Welt" (S. 83) nennt Postman etwa das Aufkommen von Quizspielen und Ratesendungen: "Während die Menschen früher nach Informationen suchten, um den realen Kontext ihres Daseins zu erhellen, mußten sie jetzt Kontexte erfinden, in denen sich nutzlose Informationen scheinbar nutzbringend gebrauchen ließen" (S. 97). Solche Pseudo-Kontexte treten mehr und mehr an die Stelle der Wirklichkeit. Sie werden augenblicksartig konsumiert, ohne sich in der Erinnerung zu halten. Was sich dabei aber unterschwellig als neuer Daseinsinhalt in den Menschen festsetzt, ist – wie Postman beobachtet – der Glaube an die Technologie als solche, der die Pseudo-Kontexte entnommen werden. An die Stelle der tradierten Kulturwerte mit ihren "transzendenten Orientierungen oder Sinnbestimmungen" tritt das "Technopol", das die Menschen in seinen Bann zieht und ihre Vorstellungsarten beherrscht (1992, S. 73).

So führt der technologische Ansatz der Medientheorie in seiner wertkonservativen wie in seiner postmodernistischen Variante zu der Erkenntnis, daß der kulturprägenden Macht der Medien nicht durch inhaltliche oder gestalterische Maßnahmen beizukommen sei, da diese den determinierenden Faktoren der Technik, ihrer Hardware, gegenüber immer bloße Kosmetik bleiben müßten. "Es gibt keine Software", lautete Kittlers Befund (1993, S. 202). Postman allerdings zieht daraus andere Konsequenzen. Er mag sich nicht mit einer medienarchäologischen Konstatierung der Fakten begnügen. Der Tatsache, daß es in der informationstechnisch profanisierten Welt "keine Götter mehr" gebe, setzt er die Forderung nach sinnstiftenden Potentialen entgegen, die die Qualität einer "großen Erzählung" haben, das heißt "einer, die genug Glaubwürdigkeit, Komplexität und symbolische Kraft hat, um es Menschen zu ermöglichen, sie in den Mittelpunkt ihres Lebens zu stellen" (1995, S. 18).

Der genaue Gegentyp zur Medientheorie Postmans ist diejenige Vilém Flussers, die hier als Exponent des phänomenologischen Ansatzes vorgestellt sei. Während Postmans Medienökologie als Alternative zum Technopol neue Götter fordert, sieht Flussers "Medien-Theologie" (Neswald 1998) gerade in der Informationstechnik die Chance einer Apotheose. Der besorgten Mahnung, daß wir uns zu Tode amüsieren, steht ein beherztes "Lob der Oberflächlichkeit"(1993) gegenüber. Für den einen ist die elektronische Bilderflut der Untergang des Abendlandes, für den anderen dessen Rettung: "Ins Universum der technischen Bilder" (1985) führt bei Flusser der Weg zum Heil.

