Peter Matussek

Kulturphilosophie

 


Erschienen in: Böhme, Hartmut / Matussek, Peter / Müller, Lothar: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will; 2. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 56-65.

 

     
 

Nach einem berühmten Diktum Hegels beginnt die Eule der Minerva ihren Flug erst mit der einbrechenden Dämmerung (1821, S. 28). Für die Kulturphilosophie gilt das in einem prägnanten Sinn. Sie kommt in dem Moment auf, als die Gestalten, in denen sich das kulturelle Leben bisher zeigte, alt geworden sind und Ermüdungs- wie auch Verdüsterungserscheinungen offenbaren. War der Kulturbegriff seit der Antike bis in den deutschen Idealismus und seine wilhelminische Ideologisierung hinein im wesentlichen von organologischen und religiösen Vorstellungen geprägt, so erscheinen im Dämmerlicht des fin de siècle die beiden ursprünglichen Bedeutungen von "cultura", Ackerbau und Kultus (vgl. Böhme 1995), als überlebt. Der Modernisierungsschub der technisch-industriellen Revolution, der alle Kulturbereiche umwälzte, versetzte den urbanisierten und von seinen Apparaten umgetriebenen Menschen in den Zustand einer "transzendentalen Obdachlosigkeit" (Lukács 1916, S. 32). Für die Verkünder des verfallenden Säkulums gilt es als ausgemacht, daß es auch in den Werken der Kunst keine verläßlichen Bedeutungen, keine weltanschauliche Zuflucht mehr gibt. Selbst die Worte der Sprache sind – wie Hofmannsthals Chandos-Brief eindringlich darlegt – vermodert. Ein ungebrochenes Bekenntnis zum natur- und glaubensverwurzelten Leben erscheint demgegenüber illusorisch; "Kultur" ist selbst zu einem Industrieprodukt geworden, zum Kitsch, der dem entzauberten Dasein falschen Glanz verleiht. In dieser Situation, da die Grundlagen des alten Kulturbegriffs erschüttert sind und die Suche nach seiner neuen Fundierung zur Existenzfrage wird, beginnt der steile Aufstieg der Kulturphilosophie. Pünktlich zur Jahrhundertwende taucht der Terminus erstmals auf (Stein 1900).

Er ist von vornherein nicht, wie das Kompositum suggerieren könnte, die Bezeichnung für einen bestimmten Zweig der Philosophie. Kulturphilosophie ist – quer zur fachwissenschaftlichen Spezialisierung – der Sammelbegriff für diverse Bestrebungen, das Überlebtsein des alten Kulturverständnisses zu erklären und die Möglichkeiten einer Revitalisierung unter gewandelten Bedingungen zu erörtern. Diese Bestrebungen haben zwei Hauptwurzeln: zum einen die in der Nachfolge Nietzsches, Diltheys und Bergsons stehende Aufwertung des Erlebens gegenüber dem Erkennen, zum anderen die phänomenologischen und neukantianischen Ansätze zur Bestimmung der Werthaftigkeit kultureller Phänomene in Abgrenzung zu derjenigen naturwissenschaftlicher Objekte. Beide Zweige vereint das gemeinsame Anliegen, gegenüber der deduktiven Logik der Naturwissenschaften die eigensinnige Logik des kulturellen Lebens hervorzukehren. Nicht auf Generalisierbarkeit und Gesetzmäßigkeit zielten die Begründungsversuche der Kulturphilosophie, sondern auf Individualität und Ereignishaftigkeit. Um diesem Anliegen ein Forum zu geben, vereinen sich die unterschiedlichsten Denker unter einem publizistischen Dach: der 1910 von Georg Mehlis gegründeten, seit 1912 gemeinsam mit Richard Kroner herausgegebenen Zeitschrift "Logos". Der Untertitel "Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur" distanziert sich von der allgemeinen Tendenz zum Nationalismus. Und die editorischen Richtlinien postulieren analog dazu die Unabhängigkeit vom Territorialdenken der Expertenkulturen. Beide Grenzüberschreitungen, die geographische und die akademische (vgl. Kramme 1997), sind zu jener Zeit, die auf den Ersten Weltkrieg und eine zweckrationale Positivierung der Wissenschaften zutreibt, keineswegs selbstverständlich. Dennoch findet das Unternehmen, das im Editorial der ersten Ausgabe ausdrücklich erklärt, "keine bestimmte philosophische Richtung und vollends keine Schule" vertreten zu wollen, von Beginn an prominente Beiträger. Deren Spektrum reicht von dem Religionshistoriker Ernst Troeltsch und dem Lebensphilosophen Rudolf Eucken, der 1908 den Literaturnobelpreis erhalten hatte, über den Begründer der philosophischen Phänomenologie, Edmund Husserl, und die Neukantianer Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert bis hin zu dem Soziologen Max Weber, der mit seinem Postulat der Wertfreiheit der Wissenschaften positivistischen Grundsätzen schon wieder nahekommt. Will man aus diesem breiten Spektrum ob der hier gebotenen Kürze einen Vertreter herausheben, so muß die Wahl auf Georg Simmel fallen, der die tragische Grundhaltung der Kulturphilosophie in ihrer Begründungsphase eindringlich artikuliert und damit einen Denkstil antizipiert, der später zur regelrechten Modeerscheinung wird.

