Peter Matussek

Naturbild und Diskursgeschichte.

'Faust'-Studie zur Rekonstruktion ästhetischer Theorie

 

Stuttgart: Metzler 1992

 

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"This elaborate theoretical exposition provides a basis for subtle differentiation in the ensuing examination of images of nature – and their intellectual implications."
Oxford Journal


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Einleitung. Für eine physiognomische Naturästhetik 

 

Erster Teil. Von der ästhetischen Theorie zur Naturästhetischen Heuristik

 

I. Deskription

 

A. Adornos 'Idee der Naturgeschichte‘

B. Formkategorien

1. Symbol und Allegorie

2. Mimesis und Konstruktion

3. Zur Akzeptanz der Formkategorien

C. Interpretationsebenen      

1. Kommentar und Kritik

2. Konstellation

3. Zur Akzeptabilität des Konstellationsverfahrens

 

II. Explikation

 

A. Das Münchhausen-Dilemma

B. „Linguistic Turn“ – Der Minimalkonsens des Code-Modells

C. Semiologische Explikation der Formkategorien

1. Symbolische Einheit und allegorische Differenz

2. Mimetische Identifikation und konstruktive Konfrontation

 

III. Reformulierung

 

A. Kommentar: Rekonstruktion von Diskurspositionen

1. Die kommunikationstheoretische Auslegung des Code-Modells

2. Reformulierung der Formkategorien auf Kommentar-Ebene

3. Das Problem der theoretisierten Ästhetik

B. Kritik: Dekonstruktion des Kommentars

1. Die poststrukturalistische Auslegung des Code-Modells

2. Reformulierung der Formkategorien auf Kritik-Ebene

3. Das Problem der ästhetisierten Theorie

C. Rezeptionsgeschichte: Vermittlung der Interpretationsebenen

1. Eine rezeptionsästhetische Auslegung des Code-Modells

2. Reformulierung der Interpretationsebenen

3. Der veränderte Status ästhetischer Urteile          

 

 

Zweiter Teil. Naturbilder in Goethes Faust

 

I. Das expressive Naturbild

 

A. Poiesis. Die Sachgehalte der Erdgeistbeschwörung       

1. Der Anspruch auf unmittelbare Naturerfahrung

2. Der Anspruch auf fundamentales Naturrecht

3. Geschichte unterm Zeichen der Natur

B. Aisthesis. Rebellionen

1. Romantischer Schmerz und jungdeutsches Faustfieber

(1775-1848)

2. Nominalistischer Realismus (1848-1870)

3. Positivistisch-irrationalistischer Wille zur Macht (1870-1918)

4. Neukantianer und Existentialisten (1918-1933)

5. Das Erhabene und die Banalität des Bösen (1933-1945)

6. Restaurationsstörungen (1945-1968)

7. Bürgerschrecks und „Jung-Kantianer“ (1968-1990)

8. Résumé der Rezeptionsgeschichte

C. Katharsis. Die Aporie abstrakter Unmittelbarkeit

1. Das Inadäquatheits-Problem

2. Das Fundamentalismus-Problem

3. Konsequenzen aus der Aporie abstrakter Unmittelbarkeit

 

II. Das sympathetische Naturbild

 

A. Poiesis. Die Sachgehalte des Wald und Höhle-Monologs

1. Der Anspruch auf hermeneutisches Naturverstehen

2. Der Anspruch auf naturgemäße Reformen

3. Geschichte im Zeichen der Natur

B. Aisthesis. Rückzüge

1. Verzweifeltes Vertrauen (1790-1848)

2. Reichs-Integration (1848-1870)

3. Impressionen der Industriegesellschaft (1870-1918)

4. Fluchten aus Weimar (1918-1933)

5. Innere Emigration (1933-1945)

6. Innere Einkehr (1945-1968)

7. Sanfte Alternativen (1968-1990)

8. Résumé der Rezeptionsgeschichte

C. Katharsis. Die Aporie des erklärten Verstehens

1. Das Problem hermeneutischer Objektivität

2. Das Problem des guten Willens

3. Konsequenzen aus der Aporie erklärten Verstehens

 

III. Das harmonikale Naturbild

 

A. Poiesis. Die Sachgehalte des Osterspaziergangs

1. Der Anspruch auf analogische Naturanschauung

2. Der Anspruch auf natürliche Ordnung

3. Natur im Zeichen der Geschichte

B. Aisthesis. Restaurationen

1. Die klassische Synthese (1806-1848)

2. Grüne Stellen (1848-1870)

3. „Naturformen des Menschenlebens“ (1870-1918)

4. „Warmes Behagen“ (1918-1933)

5. „Goethes morphologischer Auftrag“ (1933-1945)

6. „Hymnus auf den erlösten Menschen“ (1945-1968)

7. Biologie des Alltags (1968-1990)

8. Résumé der Rezeptionsgeschichte

C. Katharsis. Die Aporie erpreßter Versöhnung

1. Das Problem der natürlichen Erkenntnis

2. Das Problem der affirmativen Kultur

3. Konsequenzen aus der Aporie erpreßter Versöhnung

 

IV. Das konstruktivistische Naturbild

 

A. Poiesis. Die Sachgehalte des Schlußmonologs

1. Der Anspruch auf abstrakte Naturerkenntnis

2. Der Anspruch auf technische Naturbeherrschung

3. Natur unterm Zeichen der Geschichte

B. Aisthesis. Visionen

1. Schwierigkeiten mit der Ästhetik des Häßlichen (1832-1848)

2. Unverstandener Naturhaß (1848-1870)

3. „Faust als Gründer“ (1870-1918)

4. Konstruktivisten und Konstruktive (1918-1933)

5. „Ringen um neuen Heimatboden“ (1933-1945)