Diese Polarität der Einschätzungen resultiert aus der Gegensätzlichkeit der medientheoretischen Ansätze: In technologischer Hinsicht sind die Auswirkungen von Medien an deren objektiver Beschaffenheit abzulesen, unabhängig davon, wie sie den wahrnehmenden Subjekten erscheinen mögen. In phänomenologischer Hinsicht dagegen bestimmt die lebensweltliche Situation des Subjekts, als was ein Medium ihm jeweils erscheint und wie es auf ihn einwirkt. Ein an Albert Einstein angelehntes Beispiel von Maurice Merleau-Ponty mag diesen Unterschied der Betrachtungsweisen illustrieren: Wenn von zwei Zügen, die auf einem Bahnhof nebeneinander stehen, einer abfährt, so wird für einen Fahrgast immer derjenige Zug der unbewegliche zu sein scheinen, in dem er sich lebensweltlich situiert: "Wenn ich in meinem Abteil Karten spiele, ist es der Nachbarzug, der abfährt. Wenn ich mich umgekehrt nach jemandem im Nachbarzug umsehe, dann ist es der meinige." Nach Merleau-Ponty handelt es sich auch im Fall des faktischen Irrtums nicht einfach um optische Täuschungen, sondern um Wirklichkeiten, die sich entsprechend meiner Wahrnehmung der Welt vor mir organisieren (1945, S. 233). Diesen phänomenologischen Grundsatz sieht Merleau-Ponty auch in der filmischen Montage bestätigt und verweist als Beleg auf das berühmte Experiment von Pudowkin: Der russische Filmregisseur hatte Anfang der zwanziger Jahre Großaufnahmen eines Schauspielers mit neutralem Gesichtsausdruck in verschiedene Filmszenen einmontiert, die einen Teller Suppe, einen Sarg mit der Leiche einer Frau und ein kleines Mädchen, das mit einem Teddybär spielt, zeigten. Für das Publikum wirkte der Schauspieler nachdenklich angesichts der vergessenen Suppe, traurig beim Anblick der Toten und beglückt beim Betrachten des kleinen Mädchens, obwohl es sich stets um den gleichen Gesichtsausdruck handelte. Entscheidend ist also nicht, resümiert Merleau-Ponty, wie die Dinge wirklich sind, sondern wie sie dem Subjekt im Kontext seiner Weltwahrnehmung erscheinen. Dies gilt für ihn auch bei einem so technischen Medium wie dem Kino, das hiermit völlig anders eingeschätzt wird als etwa von Benjamin, der die angebliche Nichtkontemplativität des Films mit dem rein technischen Argument begründet hatte, daß dessen Bilder sich permanent veränderten (1936, S. 379)."Bewegung und Ruhe", schreibt dagegen der Phänomenologe, "verteilen sich für uns in unserer Umgebung durchaus nicht gemäß der Voraussetzungen, die zu konstruieren unsere Intelligenz beliebt, sondern gemäß der Art und Weise, wie wir uns in der Welt verwurzeln, und gemäß der Situation, die unser Körper darin mitschafft" (1945, S. 233).

In diesem Sinn lehnt auch Flusser eine objektivistische Sicht auf die Medientechnologie als unangemessene Verkürzung der subjektiven Wahrnehmungs- und Gestaltungsfaktoren ab. Die äußere Erscheinung eines Mediums – von der archaischen Ritzerei in Lehm bis zum Monitorbild – ist ihm zufolge nicht marginal, sondern gerade in ihrer Oberflächlichkeit essentiell. Die auf Computerbildschirmen dargebotene Information sieht Flusser als Endpunkt eines gattungsgeschichtlichen Entwicklungsprozesses, der sich am Leitfaden einer zunehmenden Sublimierung der Wahrnehmung in fünf Stufen gliedern läßt: Ausgangspunkt ist die "Stufe des konkreten Erlebens": Das Tier und der "Naturmensch" sind hier noch "in eine vierdimensionale Raumzeit", eine kontinuierliche "Lebenswelt gebadet". Diese wird in der dreidimensionalen Erfahrungsweise des Urmenschen vergegenständlicht. Darauf folgt, beginnend mit der Höhlenmalerei, die Epoche der "traditionellen Bilder", die sich als "imaginäre, zweidimensionale Vermittlungszone" zwischen den Menschen und die Objektwelt schieben. Die Erfindung der Schrift hat eine weitere, nunmehr eindimensionale "Vermittlungszone, die der "linearen Texte, eingeschoben", auf der unser Begreifen und geschichtliches Denken beruhen. Die Schriftstufe schließlich wird durch die "Stufe des Kalkulierens und Komputierens" abgelöst. Sie ist Voraussetzung für das "dimensionslose, eingebildete Universum der technischen Bilder" (1985, S. 10–14). Flussers Entsinnlichungsgeschichte, die sich auf den ersten Blick in die kulturpessimistischen Untergangsszenarios einzureihen scheint, bürstet diese in einer originellen Wendung gegen den Strich: Die fortschreitende Abstraktion der Informationsmedien ist für ihn kein Verlust, sondern eine Annäherung an das eigentliche Ziel der Information. Dieses besteht nicht einfach in der Datenübertragung, sondern bedeutet, getreu der Etymologie des Worts 'in-formieren', "Formen in etwas graben" (1987, S. 15), ein ursprünglich taktiles "Ein-bilden", das auf dem Weg der Sublimierung eins wird mit seinem immateriellen Substrat, der menschlichen Einbildungskraft (1985, S. 39ff.).

