Peter Matussek

Erinnerung und Gedächtnis

 


Erschienen in: Böhme, Hartmut / Matussek, Peter / Müller, Lothar: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will; Reinbek bei Hamburg 2000, S. 147-164.

 

     
 

Im Vorwort seines Buchs "Das kulturelle Gedächtnis" schrieb Jan Assmann 1992: "Alles spricht dafür, daß sich um den Begriff der Erinnerung ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften aufbaut, das die verschiedenen kulturellen Phänomene und Felder – Kunst und Literatur, Politik und Gesellschaft, Religion und Recht – in neuen Zusammenhängen sehen läßt" (S. 11). Einige Jahre später geht Wolfgang Frühwald als Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft noch einen Schritt weiter: "Die auf Erinnerung und kulturelles Gedächtnis ausgerichteten Geisteswissenschaften könnten ihnen in Gestalt der Kulturwissenschaften ihr verlorenes Definitionsmonopol für Wissenschaft zurückholen, das sie verloren haben" (1996b).

Wie kein anderes Thema hat der Komplex Gedächtnis und Erinnerung zur gegenwärtigen Renaissance der Kulturwissenschaften beigetragen – sowohl hinsichtlich der interdisziplinären Bestimmung ihrer Inhalte als auch hinsichtlich der Profilierung ihrer spezifischen Verfahren. Warum hat das Interesse an diesem Thema in jüngster Zeit so stark zugenommen? Wieso kann die Beschäftigung damit paradigmatische Konsequenzen für die Kulturwissenschaft haben? Und inwiefern könnte unser Verständnis von Wissenschaft überhaupt von der Ausrichtung auf Erinnerung und kulturelles Gedächtnis reformiert werden?

Eine verstärkte Tendenz zur Rückschau und damit zu verschiedenen Formen des Bilanzierens und Speicherns, des Archivierens und Memorierens können wir generell am Ende des zweiten Jahrtausends unserer Zeitrechnung feststellen. "Rechne mit deinen Beständen" – das Gottfried-Benn-Zitat diente schon Arnold Gehlen zum Beleg der Diagnose, "daß die Ideengeschichte abgeschlossen ist, und daß wir im Posthistoire angekommen sind" (1961b, S. 323), einem nach-geschichtlichen Zustand also, wo das Erzählen wieder ins Aufzählen übergeht, story zu storage wird. Neben dieser allgemeinen fin de millenium-Atmosphäre, die sich an diffusem Sammeleifer, an der Häufung von Dokumentationen und Retrospektiven, am stetig wachsenden Bedürfnis nach erweiterten Kapazitäten bei technischen und natürlichen Speichern ablesen läßt, gibt es heute aber auch sehr konkrete Anlässe, sich mit dem Thema Erinnerung und Gedächtnis zu beschäftigen. Drei dieser Anlässe sind besonders hervorzuheben. Obschon zusammengehörend, sind sie unabhängig voneinander ins Gespräch geraten und haben Diskussionen provoziert, die den Expertenkulturen, denen sie entstammen, rasch entwachsen sind, da sie unsere Wissenschafts- und Lebenspraxis insgesamt betreffen.

So hat zum einen die Computertechnik ein Entwicklungs- und Verbreitungsstadium erreicht, das alle früheren Aufzeichnungsformen in den Schatten stellt. Die sogenannten Analogmedien – vom Buchdruck über das Lichtbild zum Magnetton – werden dadurch zwar nicht abgeschafft, erhalten aber andere, zunehmend marginalisierte Aufgaben im Funktionszusammenhang des kulturellen Gedächtnisses zugewiesen. Die zentralen Speichervorgänge übernimmt – unabhängig davon, auf welchem Trägermedium das Gespeicherte letztlich ausgegeben wird – die elektronische Datenverarbeitung. Damit setzt sich ein ganz bestimmtes, universalisiertes Gedächtnismodell gegenüber den unterschiedlichen Merkformen einzelner Analogmedien durch: das Maschinenmodell von storage and retrieval (Speicherung und Wiedereinschaltung). Texte, Bilder, Töne werden gleichförmig binär codiert und vorrätig gehalten. Und das uniformiert zugleich auch unsere Art des Umgangs mit den Memorabilia. Zwar ist es eine Illusion, daß die verschiedenen sinnes- und funktionsspezifischen Erinnerungsformen sich alle jenem Universalmodell subsumieren ließen, aber es ist eine Illusion, an die wir aus Gewohnheit zunehmend glauben und die dadurch realitätsbestimmend wird. Die Umgangssprache signalisiert, wie weit dieser Prozeß der Angleichung unserer Vorstellungswelt an die Begrifflichkeit der elektronischen Datenverarbeitung schon fortgeschritten ist – wenn etwa vom "Reinziehen" einer CD die Rede ist, Wissenserwerb als "Input" oder "Upload" umschrieben wird und das Erinnern entsprechend als "Abruf" oder "Download".

