Peter Matussek

Datendarsteller. Wie Metaphern Wissen modellieren

 


In: extrakte/uni-siegen 6 (2009), S. 20–25.




PDF-Version

     
 

Wer sich metaphorisch ausdrückt, so dünkt es manch  ‚ordentlichem‘ Professor, mag Anerkennung als Poet  oder Populärwissenschaftler finden, aber in Fachdis-  kursen macht er sich verdächtig. Bilder aus ihrer an-  gestammten Bedeutungssphäre zu nehmen und zur  Erläuterung fremder Sachverhalte woanders hinzutragen (metà phérein), verletzt Disziplingrenzen und  schadet der begrifflichen Präzision. Doch halt – was  sagten wir da gerade? ‚Begriffliche Präzision‘: das ist  ja selbst eine Metapher! Der philosophische Begriff  des Begriffs ist vom Bild einer (be-)greifenden Hand  abgeleitet; und was Präzision ist, haben wir vom Bild  eines Stocks, der zum Zweck der Zuspitzung ‚vorn beschnitten‘ (prae-cisus) ist. Selbst dann also, wenn wir  ein Metaphernverbot verhängen wollten, müssten  wir uns metaphorisch ausdrücken.

Derlei Selbstwidersprüche begegnen uns im Wissenschaftsdiskurs  auf Schritt und Tritt. Wir geraten nur deshalb nicht ins  Stolpern dabei, weil wir uns an die Bilder, die zu Begriffen wurden, so sehr gewöhnt haben, dass wir sie  nicht mehr als solche wahrnehmen, vergleichbar, so  Nietzsche, abgeschliffenen Münzen, deren Bildseite  durch den häufigen Gebrauch unkenntlich wurde.  Was für Wörter und Sätze gilt, gilt auch für das Wissen im Ganzen. Wir könnten es weder präsentieren  noch rezipieren, ohne Metaphern in Anspruch zu nehmen. Welche Metaphern dabei jeweils zum Einsatz  kommen und insbesondere, welche sich durchsetzen,  hängt vom medialen und kulturellen Umfeld ab. 

Eine Leitmetapher der Wissensverarbeitung war bis  vor rund zwei Jahrzehnten das aus der Computertechnik entlehnte Modell von Speicherung und  Wieder gewinnung, Storage and Retrieval. Als das  elektronische Arbeitsgerät in den Alltag von Wissenschaftlern einzudringen begann, veränderte es nicht  nur ihre Untersuchungsverfahren, sondern prägte auch  ihre Weltbilder. Das menschliche Gedächtnis etwa  wurde von Kognitionspsychologen und Neurophysiologen, schließlich auch von Kulturwissenschaftlern  ganz im Sinne der Speichermetapher beschrieben: als  Behältnis, in das wir Objekte (Gedanken, Erlebnisse,  Überlieferungen) einlagern und auf Abruf unverändert wieder herausholen. Wie wir heute wissen – und  früher auch schon wussten –, ist dieses Gedächtnismodell grundfalsch. Erinnerungen sind keine Repräsentanzen, die wir dem Gehirn oder der Tradition wie  Computerdaten entnehmen, sondern Performanzen,  buchstäblich Re-Konstruktionen synaptischer Schaltprozesse, deren Assoziationsverläufe je nach aktueller psychischer Verfassung variieren, vergleichbar  einem Theaterstück, das immer wieder neu inszeniert  wird. Diese Einsicht konnte sich erst im Zuge eines  Metaphernwandels durchsetzen: vom Speicher zur   Schaubühne. Interessanterweise hat diese performative Wende auf die Computersphäre selbst zurückgewirkt. Mit ihrem Buch Computers as Theatre begründete Brenda Laurel 1990 eine Neuorientierung .