Wie Shannon benutzt Flusser den aus der Thermodynamik entlehnten Begriff der Entropie als negatives Maß von Information. Flusser jedoch versteht die durch Information bewirkte "Negentropie" im Unterschied zum nüchtern mathematischen Nachrichtenmodell als utopisches Potential: "Denn die Apparate sind menschliche Produkte und der Mensch ist ein Wesen, das gegen die sture Tendenz des Universums zur Desinformation engagiert ist. Seit der Mensch seine Hand gegen die ihn angehende Lebenswelt ausstreckte, um sie aufzuhalten, versucht er auf seinen Umstand Informationen zu drücken. Seine Antwort auf den 'Wärmetod' und den Tod schlechthin ist: 'informieren'" (S. 19). Somit werden just die Zentralkategorien der elektronischen Datenverarbeitungstechnik durch einen phänomenologischen Perspektivwechsel in Leitbegriffe einer Eschatologie umgewendet, die dem Menschen qua Gestaltung virtueller Realitäten Erlösung von der Erdenschwere des Daseins verheißt.

In der schöpferischen Kraft von Informationen, die durch die Manipulierbarkeit der elektronischen Bilder freigesetzt wird, sieht Flusser die bisher nicht dagewesene Chance des Menschen, eine neue kulturelle Stufe zu erobern: die "telematische Gesellschaft". Sie ist dann erreicht, wenn die Gesellschaft sich von ihrem falschen Gebrauch der Informationstechniken zu Kontroll- und Herrschaftszwecken frei macht und dem genuin emanzipatorischen Charakter dieser Techniken gerecht wird, das nicht auf autoritäre, sondern auf dialogische Kommunikationsformen angelegt ist (S. 72). Möglich sind derartige Perspektiven nur, weil Flusser "Medien" nicht als anonyme und unveränderliche Übermittler von Nachrichten versteht, sondern als gestisch-aktive Vermittler zwischen Menschen (1991, S. 98).

Die Stärke des phänomenologischen Ansatzes in der Medientheorie besteht darin, die Effekte der Kommunikationstechniken nicht als gegeben hinzunehmen, sondern als Wechselspiel von Subjekten und Objekten zu begreifen. Merleau-Ponty zufolge ist "Sinn immer nur als sinnlich inkarnierter Sinn gegeben". Dieses "Verhältnis von Sinn und Sinnlichkeit wird", wie Sybille Krämer dargelegt hat, "geprägt in der Performanz unseres Medienumgangs" (1996, S. 34f.). Worte oder Bilder, Analoges oder Digitales sind eben nicht eo ipso in ihrer Bedeutung und Wirkung festgelegt, sondern entfalten diese erst in der lebensweltlichen Situation ihres Gebrauchs, der gerade bei digitalen Medien durch deren Gestaltungsmöglichkeiten extrem flexibilisiert wird.

Schwächen zeigt der phänomenologische Ansatz dort, wo er dazu neigt, die subjektive Wahrnehmung zu enthistorisieren und damit als Faktor der Medienrealität zu überschätzen. Zwar bestimmt das Interface-Design und nicht die Hardware darüber, wie Daten von Rezipienten aufgenommen und dadurch erst zu Informationen synthetisiert werden, aber umgekehrt entscheidet der jeweilige Stand der Technik darüber, was der Wahrnehmung der Rezipienten überhaupt dargeboten werden kann (und damit unweigerlich wird) und welche Metaphoriken sein Selbstverständnis prägen. So haben die Technik der Filmprojektion oder das Computermodell von storage and retrieval unsere Vorstellungen von Bewußtseins- und Gedächtnisvorgängen stark beeinflußt – jedenfalls in den Frühphasen dieser Medien, bis der Schock des Neuen verflogen war und die psychische Bewältigungsstrategie einer Identifikation mit dem technischen Angreifer (vgl. Turkle 1984) einer selbstbewußteren Betrachtung weichen konnte.