Daß Erinnerungsprozesse in Wirklichkeit anders ablaufen, als es das Computermodell suggeriert, belegen zweitens die Neurowissenschaften. Diese machten in den neunziger Jahren, die der amerikanische Kongreß zur hochsubventionierten "Dekade des Gehirns" ausgerufen hatte, fulminante Fortschritte. Paradoxerweise waren es gerade die durch Computer erst ermöglichten bildgebenden Verfahren, die zu der Erkenntnis beitrugen, daß die menschlichen Erinnerungsvorgänge nicht so funktionieren wie storage and retrieval-Systeme. Seit den Beobachtungen, die Wilder Penfield und Brenda Milner (1958) an Gehirngeschädigten machten, unterscheiden die Neurowissenschaftler zwischen einem "deklarativen" oder "expliziten" Gedächtnis für Bewußtseinsinhalte und einem "prozeduralen" bzw. "impliziten" Gedächtnis motorischer Routinen (z.B. Fahrradfahren). Diese Grundunterscheidung ist neuerdings weiter differenziert worden durch den Nachweis, daß es auch innerhalb des ersten Gedächtnistyps zwei grundverschiedene Operationen gibt: eine semantisch-lexikalische und eine episodisch-biographische. Beide sind in unterschiedlichen Gehirnarealen lokalisiert und auch unterschiedlich verschaltet – mit entsprechend differierenden Dynamiken (Düzel u.a. 1999). In beiden Fällen werden die Gedächtnisinhalte nicht aus unseren Köpfen wie aus Computerspeichern abgerufen, sondern buchstäblich re-produziert (Roth 1991). So läßt sich aus der Sicht der heutigen Gehirnforschung feststellen, daß das Gedächtnis und die Erinnerung schöpferische Prozesse sind: Etwas erinnern heißt, es aktiv imaginieren – mit Hilfe von Einbildungskraft und Phantasie (Edelman 1993).

Diese Erkenntnis ist eigentlich uralt; es entspricht der Alltagserfahrung, daß wir vergangene Erlebnisse immer wieder anders erinnern (Kotre 1996), und wer hat nicht schon auf Familientreffen verwundert den Kopf geschüttelt darüber, wie die anderen an ihren "falschen" Erinnerungen der gemeinsamen Vergangenheit so beharrlich festhalten können – bis womöglich die eigene "untrügliche" Erinnerung durch Dokumente ins Zwielicht gebracht wurde. Neu an den heutigen Diskussionen über "false memory" (vgl. Hacking 1995) ist allenfalls, daß man das Phänomen vor dem Hintergrund der neurobiologischen Erkenntnisse über die Funktionsweise unseres Gehirns nicht mehr rein psychologisch als Täuschung oder Verdrängung abtun kann, sondern als schon aus physiologischen Gründen unvermeidbar zu verstehen versucht.

Von der Spannung zwischen der Universalisierung des Speichermodells und der Individualität des Erinnerns ist unsere gesamte moderne Lebenswelt betroffen, insbesondere aber jener Bereich, der als dritter Anlaß für die Aktualität des Themas Gedächtnis und Erinnerung anzuführen ist: Das Aussterben der Zeitzeugen des Holocaust, der sich mit jedem nachträglichen Relativierungsversuch nur um so mehr als Gravitationszentrum der neueren Geschichte erweist, stellt uns vor die Frage, wie wir eine "authentische" Erinnerung dieses schrecklichsten aller Verbrechen bewahren können. Die Frage bringt das speichertechnische und das biographische Gedächtnismodell in einen Konflikt. Lassen sich die persönlichen Erinnerungen von Zeitzeugen in Computerdatenbanken überführen, ohne sie dabei ihrer emotionalen und appellativen Qualitäten zu berauben? Befördert nicht gerade die personen-unabhängige Speicherung von Dokumenten das Nivellieren und Vergessen der Einzelschicksale? Oder bewahrt erst die Unbestechlichkeit von archivalischen Dokumentationen vor Verfälschungen der historischen Wahrheit, die vom Leiden der Opfer zeugt? Die leidenschaftlichen Debatten, in denen solche Fragen erörtert werden – etwa um das Berliner Holocaust-Mahnmal (vgl. Cullen 1999, Heimrod u.a. 1999) oder Martin Walsers Friedenspreisrede (vgl. Zuckermann 1999) –, zeigen exemplarisch, daß es sich hier um Phänomene handelt, die nicht von einzelnen Ressorts in Wissenschaft oder Politik behandelt werden können. Wer die Unbestechlichkeit von Dokumentationsarchiven favorisiert, zieht sich den Einwand zu, die atmosphärischen Qualitäten des biographischen Erinnerns zu vernachlässigen; wer von Mahnmalen fordert, sie müßten auf individuelle Empfindungen zugeschnitten sein, übersieht leicht, daß Kulturen stets kollektiver Merkzeichen bedürfen – zu denen nicht zuletzt auch die umstrittenenen "Kranzabwurfstellen" gehören.

Der Bedarf nach einer die antagonistischen Thematisierungsformen von Erinnerung und Gedächtnis umfassenden Perspektive, die zwischen den isolierten Aspekten zu vermitteln vermag, ruft die Kulturwissenschaft auf den Plan. Von ihr wird in besonderem Maße erwartet, daß sie die verschiedenen Memorialfunktionen mit ihren sich teils ergänzenden, teils widerstrebenden Dynamiken im lebenspraktischen Zusammenhang erklären kann. "Wo sind", wird etwa gefragt, "die führenden Kulturwissenschaftler, die sich zu Wort melden, um via Feuilleton oder öffentlichkeitswirksamer Rede über das Vergessen des Erinnerns im Gedenken zu sprechen, dem Unterschied zwischen einem Tod in Auschwitz und in Stein nachsinnen und diese Arbeit nicht allein den philosophierenden Amateuren der Politik überlassen?" (Precht 1996)