Trotz mancher Ansätze,  die Nutzeroberflächen der Theatermetapher anzunähern, hat diese sich aber bisher nicht zu einem  neuen Leitbild der digitalen Datenpräsentation entwickelt. Andere Metaphern machen ihr Konkurrenz. Denn es gehört zu den Eigentümlichkeiten der  ‚Universalmaschine‘, wie der Computerpionier Alan  Turing sie nannte, dass sie alle möglichen Darstellungsformen simulieren kann und damit dem Begriff  der ‚In-Formation‘ seine buchstäbliche Bedeutung  zurückgibt. Während die Wissensquellen in der prädigitalen Welt als das erschienen, was sie materialiter  waren – Bücher, Zettelkästen, Fotokisten, Schallplatten –, sind es in der Ära elektronischer Datenverarbeitung amorphe Codes, mit denen wir nichts anzufangen wüssten, wenn wir ihnen nicht eine anschauliche  Form verleihen würden. Und da die Erscheinungsweise der verschiedenen Datentypen nun von   ihrer Trägersubstanz entbunden ist, sind die Monitore  auf unseren Schreibtischen zu Tummelplätzen für    Metaphern aller Art geworden.  Die Desktop-Metapher:   Konkurrenz- und alternativlos?  Bahnbrechend war die Desktop-Metapher. Sie revolutionierte 1984 mit dem Apple Macintosh und später  mit Microsoft Windows die Computerwelt und ist uns  mittler weile derart habituell geworden, dass nur noch  wenige ihre Vorläufer-Metapher, die Befehlszeile, überhaupt kennen. Obschon das Interface aus ‚Schreibtisch‘,  ‚Ordnern‘, ‚Fenstern‘, ‚Papierkorb‘ etc. reine Simulation  ist, die oft genug zu Bildbrüchen mit den tatsächlichen  Arbeitsvorgängen führt, hält es sich schon bemerkenswert lange auf unseren PC-Screens. Andere Metaphern  der Datenvisualisierung, die auf Anhieb stimmiger und  attraktiver wirken, konnten ihr den Rang des QuasiStandards bislang nicht streitig machen.