Der technologische Ansatz der Medientheorie kann durch den phänomenologischen nicht ersetzt werden – auch dann nicht, wenn dieser sich explizit zu einer phänomenologischen Mediengeschichte erweitert (Därmann 1995). Denn es wäre ein zirkuläres Unterfangen, die historischen Veränderungen der Wahrnehmungsmodalitäten, die den Interpretationsspielraum der Subjekte begrenzt, vom Subjekt her zu bestimmen. Ebenso verkürzt ist es aber, die Geschichte der menschlichen Apperzeption und Kognition mit der Technikgeschichte ineins zu setzen. Was es dagegen in einer wechselseitigen Ergänzung von phänomenologischen und technologischen Aspekten zu berücksichtigen gilt, ist die Tatsache, daß beide Entwicklungen asynchron verlaufen. So werden zwar die Wahrnehmungsformen des Menschen zweifellos von den Techniken der Datenverarbeitung beeinflußt – z.B. das Sehen durch die optischen Apparate (vgl. Crary 1990) – , doch die organischen Veränderungen entsprechen keineswegs den technischen Innovationszyklen. Die Struktur der menschlichen Sinne ist in zehntausenden von Jahren relativ konstant geblieben im Verhältnis zu dem, was ihr die Medienevolutionen in immer rascherem Wechsel zumuten. Und kein Anpassungsdruck vermag die natürliche Grenze zu überschreiten, die von den neurophysiologischen Grundgegebenheiten unserer Wahrnehmung gesetzt wird – etwa der Tatsache, daß jede Erfahrung einer Situation als "Gegenwart" auf das Minimum eines "Drei-Sekunden-Fensters" angewiesen ist (Pöppel 1989).

Will man beide Aspekte, den subjektiven der menschlichen Wahrnehmung und den objektiven der maschinellen Datenverarbeitung, in ihrer Wechselwirkung begreifen, darf keiner von beiden verabsolutiert werden. Es gibt keine einseitigen Abhängigkeiten zwischen Kultur- und Mediengeschichte. Ein angemessenes Bild ihres Verhältnisses kann daher nur von einer Forschungsperspektive entworfen werden, die beide Ansätze in sich aufnimmt. Es gibt diverse Konzepte, die eine solche Rahmengebung versuchen. Abermals konzentrieren wir uns auf zwei Richtungen, die in der gegenwärtigen Mediendebatte tonangebend sind: Systemtheorie und historische Anthropologie.

Die systemtheoretische Medientheorie geht auf Niklas Luhmann zurück. Ihr Medienbegriff ist wesentlich weiter gefaßt als der technologische oder phänomenologische. Im Rückgriff auf Fritz Heider (1926) und Talcott Parsons (1937) knüpft Luhmann an jene Wortbedeutung an, die von der nachrichtentechnischen beiseitegeschoben worden war. "Medien" sind bei ihm Vermittler von Erkenntnisgegenständen, Individuen und Gesellschaften: Wahrheit, Liebe, Recht etwa oder Glaube, Macht, Geld. Als gemeinsamer Nenner des Luhmannschen Begriffs von Medien läßt sich sagen, daß sie "als Codes für die Kommunikation von sozialen Systemen unter besonderer Berücksichtigung personaler Systeme" fungieren (Faulstich 1991, S. 171). Ein Vorteil dieses erweiterten Medienbegriffs ist, daß er deterministischen Verkürzungen entgeht. Nach Luhmann ist das Medium keineswegs schon die Botschaft, sondern dieser gegenüber neutral und unbestimmt. Erst durch die verschiedenen Formen, die es je nach Bedarf annehmen kann, tritt es als solches in Erscheinung. Diese Sichtweise gestattet es, Einzelmedien wie Buch, Radio oder Computer derart zu kontextualisieren, daß sie in ihrem jeweiligen Verhältnis zum allgemeinen Zweck der Ermöglichung von Kommunikation beurteilt werden können, statt ihre faktische Gegebenheit zu verabsolutieren.