Die Angesprochenen sind Antworten auf Fragen dieser Art keineswegs schuldig geblieben. Sie können sich dabei auf Ansätze stützen, die bereits seit den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelt wurden. Neben Aby Warburg (vgl. Kap. II,4) ist als einer der wichtigsten Anreger für eine kulturwissenschaftliche Problematisierung von Erinnerung und Gedächtnis Maurice Halbwachs zu nennen. In Opposition zur individualistischen Gedächtniskonzeption seines Lehrers Henri Bergson ("Materie und Gedächtnis",1896) hat er den Vorläuferbegriff für das formuliert, was wir heute "kulturelles Gedächtnis" nennen: die mémoire collective. Während Bergson davon ausging, daß Erinnerungen wesenhaft subjektiv seien und demgegenüber das historische Gedächtnis nur äußerliche Faktensammlungen bereitstellen könne, die erst durch individuelle Aneignung bedeutungsvoll würden, verhält es sich nach Halbwachs genau umgekehrt. Ihm zufolge ist das individuelle Erinnerungsbild lediglich als "unvollständige und verstümmelte kollektive Vorstellung" anzusehen (1939, S. 89). Nur durch raumzeitliche Bestimmungen und Verortungen innerhalb des öffentlichen Geschichtsbildes kommt dieses individuelle Erinnerungsbild zu sich: "Es würde in diesem Sinne ein kollektives Gedächtnis geben und einen gesellschaftlichen Rahmen des Gedächtnisses geben, und unser individuelles Denken wäre in dem Maße fähig sich zu erinnern, wie es sich innerhalb dieses Bezugsrahmens hält und an diesem Gedächtnis partizipiert" (1925, S. 21).

Die beiden Gedächtnistheoretiker konnten ihre Kontroverse nicht austragen. Bergson starb 1941 in Paris an den Folgen einer Lungenentzündung, die er sich zuzog, als er im Winter Schlange stand, um sich als Jude registrieren zu lassen. Halbwachs wurde 1945 im Konzentrationslager Buchenwald ermordet. Die Diskussion der kontradiktorisch aufeinander bezogenen Erinnerungsmodelle kam so lange nicht voran, wie das Erinnern selbst als prekär empfunden wurde – bei den Opfern aus übergroßem Schmerz, bei den Tätern und Mitläufern aus verdrängtem Schuldgefühl oder versteckter Scham. "Die Unfähigkeit zu trauern" war denn auch der Titel eines der ersten Werke, mit dem das Erinnern in der Nachkriegsära allmählich enttabuisiert wurde (Mitscherlich/Mitscherlich 1967, vgl. Mitscherlich 1987). Solche Versuche, dem Wechselbezug zwischen kollektivem Gedächtnis und persönlicher Erinnerung in übergreifenden kulturhistorischen Ansätzen nachzugehen, blieben aber zunächst weiterhin rar (Le Goff 1977, Niethammer 1980, Nora 1966, 1984). Es fehlte der kulturwissenschaftliche Rahmen, um die Chance zur Zusammenschau der neueren Befunde wahrzunehmen, die die Einzelwissenschaften über das Gedächtnis zusammentrugen – darunter je für sich Fachgrenzen Überragendes aus der Altphilologie (Lord 1960, Goody/Watt 1968), Ideen- und Religionsgeschichte (F. G. Jünger 1957, Eliade 1964), Kybernetik (v. Foerster 1965), Kunstgeschichte (Yates 1966) Literaturwissenschaft (Düsing 1970, 1982), Neuro- und Kognitionspsychologie (Lurija 1973, Neisser 1967, Baddeley 1976). Erst in den späten achtziger Jahren erfuhr die kulturwissenschaftliche Thematisierung von Erinnerung und Gedächtnis ihren starken Aufschwung, für den die Verschränkung mehrerer Disziplinen charakteristisch ist. Aus der großen Zahl der einschlägigen Publikationen (vgl. etwa Lachmann 1990, Schmidt 1991; Haverkamp/Lachmann 1991, 1993; Berns/Neuber 1993, Wenzel 1995, Smith/Emrich 1995, Oexle 1995, Weinrich 1997, Harth 1998) sind insbesondere die Arbeiten von Jan und Aleida Assmann hervorzuheben. Sie waren es, die Ende der achtziger Jahre den Begriff des "kulturellen Gedächtnisses" prägten (A. u. J. Assmann 1988, J. Assmann 1988) und systematisch wie historisch entfalteten.

Das "kulturelle Gedächtnis" definiert Jan Assmann in Absetzung vom "kommunikativen Gedächtnis". Während das kommunikative Gedächtnis sich auf "Geschichtserfahrungen im Rahmen individueller Biographien" bezieht, orientiert sich das kulturelle Gedächtnis an den festen Kodierungen und Inszenierungen einer subjektunabhängigen Überlieferung (1992, S. 56). Diese außerpersönliche Memorialinstanz gründet ihre kulturstiftende Bedeutung auf das Prinzip der Wiederholung gleichbleibender Muster. Sie bestimmt sich also in Abgrenzung von der Bezugnahme auf Vergangenes durch individuelle Aneignung und Aktualisierung. "'Wiederholung' und 'Vergegenwärtigung' sind zwei grundsätzlich verschiedene Formen eines Bezugs", schreibt Jan Assmann und macht diese Differenz zur Grundlage einer Kulturtypologie, die "kanonische" von "postkanonischen" Kulturen unterscheidet, je nachdem, ob in ihnen das Moment der "Nachahmung und Bewahrung" oder der "Auslegung und Erinnerung" vorherrscht (S. 18).