Da gab es zum  Beispiel Ende der achtziger Jahre sogenannte OutlineProgramme zur Textverarbeitung, enthusiastisch auch  ‚Ideenprozessoren‘ genannt. Im Grunde handelte es sich  um eine Weiterführung der Desktop-Metapher, die dem  Schreibtisch ein Schubladensystem für einzelne Textpartien hinzufügte. Was man damit machen konnte,  entsprach ziemlich genau der Arbeitsweise, die schon  Goethe bei seiner Arbeit an Faust II praktizierte: „Die  Teile sind in abgesonderten Lagen nach den Nummern  eines ausführlichen Schemas hintereinander gelegt.  Nun kann ich jeden Augenblick der Stimmung nutzen,  um einzelne Teile weiter auszuführen und das ganze früher oder später zusammenzustellen.“  Die also von höchster Stelle abgesegnete Schreibtechnik konnte sich in ihrer digitalen Variante nicht  etablieren. Heute versteckt sich die Funktion im  Word-Menü ‚Ansicht‘ als ‚Gliederung‘, was ihrem Leistungspotenzial nicht gerecht wird, von dem aber die  meisten User vermutlich gar nichts wissen.  Geradezu Kult, aber ebenso kurzlebig, war die Karteikartenmetapher, die Bill Atkinson unter dem Namen  HyperCard 1987 für Apple umsetzte. Der Vorteil gegenüber Outline-Programmen war die handlichere,  haptisch vertrautere Form des Stapels (‚Stacks‘) von  Text- und Bildkarten. Eine genial einfache Programmiersprache, die an PidginEnglisch erinnerte, gestattete es dem User zudem, seine Stacks nach Belieben  zu organisieren. Nach fünf Jahren verschwand Hyper-Card, das auch schon einen Windows-Nachahmer  unter dem Namen Toolbook gefunden hatte, spurlos von den Desktops, was von manchen Fans heute  noch betrauert wird.  ‚Landkarten‘ des Wissens  Mitte der neunzehnhundertneunziger Jahre kam  die Metapher des Fliegens in Mode: 3-D-Browser  wie etwa Apples XSpace konnten Websites oder  auch Dateien auf der eigenen Festplatte wie Galaxien im Weltraum abbilden, die nach und nach ihre  planetarische Binnenstruktur auffächerten, je näher man an sie ‚heranflog‘. Die Idee, von ScienceFiction-Autor William Gibson unter dem Neologismus  ‚Cyberspace‘ literarisch vorbereitet, begleitet zwar  Arbeiten in  ‚Platons Höhle‘?  VR-Labor der  Universität Siegen,  Institut für   Computergraphik  und Multimediasysteme  Besonders im   Cyberspace sind  wir auf Metaphern  angewiesen. Sie  wandeln abstrakte  Daten in begreifbares Wissen  Datendarsteller. Wie Metaphern Wissen modellieren extrakte/uni-siegen/ 6 .2009 22  heute noch unsere Vorstellungen vom Internet als   ‚Dokuversum‘. Aber Datenpiloten, die auf den Flugbahnen des eigens geschaffenen Sprachstandards, der    Virtual Reality Modelling Language (VRML) die Dokumentensuche im Flug erledigen mochten, fanden sich   wenige.  Die Zurückhaltung allerdings betrifft weniger die  Technik der Flugsimulation als ihre metaphorische  Übertragung auf Datenstrukturen. Wie der Erfolg von  GoogleEarth beweist, finden Luftreisen am Terminal  großen Zuspruch, sofern sie sich auf geographische  Maßverhältnisse beziehen. Dieser Befund gilt für alle  Mapping-Verfahren, d.h. der Datenvisualisierung im  Sinne der Landkartenmetaphorik. Obwohl es zweifellos sehr aufschlussreich sein kann, wenn wir die Beziehungen zwischen Begriffen oder Dokumenten als  räumliche Relationen angezeigt bekommen, trauen  wir der Sache nicht so ganz, wenn der Landvermesser  ein Computerprogramm ist. Das Misstrauen ist berechtigt. Denn um solche ‚semantischen Netze‘ zu  knüpfen, müssen Computer Sprache verstehen. Und  das ist eine unerschöpfliche Aufgabe, da sich Bedeutungen mit jeder Sprechsituation verschieben. Unter dem Stichwort Web 3.0 wird es dennoch versucht,  gelingt aber bisher allenfalls in sehr überschaubaren,  klar definierten Begriffsclustern. Ein schon vor zehn  Jahren allzu kühn gestarteter Versuch der Suchmaschine Yahoo, Ergebnisse normaler Internetanfragen zu kartographieren, wurde ob der Lächerlichkeit  der Darbietungen bald wieder eingestellt.  Orientierung im Dickicht der Daten:   Leistungsfähige Metapher gesucht 