Allerdings geht damit auch eine Neutralisierung von Technikfolgen einher. So könnte Luhmanns Medienbegriff mit seiner kommunikationstheoretischen Kopplung von Information und Motivation zwar Phänomene wie die Anziehungskraft von Computern erklären, müßte dabei aber all diejenigen Aspekte ausblenden, die in dieser kommunikativen Funktion nicht aufgehen: z.B. Suchtverhalten und Zwangshandlungen, die von den Anmutungen der Apparate selbst ausgelöst werden. So ist der Vorteil der Systemtheorie, ihr hoher Abstraktionsgrad, zugleich auch ihre Schwäche. Gleichwohl übt sie auf die gegenwärtige Debatte einen nachhaltigen Einfluß aus und inspiriert zu Fortschreibungen (vgl. etwa Esposito 1993, 1998).

Ein anderer Ansatz zur Vermittlung von phänomenologischen und technologischen Aspekten der Medientheorie ergibt sich aus der historischen Anthropologie. Diese ist, wie oben (Kap. III, 3) dargelegt, kein einheitliches Gebiet, sondern ein Spektrum unterschiedlicher Versuche, den Wechselwirkungen zwischen kultureller Evolution und individueller Erlebnissphäre nachzugehen. Entsprechend vielgestaltig sind die Thematisierungen von Medien, die sich dieser Richtung zuordnen lassen. Werner Faulstich etwa unternimmt in einem mehrbändigen Werk den Versuch einer "Medienkulturgeschichte", die "zwischen Einzelmediengeschichten auf der einen und einer allgemeinen Kommunikationsgeschichte auf der anderen Seite" vermittelt (1997, S. 9). Hartmut Winkler möchte aus dem Dilemma zwischen einer medialen Innenansicht, die nur den "'Stand der Technik' für die Medienentwicklung verantwortlich macht", und einer Außenansicht, die "die Medienentwicklung durch technik-externe, gesellschaftliche Funktionen bestimmt sieht", herausführen. Zu diesem Zweck bringt er sie in einer "Strukturbeobachtung" von "Wunschkonstellationen" zusammen, die beiden Dynamiken zugrunde liegen (1997, S. 15ff.). Auch Jan und Aleida Assmann. ;betonen die Notwendigkeit, über die "Aporien" hinauszukommen, in die sich der "Mediendeterminismus" einerseits und die "geistesgeschichtliche Deutung" der Medien andererseits verstrickt haben, weil sie "die vom jeweils anderen Ansatz hervorgehobenen Zusammenhänge nicht gebührend berücksichtigen"; ihr Vermittlungsansatz sieht vor, daß sie beide Richtungen "einstellen in den größeren Horizont der 'Konstruktion kultureller Zeit'" (J. Assmann. ;1992, S. 25). Explizit als Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien verstehen sich die Beiträge in den von Müller-Funk und Reck (1996) sowie von Faßler und Halbach (1998) herausgegebenen Sammelbänden. In der programmatischen Einleitung des ersten wird postuliert, "mediale Maschinerien als Spiegelungen von Bedürfnissen, Antrieben und Phantasmen einer Menschheit zu verstehen, die nicht zuletzt in Gestalt der techné praktische Anthropologie betreibt", sowie "danach zu fragen, wie diese mediale techné die Befindlichkeit des Menschen verändert, variiert und modifiziert, die sich nicht einfach und statisch zwischen Mensch und Welt stellt, sondern indem sie letztere erst in der uns heute geläufigen Form konstituiert, auch […] Momente des Inszenatorischen und Imaginären ins Blickfeld rückt" (S. 1). Dabei ist den Herausgebern klar, daß diese Doppelperspektive nicht in methodologischer Festlegung, sondern nur in einer Vervielfältigung der Perspektiven, als "Heterologie" (S. 244) betrieben werden kann.

Bei aller Verschiedenheit der Positionen kann eine solche Heterologie als notwendige Bedingung jeder kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Medien gelten. Erst im Spektrum der vielfältigen kulturgeschichtlichen Faktoren – psychologischen wie soziologischen, politischen wie theologischen – gewinnt die technische Entwicklung der Medien ihre eigene Kontur: als ein Teilsystem, das in Wechselwirkung mit diesen Faktoren steht, die es nicht einsinnig bestimmt, sondern von denen es auch umgekehrt bestimmt wird. Von welchem Detail ihre Untersuchung auch immer ausgeht – erst in der Öffnung des Blicks für die Lebensvollzüge, in die sie eingelassen sind, d.h. erst in der Betrachtung von Medien als Elementen medialer Praktiken, wird man ihrer kulturellen Bedeutung gerecht.