Während der Altertumsforscher Jan Assmann diese Differenz anhand der frühen Hochkulturen Ägyptens, Israels und Griechenlands spezifiziert hat, widmet sich die Anglistin Aleida Assmann den Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses in der Neuzeit. Den Grundunterschied der beiden Memorialfunktionen erläutert sie im Rückgriff auf die lateinischen Begriffe "ars" und "vis" (1999, S. 27ff.): Das Gedächtnis als "ars", wie es in der rhetorischen Gedächtniskunst von der Antike bis in die Aufklärung hinein geübt wurde, bezieht sich auf "Verfahren der Speicherung" nach topographischem, also räumlichem Vorbild, das eine identische Rückholung des Gespeicherten garantieren soll; ihnen steht das Gedächtnis seit dem 18. Jahrhundert mit einem Ausdruck Vicos als "vis", d.h. als Kraft gegenüber, die sich im "Prozeß des Erinnerns" offenbart, einem Prozeß, der aufgrund seiner zeitlichen Dynamik eine "Verschiebung, Verformung, Entstellung, Umwertung, Erneuerung des Erinnerten" vollzieht. Auch Aleida Assmann zieht aus dieser Grundunterscheidung kulturtypologische Konsequenzen. Sie geht davon aus, daß bis ins 18. Jahrhundert hinein das räumliche Gedächtnismodell vorgeherrscht hat und danach das zeitliche.

Jan und Aleida Assmann sind sich bewußt, daß Gedächtnisformen niemals ganze Epochen charakterisieren, sondern nur dominante Tendenzen markieren können. Der Konflikt zwischen einem Erinnern, das an das persönliche Erleben gebunden ist, und einem kollektiven Gedenken, das unabhängig vom einzelnen Individuum den Traditionszusammenhang aufrecht erhält, wird zu jeder Zeit neu ausgetragen und steht insofern quer zu Versuchen der kulturgeschichtlichen Periodisierung. Bei aller Unaufhebbarkeit dieses Konflikts aber wird er doch unterschiedlich geprägt und gewichtet. Eine kraß antagonistische Sicht, wie sie etwa Nietzsche vertrat, entspricht nach Aleida Assmann "dem Entzauberungs-Pathos kulturkritischer Rhetorik", dem sie ein Modell vorzieht, das die beiden Erinnerungsformen als zwei sich komplementär ergänzende "Modi" aufeinander bezieht. Sie tut dies anhand der Unterscheidung von "Funktionsgedächtnis"und "Speichergedächtnis". Das eine ist durch die Aneignung von Gedächtnisinhalten in den individuellen Gebrauchskontext gekennzeichnet, das andere steht diesem gegenüber als tote, unverfügbare Ansammlung von Fakten. Beide sieht Assmann nicht in Opposition zueinander, sondern als wechselseitig sich konturierende Perspektiven, gleichsam wie Vorder- und Hintergrund-Ansicht: "In dieser Bezogenheit von Vordergrund und Hintergrund liegt die Möglichkeit beschlossen, daß sich das bewußte Gedächtnis verändern kann, daß Konfigurationen aufgelöst und neu zusammengesetzt werden, daß aktuelle Elemente unwichtig werden, latente Elemente emportauchen und neue Verbindungen eingehen. Die Tiefenstruktur des Gedächtnisses mit ihrem Binnenverkehr zwischen aktualisierten und nichtaktualisierten Elementen ist die Bedingung der Möglichkeit von Veränderung und Erneuerung in der Struktur des Bewußtseins, das ohne den Hintergrund jener amorphen Reserve erstarren würde" (1999, S. 130ff.). Demzufolge bewahrt gerade die Unpersönlichkeit des Speichergedächtnisses das Funktionsgedächtnis vor Vitalitätsverlusten. Freilich läßt sich dieses Komplementärmodell ebensowenig verabsolutieren wie das Konfrontationsmodell. Gewiß ist nur, daß weder Kulturen ohne kollektives Gedächtnis überlebensfähig sind noch Individuen ohne persönliche Erinnerungen. Beide stehen mit jeweils eigenen Charakteristika in Wechselwirkung zueinander, ja verweisen je von sich aus auf ihr Gegenüber. Das soll im folgenden verdeutlicht werden, wobei in der hier gebotenen Kürze die historische Vermitteltheit jener Reziprozität nur schlaglichtartig zur Geltung gebracht werden kann.

In der abendländischen Tradition begegnet uns das Erinnern erstmals in Gestalt der Göttin Mnemosyne. Sie wird angerufen, wenn es gilt, sich verlorener Zeiten wiederzuerinnern. So von Kritias in Platons gleichnamigem Dialog, als es darum geht, die Katastrophe von Ur-Athen, die den Zeitgenossen nur noch als totes Gedächtnis, gleichsam versteinert bewußt ist, zu vergegenwärtigen (108d). Was prädestiniert Mnemosyne dazu, solche Prozesse lebendigen Erinnerns zu ermöglichen?

Die Göttin der Erinnerung ist zugleich die Mutter der Musen. Als solche begünstigt sie nicht das Aufzeichnen und Auswendiglernen, sondern das Gegenteil: Ausdrücklich heißt es in Hesiods "Theogonie", Mnemosyne habe die Musen geboren, "damit sie Vergessenheit brächten der Leiden und Ende der Sorgen" (V. 54f.). Denn erst wer sich vom Alltag mit seinen Bedenken und Besorgungen löst, vermag sich an Vorgängiges, Ursprünglicheres zu erinnern. Bei diesem Weg zu Mnemosyne=Lesmosyne helfen musische Einflüsse wie Musik und Tanz. Die "gliederlösende" Wirkung der Musik ist denn auch an dem griechischen Wort melos noch abzulesen.