Es ließen sich Dutzende weiterer Metaphern anführen, mit denen Entwickler versuchen, Daten in Form  zu bringen, auf dass wir Wissen daraus gewinnen mögen. Für sie alle gilt, dass sie trotz vielfach hoher Plausibilität nur partielle und meist rasch vorübergehende  Akzeptanz finden. Diese schwankenden Gestalten teilen das Schicksal der Informationsfluten im Internet:  Websites kommen und verkommen, und wer gestern  noch mit einer bestimmten Recherche Erfolg hatte,  muss vielleicht heute schon erfahren, dass Heraklit  auch in der Welt der digitalen Datenströme Recht behält: Wir steigen nicht zweimal in denselben Fluss.  Selbst diese Weisheit hat schon ihre metaphorische  Umsetzung am Computerscreen gefunden: Monika  Fleischmann und Wolfgang Strauss vom FraunhoferInstitut IAIS, die seit diesem Sommersemester an der  Universität Siegen im neugegründeten Studiengang  HCI (Human?Computer?Interaction) unterrichten,  schufen einen Browser namens Mediaflow. Der User  sieht Text- und Bildelemente aus einer Datenbank  zur Netztheorie und -kunst wie Treibgut vorbeiziehen  und kann mittels Pointer einzelnes davon ‚herausfischen‘, um Detailinformationen, eingebettet in ein  semantisches Netz von Bezügen zu anderen Inhalten  der Datenbank, abzurufen. Das macht Sinn.  Performative Wende  Wenn es in Zukunft überhaupt eine Metapher der  Wissensdarstellung geben sollte, die sich so eindringlich etablieren kann wie heute die DesktopMetapher, wird sie dieser fluktuierenden Charakteristik digitaler Daten gerecht werden und zugleich  doch einen Orientierungsrahmen bieten müssen, der den Denkakten des Informationssuchenden Anhaltspunkte gibt. Angesichts der Vielfalt  von Datenrepräsentationsmodellen und Wissensarchitekturen, die heute in zahllosen Forschungseinrichtungen und Softwarefirmen entstehen, ist es  durchaus möglich, dass diese Metapher der Zukunft  bereits irgendwo realisiert ist, ohne dass ihr Leitbildcharakter schon erkannt wäre. Schließlich hatten  auch die Erfinder des Computer-Desktops, Lawrence  Tesler und sein Team von Xerox PARC, deren Potenzial  nicht erkannt. Erst Steve Jobs, der dem Labor einen  Besuch machte, holte das revolutionäre Interface aus  der Versenkung und machte es zum Welterfolg.  Möglich ist auch, ja sogar wahrscheinlich, dass es  sich um jene Metapher handelt, die in den Wissenschaften heute auf breiter Front das Modell von Storage and Retrieval zugunsten einer ‚performativen  Wende‘ abgelöst hat: die Metapher der Theaterbühne.