Schon seine akademische Außenseiterrolle macht ihn zum Repräsentanten der Kulturphilosophie, für die Dissidentenschicksale geradezu die Regel sind. Diese Außenseiterrolle ist freilich in einem Denken begründet, das sich den Diskurskonventionen der schulphilosophischen Zunft entzieht. Und das hat diese ihm heimgezahlt. Simmel bekam die höheren akademischen Weihen erst spät verliehen. Er war 56, als er endlich eine ordentliche Professur in Straßburg erhielt, nachdem er an der Berliner Universität, wo er als Extraordinarius für Soziologie eine große Zuhörerschaft in seinen Bann zog, bei Berufungen immer wieder übergangen wurde. Dies hat nicht verhindern können, daß er Anreger und Stichwortgeber für zahlreiche Kulturphilosophen wurde, die gleich ihm meist Grenzgänger sind: Simmels Einflüsse sind bei Benjamin, Adorno und Horkheimer, Bloch, Cassirer, Gehlen, ja auch bei Lévi-Strauss, Bourdieu und Clifford Geertz nachweisbar. Doch kaum einer der Genannten hat sich zu dieser Quelle seiner Begriffe oder Denkmotive bekennen mögen. Erst heute findet Simmel allmählich günstigere Rezeptionsbedingungen (vgl. Lichtblau 1997).

Aktuell erscheint er seinen heutigen Lesern vor allem aufgrund seines entschieden antisystematischen Duktus. Die Forderung unserer Gegenwart nach einer performativen Wende der Geisteswissenschaften, die sich nicht mehr nur als Beschreibung kultureller Gegenstände, sondern selbst als kulturelle Praxis verstehen sollen, hatte Simmel bereits vorweggenommen und für sich erfüllt. Nicht "Kulturphilosophie", sondern "Philosophische Kultur" nennt er denn auch, die disziplinäre Fachbestimmung in eine Eigenschaft, eine Gestik transformierend, seine bedeutendste Essaysammlung. Im Vorwort schreibt er: "die Ergebnisse dieser Bemühungen mögen fragmentarisch sein, die Bemühung ist es nicht" (1911a, S. 166). Wie diese Haltung sich in seiner Denkbewegung niederschlägt, wird in mikrologischen Studien deutlich, die sich konkreten Phänomenen widmen: "Das Abenteuer", "Die Mode", "Die Koketterie", "Der Henkel", "Die Ruine" so lauten einige der Überschriften in dem Buch. Gerade solche Versenkungen ins Einzelne aber führen bei Simmel zu grundsätzlichen Reflexionen. Sie kulminieren in dem vieldiskutierten programmatischen Aufsatz "Der Begriff und die Tragödie der Kultur" (1911b).

