Peter Matussek / Cornelius Neufeldt

Interfaces: Gesichter einer neuen Beziehung

 


In: Berliner Journalisten 2 (2010), S. 60–62.

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Erst kamen sie auf unsere Schreibtische, dann krochen sie auf unsere Schöße, nun begleiten sie uns auch noch zum Lesesessel und ins Bett. Was mit den Desktop-Computern begann und sich mit den Laptops fortsetzte – die Verwandlung der einstigen Rechner in Universalmedien, die unser gesamtes Arbeits- und Alltagsleben durchdringen, erreicht mit den Tablet-PCs eine neue Dimension. Der Wirbel um Apples iPad war nicht unbegründet und macht deutlich, dass es höchste Zeit wird, über die neue Beziehung zwischen Mensch und Maschine umfassender als bisher nachzudenken und ihre Gestaltung nicht nur den Ingenieuren zu überlassen. Ein innovativer Studiengang an der Universität Siegen, hervorgegangen aus einer Kooperation von Informatikern und Medienkulturwissenschaftlern, befasst sich mit der „Human Computer Interaction“, kurz HCI.

Bevor auch nur einer von ihnen Apples iPad in Händen hielt, waren die Kulturredakteure von der Vorstellung des neuen Geräts elektrisiert. In den Feuilletons, TV-Magazinen und Online-Journalen überboten sie sich in Prophetien eines neuen Medienzeitalters, uneins nur darüber, ob es Fluch oder Segen bringen wird. Für die einen war das, was der charismatische Firmengründer Steve Jobs am 27. Januar 2010 mit erhobenen Armen vor die Augen der Weltöffentlichkeit hielt, so bedeutend wie die mosaischen Gesetzestafeln, die anderen fühlten sich zu dem Wortspiel veranlasst, ein neues „Buch Job“ (Hiob) sei über uns gekommen.
Alles nur Hype? Computerexperten oder solche, die sich dafür halten, mahnten zur Nüchternheit und bilanzierten nicht ohne Häme, was das iPad einem Laptop unterlegen macht: keine Schnittstellen, weniger Speicher, kleinerer Bildschirm, geringere Rechenleistung, kurz, es handle sich eigentlich nur um ein vergrößertes iPhone. Eine entsprechende Karikatur machte die Runde (s. Abb.).
Doch nichts ist verfehlter, als ein Medium nur nach seiner Leistungsfähigkeit zu beurteilen. Um seine Wirkungen einzuschätzen, müssen wir vielmehr fragen, welchen Platz es in unserem Leben einnimmt. Nicht die Benchmark-Werte des iPad machen es revolutionär, sondern die Tatsache, dass es in die letzten computerfreien Zonen unserer Alltagspraxis vordringt. Was wir abseits vom Schreibtisch tun und bisher mit Computerabstinenz verbanden - das Zeitung lesen am Frühstückstisch, das Channel-Hopping im Fernsehsessel, die Bettlektüre – all das kann und wird in absehbarer Zeit auch mit Tablet-PCs von der Art des iPad geschehen.
Die neuen Beziehungen zwischen Mensch und Maschine stehen unter der Regie von User Interfaces, also der Nutzerschnittstellen mit ihrem Design, ihren Layouts, Bedienfeldern, Daten-Ikonen und -Metaphern. Wie ihre Ästhetiken und Aufführungskonzepte in unseren Alltag eingreifen und welchen Anforderungen ihre Gestaltung sinnvollerweise genügen sollte, vermögen freilich nur solche Computerexperten zu erkennen, deren Expertentum über rein technisches Funktionswissen hinausgeht.