Anders  als beim ‚Desktop‘  zeigt das   Interface, ähnlich  den sog. ‚Mind‘oder ‚Concept‘Maps, die  semantischen   Beziehungen   zwischen   unterschiedlichen  Informationsquellen  Datendarsteller. Wie Metaphern Wissen modellieren extrakte/uni-siegen/ 6 .2009 23  vergleichbar, so dass wir aus der Vergangenheit   lernen können. Der Buchdruck war gerade erst eingeführt und rief mit seiner ungeheuer beschleunigten  Wissensvermehrung ähnliche Irritationen hervor wie  heute das Internet. Die bislang dominierende Metapher der Wissensorganisation war der Thesaurus, das  Schatzhaus. Schon die antiken Rhetoriklehrer propagierten sie, denn sie wussten, dass es das beste Mittel  ist, einen Vortrag zu memorieren, wenn man seine  einzelnen Punkte in den Räumen eines imaginierten  Gebäudes unterbringt, so dass man während der  Rede nur die Räume nacheinander im Geiste aufsuchen muss, um den Gedankengang präsent zu haben.  Dieses Speichermodell blieb für die überwiegend oral  geprägten Kulturen bis zum späten Mittelalter, die  es mit einem fixierten, kanonisierten Wissen zu tun   hatten, durchaus angemessen. Doch in dem Maße,  wie die Vorstellung eines Schatzhauses von der  Daten fülle des in Büchern verbreiteten Erfahrungswissens gesprengt wurde, kam jene andere, beweglichere Metapher in Umlauf. Nahezu jedes enzyklopädische Werk des 16. bis 18. Jahrhunderts trug – gleich,  ob es nun von Maschinen, Pflanzen, Kunstgegenständen oder menschlichen Sitten handelte – im   Titel das Wort Theatrum. Und am Anfang dieser performativen Wende stand eine besonders markante  Bühne des Wissens: das Gedächtnistheater des Guilio   Camillo (1480–1544).  Bühne des Wissens: Das Gedächtnistheater  Camillo begnügte sich nicht damit, die Theatermetapher im literarisch-übertragenen Sinn zu verwenden wie seine Zeitgenossen. Er nahm sie beim Wort  und baute ein wirkliches Theater – eine etwa zimmergroße Holzkonstruktion, architektonisch dem Vitruvschen Theater mit seinen halbkreisförmigen Zuschauerrängen nachempfunden. Darin, so lautete Camillos  unbescheidener Anspruch, könne er das gesamte  Weltwissen repräsentieren. Wie konnte er so etwas  Denn sie erfüllt geradezu idealtypisch jene doppelte    For derung nach wechselnden Szenarien einerseits  und konstantem Orientierungsrahmen andererseits.  Sie ist auch bereits in unseren Sprachgebrauch eingewandert, wo wir etwa von ‚Internet-Auftritten‘ und  ‚Informations-Inszenierungen‘ sprechen.  Wissen gestalten statt verwalten.   Aus dem ‚Schatzhaus‘ ins ‚Theater‘  Damit nicht genug. Was die Theatermetapher im Bereich der Datenpräsentation zu leisten vermag, so  dass man sich einen vergleichbaren Durchbruch wünschen möchte, wie ihn Steve Jobs der Desktop-Metapher verlieh, wird erst recht deutlich, wenn wir ihre  Geschichte betrachten. Denn sie war schon einmal  angetreten, um ein herrschendes, zur Konvention erstarrtes Modell der Wissensdarstellung zu überwinden.  Das ist ein halbes Jahrtausend her, und doch in vielerlei Hinsicht mit der heutigen Anforderungssituation  Bild links:  Das 'Theatrum  Orbi' aus der   Kosmologie des  neuplatonischen  Philosophen   Robert Fludd  (1574-1637). Der  Nutzer sollte   mittels seiner  Imagination darin  „Wörter und Sätze  wie Schauspieler"  auftreten lassen  Selbstbesinnung  statt unreflektierter Wissensakkumulation:  Gedächtnistheater des   Guilio Camillo  (1480-1544)  Datendarsteller. Wie Metaphern Wissen modellieren extrakte/uni-siegen/ 6 .2009 24  Anforderungen an das Interface der Zukunft  Vor diesem Erfahrungshintergrund ist es sicher kein  Zufall, dass die Metapher des Gedächtnistheaters  heute eine digitale Wiederbelebung erfährt. Bereits  1985, als die jüngste Datenexplosion gerade erst gezündet wurde, programmierte Robert Edgar auf einem  Apple II sein hellsichtiges Memory Theater One, eine  3-D-Bühne, auf welcher der User, repräsentiert durch  ein ‚Ego‘ genanntes Cursor-Icon, mithilfe eines Joystick-Vorläufers in Aktion tritt, um verschiedene Szenarien aus Bildern und Texten aufzurufen, die ihm zu  denken geben. Unter den zahlreichen Nachfolgeprojekten ragt das 1997 von Agnes Hegedüs für das ZKM  in Karlsruhe konstruierte Memory Theater VR heraus  – ein hölzerner Rotundenbau mit interaktiver Panorama-Projektion, die zu Erkundungen der Geschichte  der Virtuellen Realität einlädt. Computergestützte  Performances, 3-D-Animationen und insbesondere  zahlreiche Websites bildeten weitere Varianten der  Metapher aus. Im vergangenen Jahr schließlich startete das bisher größte und ehrgeizigste Projekt dieser  Art, das World Memory Theatre. Es möchte als ‚mythopoetisches Environment‘ fungieren, das die Besucher virtuell durchwandern können, um dabei die mythischen Weltbilder verschiedenster Kulturen und ihre  oft erstaunlichen Verwandtschaften kennenzulernen.  