Der ursprünglich im zweiten Jahrgang von "Logos" erschienene Essay ist selbst wie eine Tragödie aus fünf gedanklichen "Akten" aufgebaut. In seiner Exposition behauptet Simmel einen Urdualismus aller Kultur. Dieser bestehe einerseits in "der strömenden Lebendigkeit" des kulturschaffenden Impulses: Ein von persönlichen "Keimkräften" motivierter Weg der "Seele zu sich selbst" führe zur Hervorbringung von "Kulturwerten". Auf der anderen Seite gerinnt diese kulturschaffende Bewegung zur Festigkeit von "Sachwerten", die sich jener Lebensbewegung entgegenstellen (S. 395). Simmel entwickelt diesen Konflikt bis zu seiner Peripetie, dem Scheitelpunkt des klassischen Dramas, indem er feststellt, daß zwar ohne Verdinglichung, d.h. ohne die grundsätzliche Entfremdung der Sachwerte von den Kulturwerten gar keine Kultur existieren kann, dieses Dilemma sich aber in der Moderne zunehmend verschärft: Die Akkumulation und die Umsatzgeschwindigkeit der Kulturgüter steigert sich unaufhörlich, was dem Zweck, in dessen Namen sie geschaffen wurden, mehr und mehr entgegenwirkt. Das Individuum findet im kulturellen Überangebot nicht mehr zu sich selbst, sondern wird zunehmend aus der Bahn geworfen.

Dramaturgisch effektvoll führt Simmel die wissenschaftlichen Belege für seine These just an dieser Stelle seiner Gedankenführung an, wo sie nur noch als spannungssteigernde Verzögerung in einem unweigerlich auf die Katastrophe zusteuernden Szenario erscheinen können. Die schon von Marx beschriebenen Phänomene der entfremdeten Arbeit und des Fetischcharakters der Ware, die Tendenz einer positivistisch übersteigerten Philologie zum Pedantismus, die Verselbständigung der künstlerischen Techniken gegenüber dem Dargestellten, die Symptome einer allgemeinen Neurasthenie schließlich, das unfruchtbare, inhaltsleere "Angeregtsein" des modernen Kulturmenschen (S. 415) – all das sind für Simmel keine kurierbaren Erscheinungen, sondern der Schlußakt einer Tragödie, der Tragödie der Kultur, die unvermeidlich ist, weil sie zu ihrem immanenten Bewegungsgesetz gehört. Ganz im Sinne der klassischen Ästhetik definiert Simmel:

"Denn als eine tragisches Verhängnis – im Unterschied gegen ein trauriges oder von außen her zerstörendes – bezeichnen wir doch wohl dies: daß die gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen; daß sich mit seiner Zerstörung ein Schicksal vollzieht, das in ihm selbst angelegt und sozusagen die logische Entwicklung eben der Struktur ist, mit der das Wesen seine eigene Positivität aufgebaut hat. Es ist der Begriff aller Kultur, daß der Geist sich ein selbständig Objektives schaffe, durch das hin die Entwicklung des Subjektes von sich selbst zu sich selbst ihren Weg nehme; aber eben damit ist jenes integrierende, kulturbedingende Element zu einer Eigenentwicklung prädeterminiert, die noch immer Kräfte der Subjekte verbraucht, noch immer Subjekte in ihre Bahn reißt, ohne doch diese damit zu der Höhe ihrer selbst zu führen: die Entwicklung der Subjekte kann jetzt nicht mehr den Weg gehen, den die der Objekte nimmt; diesem letzteren dennoch folgend, verläuft sie sich in einer Sackgasse oder in einer Entleertheit von innerstem und eigenstem Leben" (S. 411).

Es ist bemerkenswert, daß dieser aussichtslose Befund Jahre vor jenem Ereignis formuliert wurde, das die Selbstzerstörungstendenz der abendländischen Kultur auf die Spitze trieb. Simmel, der wie viele jüdische Intellektuelle anfangs die patriotische Begeisterung der Deutschen im Ersten Weltkrieg teilte, bis er sich angesichts des historisch ersten industriell betriebenen Massentötens entschieden distanzierte, hatte damit jene Diagnose vorweggenommen, die erst in den zwanziger Jahren die Kulturphilosophie zu einer Modeerscheinung machen sollte, nämlich die schockhafte Erfahrung, die Paul Valéry stellvertretend für seine Generation in die Worte faßte: "Wir Kulturvölker, wir wissen nun, daß wir sterblich sind" (zit. bei Konersmann 1996b, S. 9). In der Tat kann die Erfahrung des Ersten Weltkriegs als der eigentliche Anlaß für die Verbreitung von Kulturphilosophie angesehen werden. Sie tritt damit in ihre zweite, populäre Phase.