Die Diskussion um das iPad ist nur das jüngste Beispiel einer wechselseitigen Blickverengung. Hier die Kulturschaffenden mit ihrem Sensorium für Situationen und Praktiken des Mediengebrauchs, die für sich aber keine Möglichkeit sehen, auf die technische Entwicklung Einfluss zu nehmen und ihr deshalb staunend oder schaudernd gegenüberstehen. Dort die Informatiker, die die Geräte zwar programmieren können, die Rechnung aber meist ohne den Anwender, seine Handlungsstile, Wahrnehmungsweisen, seine ästhetischen und atmosphärischen Präferenzen machen. Der komplementäre Tunnelblick hat nicht nur verhindert, dass andere Tablet-PCs vor dem iPad (der schon vor sieben Jahren entwickelte TC 1100 von HP etwa oder unlängst Amazons Kindle) ähnlich einschlugen. Er ist generell verantwortlich dafür, dass wir selten Computertools an die Hand bekommen, die auf den jeweiligen Anwendungsbedarf stimmig eingehen. Gewiss, wir akzeptieren vieles, was uns digital geboten wird; das heißt aber nicht, dass es auch akzeptabel wäre.
Die wenigen Ausnahmen entstehen dort, wo sich Gebrauchs- und Ingenieurskompetenz, Geisteswissenschaftler und Informatiker zusammentun, um die Voraussetzungen für User Interfaces zu schaffen, die ihrem Begriff gerecht werden: dem einer menschengerechten Physiognomie von Interaktionsformen zwischen Mensch und Maschine. „Human Computer Interaction“ (HCI) heißt das Forschungsfeld, in dem dies geschieht. Es erweitert die informationstechnische Perspektive auf die Entwicklung von Computersystemen, um das Ganze der Situationen und Atmosphären in den Blick zu bekommen, die unseren Umgang mit Computern bestimmen. Dazu gehören medienästhetische und wahrnehmungstheoretische ebenso wie kognitionspsychologische und arbeitsergonomische Aspekte. Nur wenn auch diese Berücksichtigung finden, erhalten die neuen Beziehungen ein Gesicht, mit dem wir es gerne zu tun bekommen.
In den USA gibt es schon seit langem HCI-Konferenzen, HCI-Fachzeitschriften und HCI-Studiengänge. Ein Gründungsdokument der Bewegung sind die „Human Interface Guidelines“, die Apple 1987 herausgab. Sie sorgten dafür, dass der soeben erst eingeführte Macintosh nicht ein „Computer for the rest of us“ blieb, sondern die Desktop-Weltrevolution einleitete.
Hierzulande ist das Interesse für User Interfaces traditionell gering. In der Heimat des Doktor Faustus, der nach Mephistos Worten „fern von allem Schein nur in der Wesen Tiefe trachtet“, übersetzt man den Begriff mit „Benutzer-Oberflächen“ und sagt damit, wie man darüber denkt: als eine bloße Hülle für Prozesse, deren eigentliche Bedeutung im Inneren des Maschinencodes steckt. Doch diese Aufspaltung von Schein und Wesen ist grundfalsch. Digitale Prozesse sind ihrer Natur nach sinnlich nicht fassbar. Ihre Bedeutungen und Wirkungen beruhen auf den Erscheinungen, die wir ihnen geben. Just die Oberflächen also sind es, die das Wesen unseres Computerumgangs bestimmen und tief in unser Wesen eingreifen. In Deutschland hatte es diese Erkenntnis nicht leicht; sie musste sich gegen die falsche Denkgewohnheit erst einmal durchsetzen.
Entsprechende Konsequenzen haben unlängst die Lehrstühle für Wirtschaftsinformatik und Medienästhetik an der Universität Siegen gezogen. Nach dem Vorbild der Carnegie Mellon University haben sie den ersten deutschen HCI-Masterstudiengang ins Leben gerufen, um dem Bedarf einer wechselseitigen Ergänzung von informations- und kulturwissenschaftlichen Perspektiven bei der Entwicklung von Computersystemen gerecht zu werden. Der Modulplan umfasst die Vermittlung von Grundlagen der Kognitionspsychologie und des künstlerischen Gestaltens, der Mediensoziologie und -kulturwissenschaft, auf die dann speziellere Lehrveranstaltungen zu Designmethoden, vernetzter Gruppenarbeit, E-Learning, Empfehlungs- und Entscheidungsunterstützungssystemen aufbauen können.