behaupten? Schon die bescheidenste Gelehrtenbibliothek hätte ja seine Holzkonstruktion gesprengt.  Um Camillos Konzept zu verstehen – niedergeschrieben in seinem posthum veröffentlichten Traktat  L'Idea del Theatro – müssen wir uns die Radikalität  seines Metaphernwechsels vor Augen führen: Das    Gedächtnistheater war kein Wissensspeicher, sondern  Bühne aller denkbaren Aufführungen von Wissen. Die  Besucher saßen dabei nicht auf den Zuschauer  rängen,  sondern standen auf der Bühne. Denn sie selbst, genauer: ihre Reflexionen und Imaginationen waren die  Akteure des Schauspiels. Die Inspirationen hierfür  empfingen sie von einem komplexen System allegorischer Bilder, die auf den Zuschauerrängen platziert  waren. Die Aufteilung der Ränge entsprach der zeitgenössischen Kosmologie. Mit ihren sieben Stufen   repräsentierten sie die Sphären der Weltordnung vom  himmlischen Makrokosmos über die Natur bis zum  menschlichen Mikrokosmos. Die Stufen waren ihrerseits in sieben Segmente unterteilt, die jeweils einem  der damals bekannten Planeten und dessen astrologischer Charakteristik zugeordnet waren. So entstand  ein kombinatorisches Geflecht aus Seinsbereichen  und Gestirnseinflüssen, dessen allegorische Repräsentationen die deutende Aktivität des Besuchers    herausforderten.  Die Struktur des Theatro entsprach mithin sehr  zeitbedingten Vorstellungen: neuplatonisches  Gedankengut, Sphärenharmonie, Astrologie, Kabbalistik. Nichts davon lässt sich für unseren heutigen   Orientierungsbedarf im Dokuversum – und sei es  modellhaft – übernehmen. Die Grundidee aber ist  gültig geblieben, ja von gesteigerter Aktualität: die  Idee, ein Arrangement zu schaffen, bei dem nicht die  Akkumulation der Daten im Vordergrund steht, sondern die eigene Selbstbesinnung. „Unsere große Anstrengung“, schrieb Camillo, „ist es […] gewesen, eine  Ordnung […] zu finden, die den Geist aufmerksam erhält und das Gedächtnis erschüttert."  Eine solche Ordnung, die uns in den Datenfluten des  World Wide Web auf dasjenige konzentrieren hilft,  was wir eigentlich suchen, fehlt uns heute spürbar.    Clifford Stoll, einst Internet-Pionier, nun InternetKritiker, vergleicht unseren Datenkonsum mit dem  „Trinken aus einem Feuerwehrschlauch. Man wird  ziemlich nass und bleibt doch durstig.“  Bild links:  Hellsichtig: Robert  Edgar mit Memory  Theater One, 1985  auf einem Apple II  Modernes  Gedächtnistheater:   Rotundenbau mit  interaktiver   PanoramaProjektion:   Memory Theater  VR, von Agnes  Hegedüs in der  Außen- und der  Innenansicht  Bild diese und   folgende Seite:  Exemplarische  Interaktions fläche  und Grundriss   des bisher  ehrgeizigsten   Projektes, das auf  die Gedächtnistheater-Metapher  zurückgreift: World  Memory Theatre von  Peter Oldfield u.a.  2009  Datendarsteller. Wie Metaphern Wissen modellieren Die weltanschaulichen Differenzen zwischen Camillos   kosmologischer Metaphysik und unseren dezentrierten Datenuniversen sind, wie gesagt, unüberbrückbar. Aber die Metaphorik des Gedächtnistheaters kann uns grundlegende Postulate für das  Interface der Zukunft formulieren helfen: 

1. Präsentation: Es sollte uns eine Bühne bieten, die  bei einheitlicher Architektur doch wandlungsfähig  genug ist, um Daten so zur Darstellung zu bringen,  wie es die jeweilige Problemstellung erfordert. 

2. Exploration: Es sollte die Möglichkeit bieten, verschiedene Informationsinszenierungen probenartig  durchzuspielen, um zu neuen Entdeckungen zu führen. 

3. Kollaboration: Es sollte das Zusammenspiel verschiedener Akteure in Ensembles ermöglichen, so  dass diese bei verwandten Forschungsinteressen ihre  Wissensszenarien wechselseitig anreichern können. 

Die Realisierung dieser Postulate ist eine gleichermaßen ästhetische wie technische Herausforderung.  Sie wird gelingen, wenn die verwendeten Metaphern  in beiderlei Hinsicht ‚stimmen‘.