Das Vertrauen in die Tatsache, daß die Selbstvergessenheit nicht in reiner Leere aufgeht, sondern vielmehr den Zugang zu verborgenen Schichten des Erinnerns erst eröffnet, dürfte aus dem altgriechischen, östliche Einflüsse aufgreifenden Glauben an die Seelenwanderung herrühren. Diesem zufolge ist unsere irdische Existenz nur eine eingeschränkte Seinsform, die es zu überwinden gilt, um Anschluß an die präexistenten Urspünge zu finden. Strukturell ist das noch in Platons Philosophie erhalten geblieben (vgl. Dodds 1951), in deren Zentrum der Begriff der Wiedererinnerung steht. Wahre Erkenntnis ist, Platon zufolge, nur demjenigen möglich, der die Welt der Erscheinungen und angenommenen Meinungen (Doxa) überwindet und sich auf jenen Zustand besinnt, den die unsterbliche Seele, der mythischen Überlieferung zufolge, vor dem Eintritt in das irdische Dasein gehabt haben soll: das reine Anschauen der Ideen. Um diesen Zustand zu erreichen, unterzieht Platons literarischer Held Sokrates seine Gesprächspartner einer ganz bestimmten Methode, der 'Mäeutik' oder 'Hebammenkunst'. Diese besteht darin, das vermeintliche, kulturell ankonditionierte Wissen zunächst einmal vergessen zu machen, wie einen Schleier beiseite zu schieben, damit die Seele ihr urspüngliches Wissen hervorbringen kann. Das Vergessen erreicht Sokrates bei seinen Gesprächspartnern dadurch, daß er sie in ihren vorgefaßten Meinungen irritiert; er führt sie systematisch in einen Zustand der Verwirrung, der Aporie. Wenn diese am größten ist, kommt es in der Regel zum Erlebnis spontaner Wiedererinnerung, zur Anamnesis.

Das mäeutische Erinnerungskonzept, dessen Funktionsweise exemplarisch im "Menon" (82b–86c) vorgeführt wird, steht in erklärter Opposition zu den in Platons Zeit bereits etablierten Merkmethoden von Rhetorikmeistern. Diese wurden auch 'Logographen' genannt, weil sie gegen Bezahlung Reden für andere schrieben, die diese dann nach bestimmten Methoden so perfekt auswendig zu lernen hatten, daß sie – als scheinbar "freie" Darbietung – auf politischen Versammlungen oder vor Gericht entsprechend Eindruck machten. Platon war nicht der erste, der in solchen Entäußerungen des Gedächtnisses einen fundamentalen Kulturverfall sah. Von dem athenischen Staatsmann Themistokles etwa ist überliefert, daß er auf ein Angebot, die Mnemotechnik zu lernen, antwortete, er ziehe es vor, eine "Lethotechnik" zu lernen (vgl. Weinrich 1997, S. 24). Die Absage an das künstliche Gedächtnis konnte er sich leisten, weil er ein hervorragendes natürliches Gedächtnis hatte: Wie Plutarch berichtet, vermochte Themistokles jeden Bürger seiner Stadt beim Namen zu nennen. Den Verdacht aber, daß beides zusammenhängen, die Stärke des natürlichen aus der Absage an das künstliche Gedächtnis geradezu hervorgehen könnte, finden wir erstmals bei Platon ausformuliert und zu einer kulturkritischen These gewendet. In seinem Dialog "Phaidros" erzählt er dazu einen selbstgestrickten Mythos: Der ägyptische Gott Theuth (den die Griechen Hermes nannten) stellt die soeben von ihm erfundene Kulturtechnik der Buchstabenschrift dem König Thamus vor und preist sie als eine Mittel (pharmakon) an, das die Menschen "gedächtnisreicher" machen werde. Der König aber ist skeptisch; er prognostiziert das genaue Gegenteil: "Denn diese Erfindung wird den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für die Erinnerung (mnemes), sondern nur für das Gedächtnis (hypomneseos) hast du ein Mittel erfunden, und von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst" (274d–275b). Die äußeren Gedächtnisstützen, die Hypomnemata, werden von Platon verurteilt im Namen eines vom Subjekt in Eigenaktivität zu vollziehenden Er-Innerns, der Anamnesis. Merkwürdig inkonsequent daran scheint nur, daß Platon diese Kritik des Aufzeichnens aufgezeichnet hat. Auch er selbst also partizipiert als Schriftsteller an dem prognostizierten Umschlag des mnemonischen Pharmakons von einem Gedächtnis-Mittel in ein Gift für das Gedächtnis (vgl. Derrida 1972). Das macht nur Sinn, wenn er davon überzeugt gewesen ist, daß sich das Gift auch wieder in ein Heilmittel zurückverwandeln läßt. Und eben diese Überzeugung kommt in seinem literarischen Dialogverfahren zum Ausdruck: Es funktioniert als eine Erinnerungstechnik, die das Aufgezeichnete durch verschiedene Verfahren der Selbstrelativierung über ihre hypomnematische Funktion hinausführt und für den Leser so zum Anlaß einer anamnetischen Lektüreerfahrung wird (Matussek 1996). Damit zeigt Platon bereits zu Beginn der Einführung der Alphabetschrift einen Weg, wie die Problematik dieser Aufzeichnungstechnik mit ihren eigenen Mitteln überwunden werden kann.

Das Gedächtnismodell aber, das sich demgegenüber nachhaltig durchsetzt, ist das rhetorische. Auch hierfür gibt es eine Ursprungslegende. Ihr zufolge soll der Dichter Simonides von Keos (ca. 556–468 v. Chr.) die klassische ars memoriae anläßlich eines Palasteinsturzes erfunden haben. Aus den griechischen Quellen allerdings läßt sich dieser Zusammenhang nicht belegen; wir kennen ihn erst aus der Schilderung der römischen Rhetoriklehrbücher. Demnach war Simonides als bezahlter Sänger bei einem Gastmahl geladen. Als er nach seinem Vortrag gerade vor die Tür getreten war, stürzte hinter ihm der Palast ein. Die Verwandten hatten nun Probleme, die nicht unterscheidbaren Opfer zu identifizieren, um sie bestatten zu können. Simonides aber konnte ihnen allein aufgrund der Lage jedes Toten angeben, um wen es sich handelte. Dies soll ihn auf die Idee gebracht haben, daß räumlich angeordnete Vorstellungsbilder die beste Gedächtnisstütze seien. Auf diese Erzählung gründen die klassischen römischen Lehrbücher der Rhetorik ihre Mnemotechnik: die topographische Verwendung von festgelegten Orten und passenden Bildern (loci et imagines) zum Einprägen der Memorabilia.