Diese Populärität geht allerdings auf Kosten der urspünglich kritischen Haltung gegenüber den Tendenzen, die in die Katastrophe geführt hatten. Exemplarisch für diese Wendung ist Oswald Spenglers "Untergang des Abendlandes", ein Werk, das wie Simmels Tragödienaufsatz bereits vor dem Ersten Weltkrieg entstanden war, nun aber, zum Kriegsende erst, erscheint – gerade rechtzeitig, um den verhinderten deutschen Helden einen Mythos nachzureichen, der die Niederlage erträglich machen sollte. Während Simmel in der kulturellen Dynamik die Tendenz zur zivilisatorischen Entfremdung ausmachte, spielt Spengler simpel kontrastiv die germanisch-urwüchsige "Kultur" gegen die welsch-verweichlichte "Zivilisation" aus. Die Tragödie der Kultur wird zu einem chauvinistischen Untergangs-Tremolo vereinfacht, das von diffusen Ressentiments gegen alles Fremde, nicht Bodenständige getragen ist. In der Tat verdrängt dieser regressive, aus Kompensationsbedürfnissen genährte Kulturbegriff zunehmend den skeptischen und bildungstheoretisch orientierten der vorangegangenen Phase (vgl. Litt 1919–24). Er entspricht den neuen politischen Tendenzen, die schließlich dazu führen, daß der "Logos" 1933 sein Erscheinen einstellen muß. An die Stelle der "Internationalen Zeitschrift für Philosophie der Kultur" rückt nun bis 1944 die "Zeitschrift für deutsche Kulturphilosophie".

Seriöse, von Demagogie freie Kulturphilosophie kann fortan nur noch im Exil betrieben werden. Zu den wichtigsten Vertretern dieser Phase gehört Ernst Cassirer, der 1923 bis 1929 bereits mit seiner "Philosophie der symbolischen Formen" eine umfassende Theorie der geistigen Ausdrucksformen vorgelegt hatte. Darin wurden die Bereiche der Kultur und ihre Lebensformen (Sprache, Religion und Mythos, wissenschaftliche Erkenntnis) nach den ihnen jeweils eigentümlichen Funktionsprinzipien analysiert, in ihrem Ensemble aber wiederum als ein organisches Ganzes gesehen (vgl. unten Kap. II,4). Die symbolischen Formen erscheinen Cassirer als anthropologische Strukturprinzipien, die den Menschen durch alle historischen Variationen hindurch zur Selbstbefreiung führen. Es ist bemerkenswert, daß just ein Betroffener wie er, der 1933 Deutschland verlassen mußte, eine solch optimistische Perspektive eröffnet. Diese versucht er nicht zufällig in einer während des Zweiten Weltkriegs geschriebenen Replik auf Simmels Tragödienaufsatz zu begründen. Zwar stimmt Cassirer mit Simmel darin überein, daß der Gegensatz der kulturellen Grundtendenzen von "Erhaltung" und "Erneuerung" zu immer größeren "inneren Spannungen" führt. "Dennoch", schreibt er, "wird dieses Drama der Kultur nicht schlechthin zu einer 'Tragödie der Kultur'. Denn es gibt in ihm ebensowenig eine endgültige Niederlage, wie es einen endgültigen Sieg gibt. Die beiden Gegenkräfte wachsen miteinander, statt sich wechselseitig zu zerstören" (1942c, S. 123). An diese Sichtweise läßt sich freilich konstruktiver anknüpfen als an die Untergangsszenarios Simmels oder Spenglers. Cassirer ist folglich der Kulturphilosoph, der im akademischen Bereich heute die nachhaltigste Wirkung erzielt (vgl. Frede/Schmücker 1997).