In dieser doppelten Blicköffnung für die konkreten Situationen des aktuellen Mediengebrauchs bei gleichzeitiger Berücksichtigung ihrer historischen Verwandtschaften kommt etwa auch die Tatsache zum Vorschein, daß der magische Usprung von Medien keineswegs erledigt ist, sondern in der digitalen Ära nur eine Fortsetzung mit anderen Mitteln erfährt. Just in dem Moment, da der Computer mit seinen Basisoperationen – Speichern, Übertragen, Prozessieren – die signaltechnische Ausnücherung des Medienbegriffs zu vollenden scheint, stellen wir verwundert fest, daß die mit ihm erst möglichen Animationsverfahren zur Wiederkehr animistischer Vorstellungen und Praktiken führen. Elektronisch Vernetzte reaktivieren als Tele-Theologen und Cybergnostiker den Mediumismus alter Prägung, elektronische Avatars reinkarnieren sich digital und finden im Online-Sein ihr wahres, überreales Selbst (Davis 1994, Turkle 1995, Matussek 1997).

Mögen diese Erscheinungen bloße Mißverständnisse sein – man wird deren Zustandekommen und Faszinationen nur verstehen, wenn man den Blick von der rein technologischen Betrachtung neuer Medien erweitert zugunsten einer historisch-anthropologischen Bestimmung ihrer Stellung und Funktion im lebensweltlichen Zusammenhang. Dabei wird rasch klar, daß jene Exzesse nur die Extreme einer Verkultungstendenz sind, die von elektronischen Medien ausgelöst wird. Das Personalisieren des Computers als "anderes Selbst" und als "Wunschmaschine" (Turkle 1984) wird mehr oder weniger bewußt und unterschwellig vollzogen. Wer hat nicht schon seinem Computer bewundernde Blicke bei hoher Rechenleistung zu- oder im Störungsfall unfreundliche Worte "an den Kopf" geworfen – wobei man in der Regel, technisch unsinnig, nicht die unter dem Schreibtisch befindliche Recheneinheit, sondern den Monitor adressiert, der an den algorithmischen Fehlfunktionen keine Schuld trägt. Solche Anthropomorphisierungen gehören zu den Strategien von Menschen, sich der Befremdlichkeit oder Bedrohlichkeit von Techniken zu erwehren (Krämer 1997). Die sogenannten "Hacker" sind keineswegs frei davon. Als "Computergurus" sind gerade sie häufig die Subjekte wie Objekte von Mystifikationen, umgeben von einer Aura der "Eingeweihten" und mit ihren Geräte jene magischen Rituale veranstaltend, die sie im Namen dieser Geräte verabschiedet zu haben erklären. So kehrt gerade im neuesten Medienverständnis das allerälteste zurück.

Aber auch da, wo neue Medien nicht mystifiziert werden, geht ihr Gebrauch weit über dasjenige hinaus, was sich in nachrichtentechnischen Begriffen beschreiben ließe. Was etwa die Arbeit an einem vernetzten Rechner bedeutet, ist nicht allein aus den übermittelten Codes und der Art ihrer Berechnung zu ermitteln, sondern auch aus dem gesamten situativen und atmosphärischen Kontext, dem Handlungs-, Erfahrungs- und Erlebnisgefüge, in dem dieser Gebrauch stattfindet. Als mediale Praktiken sind sie, ihrer Natur gemäß, nicht in theoretischen Konzepten allein zu erfassen, sondern erst auf der Grundlage eigener Erfahrungen. Diese dürfen sich allerdings nicht in der Bedienung von Apparaten erschöpfen, sondern müssen das von historisch-kritischer Reflexion angeleitete Erproben neuer Gebrauchsweisen und Gestaltungsformen einschließen. Nur in diesem Sinn kann die heute vielfach geforderte "Medienkompetenz" tatsächlich eines der vorrangigen Vermittlungsziele von kulturwissenschaftlicher Forschung und Lehre sein: als Reflexionskompetenz, die im Handeln zur Selbstbesinnung befähigt.