Daß es ausgerechnet ein Dichter gewesen sei, der diese amusi(kali)sche Methode des Auswendiglernens erfunden haben soll, ist an sich schon ein Anlaß für Skepsis. Die ars memoriae ist weniger eine "Gedächtniskunst", wie meist irreführend übersetzt wird, als vielmehr eine "Gedächtnistechnik" – ganz im Sinne der urspünglichen Bedeutung von "ars". Inzwischen gilt es auch als nachgeweisen, daß dem eigentlich für seine kunstvollen Trauergesänge berühmten Simonides die Erfindung der topographischen Merkmethode von den römischen Rhetorikern nur nachgesagt worden ist, um die Nüchternheit des Verfahrens auratisierend zu überspielen (Goldmann 1989). Allerdings bedürfte es gar nicht dieses Nachweises, um die rhetorische Memoria zu entzaubern. Denn die Kritik an ihren Verkürzungen ist ihrer Ursprungslegende selbst schon eingeschrieben. So leitet die wichtigste Quelle, Ciceros "De oratore" (55 v. Chr.), ihre Ausführungen zur Rhetorik just mit einer Anspielung auf Platons "Phaidros" ein, das Hauptbuch der Rhetorikkritik. Und wie Platon entwickelt Cicero die Thesen seines Werks in Dialogform, wobei er die Grundlagen der Memoria von einem Gesprächspartner vortragen läßt, der als uninspirierter Pragmatiker charakterisiert wird: "Ich", sagt Antonius, "bin nicht so veranlagt, wie Themistokles es war, daß ich die Technik des Vergessens eher wünschte als die der Erinnerung" (II, 351). Die Simonides-Legende selbst schließlich gibt deutliche Hinweise auf den reduktionistischen Charakter der rhetorischen Mnemotechnik: Nur die durch den Palasteinsturz grausam fixierte Sitzordnung gestattet es dem Sänger, die Personen zu identifizieren – ein Hinweis darauf, daß die Inhalte des künstlichen Gedächtnisses erst mortifiziert, ihres Lebens beraubt werden müssen, um sich der topographsichen Methode gemäß speichern zu lassen. Cicero läßt denn auch keinen Zweifel daran, daß eine Gedächtniskunst, die nur für erfolgreiches Plädieren vor Gerichten und in der Politik nützlich ist, am eigentlichen Lebensbedarf vorbeigeht.

Wir sehen schon an den antiken Beispielen, daß die beiden konträren Typen der Memoria und die Methoden ihrer Herbeiführung nicht voneinander abzulösen sind, sondern wechselseitig aufeinander verweisen. Dieser Wechselbezug findet in den verschiedenen mediengeschichtlichen Konstellationen unterschiedliche Ausprägungen. Während etwa die Gedächtnistheater der Renaissance versuchen, die im Zuge des Rhetorikunterrichts überlieferte Mnemotechnik mit neuplatonischen Elementen zu verbinden und dadurch zu reanimieren (Yates 1966), geben in der Spätaufklärung antithetische Konzeptionen den Ton an. Daß auch diese aber gerade aufgrund ihrer Entgegensetzung an einer gemeinsamen Phänomenologie teilhaben, wird insbesondere bei Hegel deutlich.

Hegel, erklärter Gegner der ars memoriae, umschreibt das Gedächtnis als ein "Beinhaus der Wirklichkeiten", ja einen "Galgen, an dem die griechischen Götter erwürgt hängen" (1793–1800, S. 346 u. 432), das Erinnern dagegen etymologisch als "Sich-innerlich-machen, Insichgehen" (1816–30, S. 44). Diese schroffe Opposition aber ist bei Hegel durchaus dialektisch vermittelt. Die Erinnerung kann nur eine bewußtlose Aufbewahrung der Bilder der Anschauung im "nächtlichen Schacht" der Intelligenz bieten. Insofern ist ihr Inhalt abstrakt. "Solches abstrakt aufbewahrte Bild", erklärt Hegel, "bedarf zu seinem Dasein einer daseienden Anschauung" (Hegel 1817, S. 261). Diese erlangt sie stufenweise, ausgehend von den Bestimmungen der Anschauung zu Bildern durch die Einbildungskraft, über deren assoziative Verknüpfung mittels der Vorstellung bis hin zu ihrer ädaquaten Äußerung im Zeichen. Die zur Zeichenhaftigkeit aufgestiegene Erinnerung aber ist das Gedächtnis (S. 271). So ist, wie Derrida resümiert, "die Technik […] immer der Parasit für die wahre Mnemosyne, die Mutter aller Musen und die lebendige Quelle aller Inspirationen" (1986, S. 64).