Im Exil formierte sich auch die Kritische Theorie des nach New York emigrierten Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Mit ihrem dezidiert praxisbezogenen Ansatz ist sie aber nicht im engeren Sinn als Kulturphilosophie anzusehen und wird daher in einem eigenen Abschnitt (Kap. II,6) behandelt. Aus der Sicht der Institutsmitglieder steht alles, was nach dem Krieg unter Kulturphilosophie firmiert, sich also vor dem Hintergrund der absoluten Barbarei noch zutraut, den Kulturprozeß als sinnhaft zu deuten, im Verdacht einer intellektuellen Teilhabe an der Verdrängung des Unheils. Dieser Vorwurf zielt – um abermals einen Protagonisten herauszugreifen – insbesondere auf einen Wertkonservatismus, wie er von Arnold Gehlen vertreten wurde. Gehlen, der nach einer ästhetizistischen Frühphase 1933 zum Parteigänger der Nazis geworden war und nach dem Krieg an einer autoritären Ausrichtung festhielt, stellte ins Zentrum seiner Kulturphilosphie eine Institutionenlehre. Ihm zufolge braucht der Mensch Insitutionen, da seine Instinkte im Gegensatz zu denen des Tiers nicht stark genug ausgeprägt sind, um sich in der Natur zurechtzufinden: "aus eigenen Mitteln und eigentätig muß der Mensch sich entlasten, d.h. die Mängelbedingungen seiner Existenz eigentätig in Chancen seiner Lebensfristung umarbeiten" (1940, S. 25). In dieser Tendenz zur institutionellen Entlastung sieht Gehlen keine problematische Entfremdung von der Natur, sondern vielmehr die Erfüllung ihres genuinen Zwecks, da der "Mensch von Natur unmittelbar zugleich ein Kulturwesen ist" und daher "sich seine Natürlichkeit außerhalb seiner kulturformenden Energie gar nicht fassen läßt" (1958, S. 91). Die gänzlich kulturalistische Deutung der Natur des Menschen schlägt freilich in eine naturalistische Deutung der Technik um, wenn Gehlen von dieser nicht nur sagt, sie fungiere als prothetische Erweiterung der menschlichen Organe, sondern sie dringe "in sein Blut ein" (1953, S. 102). Damit entzieht er die Technik der Vernunftkritik. Zwar sieht auch Gehlen die Destruktivität der modernen Techniken und hält insbesondere die allgemeine Beschleunigungstendenz für problematisch. Er glaubt aber, daß sie unabänderlich ist und das für die menschliche Kultur angemessene Tempo sich letztlich auf ein bestimmtes Niveau einpendeln, die Kultur insgesamt also sich stabilisieren werde, wenn die Menschen nur der Autorität der Institutionen vertrauten und sich von ihnen "züchten" ließen (1940/44, S. 64).

Kaum eine der wertkonservativen Stagnationsprognosen Gehlens traf ein. So war es ihm noch in den fünfziger Jahren – im Sinne der Erwartung, daß eine wesentliche Beschleunigungssteigerung nicht drohen werde – unvorstellbar, daß Menschen jemals zum Mond und zurück fliegen könnten oder daß man von einer "Synthese lebender Materie" weniger weit entfernt sei als zu Beginn des 19. Jahrhunderts (1953, S. 103). Gehlen glaubte so fest an seinen Grundgedanken einer "kulturellen Kristallisation", daß auch der Ost-Westkonflikt, den er als Stabilisierung von institutionalisierten Ideen ansah, ihm unvermeidbar endgültig erschien und die Aussicht, daß die ärmeren Länder sich eine eigene, dritte Ideologie schaffen würden, völlig unmöglich (1961b, S. 316, 322). Rückblickend also fällt auf ihn selbst zurück, was er anderen Kulturtheoretikern, insbesondere Marx, Nietzsche und Freud als "große Schlüsselattitüde" vorgeworfen hatte, mit dem mahnenden Hinweis: "Die Wirklichkeit fügt sich nicht dem Ideal" (S. 313, 316).