Jährlich nimmt der Studiengang zwanzig Bewerber auf. Wer das Auswahlverfahren bestanden hat, bekommt seine Chancen am Arbeitsmarkt rasch zu spüren. So berichtet ein HCI-Erstsemester von seinen Erfahrungen auf der CeBIT in Hannover: „Als die ausstellenden Firmen erfuhren, welchen Studiengang ich belege, waren sie sehr angetan und gesprächsbereit. Schon jetzt scheint auch in der Industrie großes Interesse an Absolventen eines HCI-Masters zu bestehen.“
So etwa bei Dr. Roman Englert von der Deutschen Telekom: „Graphische Benutzerschnittstellen so zu gestalten, dass sie an Nutzungsgewohnheiten und persönliche Präferenzen anpassbar sind, ist im Zeitalter unterschiedlichster Endgeräte eine Herausforderung. Im neuen HCI-Studiengang sehen wir das Potential, Nachwuchs für genau diese Herausforderungen auszubilden.“
Sabrina Duda, Geschäftsführerin der eye square GmbH, äußert sich gar „begeistert, dass es nun endlich einen HCI-Master gibt! Unsere Firma ist spezialisiert auf Usability-Dienstleitungen. Bislang gab es keinen Studiengang in diesem Bereich, der die nötigen Qualifikationen vermittelt. Diese Lücke ist nun gefüllt. Deshalb sehe ich für Absolventen des HCI-Masters große Berufschancen.“
Usability-Optimierungen für die erfolgreiche Vermarktung von Software sind aber nur ein untergeordnetes Ziel des HCI-Masters. Seine eigentliche Ambition richtet sich auf die experimentelle Erkundung neuer Interaktionsformen von Mensch und Maschine, um unsere Kenntnisse über Wahrnehmungs- Erinnerungs- und Inspirationstechniken, Formen der Handlungs- und Aufmerksamkeitssteuerung zu erweitern und in künftige Interface-Strategien einfließen zu lassen. Deshalb nimmt das künstlerische Gestalten einen prominenten Platz im Siegener Studiengang ein, unterrichtet von renommierten Medienkünstlern. Als Gastprofessoren fungieren derzeit Michael Rodemer (Michigan School of Art & Design) und Wolfgang Strauss (MARS Exploratory Lab, Fraunhofer IAIS). Gemeinsam mit den Studierenden entwickeln sie innovative Benutzerschnittstellen und „Knowledge Discovery Tools“, die sie jeweils zum Semesterabschluss ausstellen. Unlängst gab es die erste Vernissage mit interaktiven Werken auf Basis von Berührung-, Bewegungs- und Lichtsensoren.
Die große Resonanz auf die Siegener Initiative lässt erwarten, dass das Beispiel Schule macht. Wer heute noch glaubt, Computer seien bloße Werkzeuge und nicht etwa Inventar unserer Lebenswelt, wird ihren rasanten Veränderungen hinterhersehen müssen, statt sie in die eigene Regie zu nehmen.

Autoren:
Prof. Dr. Peter Matussek ist Inhaber des Lehrstuhl für Medienästhetik an der Universität Siegen. Seine Forschungen über die Veränderungen des Wahrnehmens und Erinnerns im Verlauf der Mediengeschichte sowie zur menschengerechten und inspirationsfördernden Gestaltung von Computersystemen finden internationale Beachtung.
Dipl.-Wirt.Inform. Cornelius Neufeldt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und neue Medien an der Universität Siegen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Gestaltung und Entwicklung von Informations- und Kommunikationstechnologien zur Unterstützung des Lebensalltags älterer Menschen.


Informationen zum HCI Master gibt es unter
http://hci.wineme.fb5.uni-siegen.de