Mag es auch evident sein, daß die Erinnerung erst in ihrer zeichenhaften Entäußerung bewußter Gedankeninhalt werden kann, muß doch zugleich festgestellt werden, daß sie sich damit gegen ihre ursprüngliche Motivation wendet. Lebendiges fixieren zu wollen heißt, es um das zu bringen, um dessentwillen man es fixiert. Eben diese Umkehrung der Zielrichtung veranlaßt die Kulturkritik des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in aller Schärfe gegen den parasitären Charakter der Merktechniken zu polemisieren. Auch Kierkegaard konstruiert seinen Begriff des Erinnerns aus der Hegelschen Antithese zum Gedächtnis und knüpft damit an das griechische Mnemosyne-Verständnis an: "Unter Entgegensetzung wider das im Gedächtnis Behalten", schreibt er, "begehre ich mit Themistokles, vergessen zu können; sich erinnern aber und vergessen sind keine Gegensätze" (1845, S. 13). Vor dem Hintergrund einer im Archivierungsdrang erstickenden Museumskultur erklärt dann Nietzsche das "Vergessen-können oder, gelehrter ausgedrückt, das Vermögen […] unhistorisch zu empfinden", zur Bedingung des Lebensglücks schlechthin (1874, S. 248ff.). Er äußert die Vermutung, es sei "nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen, als seine Mnemotechnik" (1887, S. 295). Hugo von Hofmannsthal schließlich schreibt anläßlich seiner "Ariadne auf Naxos":"Verwandlung ist Leben des Lebens, ist das eigentliche Mysterium der schöpfenden Natur; Beharren ist Erstarren und Tod. Wer leben will, der muß über sich selber hinwegkommen, muß sich verwandeln: er muß vergessen" (1912, S. 297). Allerdings hat er dieses anti-mnemonische Votum nach dem Ersten Weltkrieg deutlich zugunsten einer willensbetonten Erinnerungstherapie abgemildert. Die "Ägyptische Helena" vollzieht in einer Art künstlerischer Umsetzung der Freudschen Psychoanalyse den Prozeß der Wiedergewinnung einer verlorenen Identität durch erinnernde Trauma-Bewältigung (vgl. A. Assmann 1999, S. 279–284).

Sigmund Freud hatte theoretisch konsistent dargelegt, daß auch das Vergessen, als Verdrängung, eine Form unbewältigter und insofern latent fortwirkender Erinnerung sein kann und daß eine Befreiung von der Last des Vergangenen nur im Prozeß ihrer bewußten Durcharbeitung möglich ist ("Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten", 1914). Den zweifellos subtilsten Beitrag zur Psychodynamik des Erinnerns aber verdanken wir Marcel Proust. In seiner mehrere tausend Seiten umfassenden "Suche nach der verlorenen Zeit" (1913–27) beschreibt er die allmähliche Rückgewinnung eines in der Vergangenheit zu kurz gekommenen und dann verschütteten Erlebens durch Momente einer mémoire involontaire – spontane Erinnerungen, die durch Ähnlichkeitsbeziehungen von diskreten Sinnesempfindungen (den Geschmack eines Gebäcks, das Anschlagen von Besteck an einem Teller, die Körperhaltung beim Schuhezubinden etc.) mit früheren Ereignissen ausgelöst werden. In der Art, wie Proust das Zustandekommen der Wiedererinnerungen seines Romanhelden beschreibt, erkennen wir die mäeutische Trias von Doxa, Aporie und Anamnesis: Das Alltagsbewußtsein muß irritiert werden, um die Wiedererinnerung eines verschütteten Erlebnispotentials zu ermöglichen. Im Unterschied zu Platon allerdings betont Proust den konstruktiven Charakter des Erinnerns. Hierin zeigt sich seine Verwandtschaft mit Freud, der schon während der Zeit seiner Hysterie-Studien festgestellt hatte, daß die "Erinnerung" an ein konstruiertes Kindheitsereignis dieselben therapeutischen Effekte haben konnte wie die an ein tatsächlich stattgefundenes ("Konstruktionen in der Analyse", 1937). Im Rekurs auf Freud macht denn auch der begeisterte Proust-Leser Benjamin darauf aufmerksam, daß nur dasjenige Bestanteil der mémoire involontaire werden könne, "was nicht ausdrücklich und mit Bewußtsein ist 'erlebt' worden, was dem Subjekt nicht als 'Erlebnis' widerfahren ist, sondern als Schock" (1939, S. 613). Die "wiedergefundene Zeit" hat also früher noch gar nicht wirklich stattgefunden; sie wird erst in der produktiven Erinnerung zum gehabten Erlebnis.

Mit dem Erfahrungsgehalt der mémoire involontaire ebenfalls verwandt, aber als bewußt kontrollierbar konzipiert ist Henri Bergsons Begriff der mémoire-souvenir, die er der gewohnheitsmäßigen mémoire-habitude entgegenstellt (1896, S. 70f.). Das Durchbrechen der zweiten zugunsten der ersten kommt Bergson zufolge in einem Prozeß zustande, der vom Innehalten in der Routinebewegung des sensomotorischen Gedächtnisses ausgelöst wird. Am Beispiel einer Handbewegung erläutert er, wie sich die "Wiedererkennung mit Aufmerksamkeit" von der "automatischen Wiedererkennung" abhebt: Solange ich die Hand gewohnheitsmäßig von A nach B bewege, läuft die Bewegung ohne leibliche Selbstwahrnehmung ab. In dem Moment aber, wo ich mitten in der Bewegung anhalte, geht die Energie meiner Aufmerksamkeit in das leibliche Nachempfinden des soeben noch mechanisch vollzogenen Prozesses. Die reconnaissance attentive ist das Resultat einer willkürlich unterbrochenen reconnaissance automatique (S. 89 u. 184f.).