Eine Prophezeiung Gehlens hat gleichwohl Karriere gemacht, da sie den Nerv der Zeit traf: die "Voraussage, daß die Ideengeschichte abgeschlossen ist, und daß wir im Posthistoire angekommen sind". Während allerdings Gehlen daraus den konservativen "Rat, den Gottfried Benn dem einzelnen gab, nämlich 'Rechne mit deinen Beständen'" ableitete (S. 323), nahm ihn die postmoderne Kulturphilosophie konträr dazu als Aufforderung zur rückhaltlosen Normativitätskritik. Einer ihrer einflußreichsten Vertreter ist Clifford Geertz. Der amerikanische Anthropologe, der ausgehend von eigenen ethnographischen Feldforschungen in Indonesien und Marokko dem Verhältnis von Symbolsystemen und kulturellem Wandel nachgeht, versteht seinen Ansatz als "Anti-Antirelativismus" (1984). Er wirft den dezisionistischen, sich auf naturhafte Normen berufenden Kulturphilosophen vor, daß sie nur Ressentiments befestigten. Doch seine eigene Gegenposition, die für eine "Dezentrierung von Perspektiven" plädiert, ist nicht frei von der bei anderen monierten Tendenz: Indem Geertz Kulturen als je spezifische semiotische Bedeutungsgewebe beschreibt – wobei er sich auf den Symbolbegriff S. Langers in Abgrenzung zu demjenigen Cassirers stützt (1973, S. 49f.) –, unterstellt er dem eigenen Instrumentarium eine von den raumzeitlichen Bedingungen des eigenen Forschungsinteresses unabhängige Existenz. Gerade die vermeintlich ideologiefreie Betrachtung der immanenten Logik fremder Symbolsysteme, wie sie Geertz' exemplarisch mit seiner Studie über den "Balinesischen Hahnenkampf" vorlegt, birgt das Problem einer Projektion eigener Leitbilder auf fremde Lebenswelten – ein Problem, das heute in den Diskussionen um eine interkulturelle Kulturphilosophie virulent wird (Mall 1995).

Die gegenwärtige Kulturphilosophie ist denn auch von radikal relativistischen Positionen wieder abgekehrt. Sowohl die anthropologischen (vgl. Korte 1992) als auch die systematischen Neuansätze in der Nachfolge Cassirers zeugen von einem erstarkten Bedürfnis nach Orientierung. So versucht etwa Oswald Schwemmer anhand der Leitbegriffe Handlung und Struktur (1987) eine wissenschaftstheoretische Neubegründung der Kulturwissenschaften im Perspektivenwechsel von Handlungstheorie, Lebenswelttheorie und Systemtheorie zu geben. Ralf Konersmann dagegen betont in Anknüpfung an Odo Marquards umstrittene These die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften, die er aber als "kritische Begleitung vitaler Kompensatinsuffizienzkompensationsprozesse" (1996a, S. 348) vor allzu schlichtem Verständnis zu bewahren sucht. Gemeint ist die Rückgewinnung von Orientierungsansprüchen der Geisteswissenschaften im Rahmen einer transdiziplinären Kulturphilosophie, die sich als "Spurenkunde" (S. 352) versteht.

In diese Richtung weisen auch die Beiträge des seit 1993 in neuer Folge erscheinenden "Logos". Das Editorial zum ersten Heft knüpft explizit an die Gründungsgeneration ihrer Vorgängerin an, doch schon der Untertitel "Zeitschrift für systematische Philosophie" macht deutlich, daß der kulturphilosophische Akzent nun wieder stärker auf akademische, weniger auf lebenspraktische Fragen gelegt wird. Der Verzicht auf den Kulturbegriff signalisiert nicht nur in diesem Fall, daß man einem problematischen Erbe zu entkommen sucht. "Nach der wissenschaftlichen Neutralisierung dieses Begriffs", erläutert Herbert Schnädelbach, "kommt die Kulturphilosophie nur dann zum Ziel, wenn sie sich als Element des kritischen Selbstbewußtseins der Kultur begreift, der sie angehört" (1992, S. 325). Schnädelbachs "Plädoyer für eine kritische Kulturphilosophie" (vgl. auch Grabner-Haider 1995) stellt damit klar, daß Kulturphilosophie heute, wie zur Zeit ihres Ursprungs, nur im Modus der Entgrenzung, nicht als Schulwissenschaft zu betreiben ist.