Mit der soziologischen Kritik an Bergson, die von Maurice Halbwachs begonnen wurde und sich in die aktuellen Theorien des kulturellen Gedächtnisses hinein fortsetzt, ist dessen Ansatz keineswegs überholt. Zwar ist es unbestreitbar, daß die individuellen Formen des Erinnerns stets nur vor dem Hintergrund der jeweiligen kollektiven Gedächtnissysteme ihr Profil gewinnen und entsprechend mit diesen zu historisieren sind. Doch abgesehen davon, daß die Geschichte der Aufzeichnungstechniken nur eine grobe Epocheneinteilung zuläßt (etwa als brain memory, script memory, print memory und electronic memory – vgl. Wenzel 1997) und wegen deren zunehmend komplexeren Überschneidungen keine unmittelbaren Rückschlüsse auf die Lebenswelt erlaubt, ist das individuelle Erinnern nicht als bloßer Sonderfall derartiger Verallgemeinerungen abzutun. Oft kommt es erst im Kontrast zu den monumentalen Erscheinungen des kulturellen Gedächtnisses zu sich. So hat gerade in jüngster Zeit das Bedürfnis, die Auswirkung der technischen Medien auf die menschlichen Erinnerungsformen zu verstehen, das Interesse an Bergsons Philosophie erneuert. Denn diese reflektiert bereits auf die moderne Verschränkung von Alltagswahrnehmung und maschineller Bildanimation, die mit dem Kino aufkommt. Bereits vor Hugo Münsterberg (1916), der das "Photoplay" mit unserem Bewußtseinsstrom verglich, sprach Bergson von der 'kinematographischen Illusion' unserer Alltagswahrnehmung (1907, S. 305), die uns Serien von Einzelbildern suggeriert, wo in Wirklichkeit ein kontinuierliches Erleben vorliegt – das Erleben der "durée".

Mag man dieses intuitionistische Konzept auch für klärungsbedürftig halten, so bietet es doch einen Anhaltspunkt für eine Kritik der Mediatisierung unseres Erinnerns durch den Film und die neuen Animationsverfahren. Die Konsequenzen müssen keineswegs regressiv sein, sondern können im Gegenteil in der Konzeption neuer Erinnerungstechniken bestehen. Genau diesen Weg beschreitet die Kinotheorie von Gilles Deleuze (1983, 1985). Ausgehend von der bei Bergson erstmals formulierten Problematik entfaltet sie die These, daß das "Bewegungsbild" des traditionellen Action-Kinos mit seiner äußeren Angepaßtheit an die kinematographische Illusion der Alltagswahrnehmung zu einer Stillstellung der Erinnerungsaktivität führt, während das "Zeitbild" unkonventioneller Filme (z.B. Godard, Resnais, Ozu) gerade durch das Anhalten der äußeren Bewegung die innere erlebbar macht. Diese Inversionsfigur, die der Bergsonschen Geste des Anhaltens konditionierter Abläufe entspricht, findet sich auch in der digitalen Medienkunst. Das CD-ROM-Projekt Immemory des Filmemachers Chris Marker (1997) etwa oder die Installation Nomemory der Internet-Künstlerin Valéry Grancher (1998, www.imaginet.fr/nomemory) sind Versuche, dem Phänomen des Erinnerns durch anti-mnemonische Strategien näher zu kommen. Sie wollen die Selbstverständlichkeiten auflösen, mit denen wir uns auf externe Speicher verlassen, und den Bezug auf Vergangenes in die eigene Verfügung bringen. Letztlich finden wir also auch in der Kunst der digitalen Ära die alte platonische Figur der Kritik der Hypomnemata zugunsten der Freisetzung anamnetischer Erfahrungen.

Die historischen Medienwechsel und ihre kulturellen Kontexte haben zwar die Formen solcher Gegenbewegungen verändert, nicht aber ihre die strukturellen Bedingungen ihrer Möglichkeit. Von ihrer Realisierung ist in den Zeiten einer forcierten Unterwerfung aller Memorialvollzüge unter die Logik des maschinellen storage and retrieval lebendiges Erinnern mehr denn je abhängig. Das kulturelle Gedächtnis lebt nicht nur vom Erhalt seiner Merkzeichen, sondern zugleich von der produktiven Irritation ihrer routinierten Verwendung. Zwar hat es sich längst herumgesprochen, daß Steigerungen unserer Speicherkapazitäten einhergehen mit Erinnerungsverlusten. Doch reflexartig reagieren wir auf diese Tendenz zur kulturellen Amnesie, indem wir die Techniken weiter ausbauen, die sie hervorrufen – ein Teufelskreis mit zunehmender Rotationsgeschwindigkeit. Angesichts seiner unvermeidlichen ökonomischen und technologischen Zentrifugalkräfte wirken Plädoyers für eine "Entschleunigung" oft hilflos. Nicht weniger hilflos aber wäre es, die speichertechnischen Innovationszyklen nur mitzumachen, statt ihnen immer wieder neue Formen der Selektion und Selbstreflexion abzugewinnen. In jeder seiner medialen Manifestationen muß das kulturelle Gedächtnis immer auch gegen sich selbst gewendet werden. Denn Kultur ist, wie Gotthart Wunberg betont, zweierlei: "Handeln aus Memoria" und "kritische Befragung der Memoria" (1996, S. 4f.). Die Zusammengehörigkeit der auseinanderstrebenden Aspekte zeigt sich in allen Wissens- und Lebensbereichen. Die Kulturwissenschaft hat die Chance, dieser Zusammengehörigkeit nachzugehen und Wege der Tranformation von mnemonisch erstarrten kulturellen Gedächtnissen in lebendige Erinnerungskulturen zu suchen. Solches Tun könnte in der Tat Rückwirkungen auf unser Verständnis von Wissenschaft überhaupt haben.