6. Tragik der Tat (1945-1968)

7. Umkehrungen (1968-1990)

8. Résumé der Rezeptionsgeschichte

C. Katharsis. Die Aporie negativer Utopik

1. Das Problem der immanenten Kritik

2. Das Problem des reflexiven Handelns

3. Konsequenzen aus der Aporie negativer Utopik

 

 

Schluss. Diesseits der Heuristik

 

Literaturverzeichnis

 

 

 

Einleitung.
Für eine physiognomische Naturästhetik

 

Auf den Schillertagen 1986 in Mannheim stellte Theaterregisseur Hansgünther Heyme die Gretchen­frage der Saison: Kann man nach Tschernobyl noch den Faust inszenieren? Natürlich fiel die Antwort positiv aus. Nicht nur für Heyme. Und – dank perennierender Umweltkatastrophen – nicht nur in der Tschernobyl-Saison. Die Spielpläne der letzten Jahre sind offenbar von der Überzeugung getragen, daß Faust im Zeitalter der High-Tech-Katastrophen durchaus inszeniert werden könne, ja gera­dezu in­szeniert werden müsse.

Goethes Drama ist, wie man so sagt, aktuell. Aber was heißt das eigentlich? Wieso kann ein Stück, dessen Naturbild allenfalls von Deichbrüchen, nicht aber von Reak­torunfällen weiß, immer noch für zeitge­mäß gehalten werden? Wie kann es den Wis­senshorizont seiner Zeit so weit überragen, daß es im­mer wieder neue Deutungen evoziert?

Nur wenn wir eine recht kühne Unterstellung machen, läßt sich das erklären: die Unterstellung, daß Kunstwerke über den Lauf der Geschichte mehr wissen als der kompetenteste Diskurs. Der Ästhetik gilt sie als selbstverständlich. So schreibt Walter Benjamin im Passagenwerk, es sei „ja bekannt, daß die Kunst vielfach, in Bildern etwa, der wahrnehmbaren Wirklichkeit um Jahre vorausgreift.“ Ästhetische Ge­bilde, erläu­tert er am Beispiel der Mode, seien die „geheimen Flaggensignale der kommenden Dinge. Wer sie zu lesen verstünde, der wüßte im voraus nicht nur um neue Strömun­gen der Kunst, sondern um neue Gesetzbücher, Kriege und Revolutionen.“[1]

Explizit gemacht wie hier, wirkt das, was wir in der Tat mit Benjamin als bekannt voraussetzen, doch gewagt. Beweisbar jedenfalls ist die Antizipationsfähigkeit der Kunst nicht. Auch dadurch nicht, daß zum Beispiel Goethes Faust seine Interpreten tatsächlich schon zu Zeitdiagno­sen veranlaßt hat, die kom­mende Gesetzbücher, Kriege und Revolutionen vorhersagten.[2] Denn solche konkreten Prognosen sind im­mer erst dann möglich, wenn sie bereits in den Diskurshorizont der Ge­schichte einge­gangen sind. Wenn etwa Heine 1833 im Faust die Prophezeiung einer deutschen Revolu­tion sieht, dann liest er natür­lich seine französischen Erfahrungen in das Drama hinein. Oder wenn Wil­helm Böhm hundert Jahre spä­ter das Werk als War­nung vor dem chauvinistischen Kriegspotential inter­pretiert, so geschieht auch dies vor dem Hin­tergrund einer bereits analysierbaren Zeittendenz. Und wenn schließlich Heyme Faust als „Kopfmenschen“ inszeniert, dessen Weg „zur Atombombe und Tschernobyl geführt“[3] habe, dann ist es erst recht nicht die Antizipationsfähigkeit, sondern bestenfalls die Aktuali­sierbarkeit des Dramas, die damit unter Beweis ge­stellt wird. Benjamin hingegen unterstellt, daß die Werke in ge­heimen Botschaften Dinge ankündigen, von denen wir noch keinen Begriff haben, daß sie sich gerade durch ihre Fremdheit als authentisch erweisen.

Die Kunst liefert keine Codiertabellen zu ihren Flaggensignalen. Eben dadurch üben sie ihre Faszination auf den Interpreten aus: „Wer sie zu lesen verstünde…“ Das antizipato­rische Potential der Werke hat sein Wesen in seiner Differenz zu den eta­blierten Codes. Diese Diffe­renz ist nicht von der Art bloßer Gegenbild­lich­keit. Wenn zum Beispiel Hans Jonas, für einen verant­wortlichen Technikeinsatz werbend, den Dei­che-Bauer Faust ins Visier nimmt, um festzustellen, daß sich „die Fronten ver­kehrt“ hätten, weil wir „der Na­tur gefährlicher geworden“ seien, „als sie es uns jemals war“[4], dann ignoriert er all die Hinweise des Stücks, die bereits die Gefahren selbst­herrlicher Subjektivi­tät artikulieren: Fausts Blindheit etwa, die ihn darüber hinweg­täuscht, daß die Arbeitsgeräusche, die vom Fortschritt seines technischen Projekts zu kün­den scheinen, in Wirklichkeit die eigene Grablegung voran­treiben; oder die Unterwerfung des Sprachmate­rials unter Kausalitätszwänge, die Fausts Proklamatio­nen von Gleichheit und Freiheit un­glaubwürdig macht; die konfrontative Logik seiner Maximen schließlich, deren unduldsamer Maxima­lismus nicht nur die Verantwor­tungsethik des Technokraten desavouiert, sondern noch die – lediglich mit umgekehr­ten Fronten argumentierende – Verantwortungsethik seines Kritikers.[5] Wenn es sol­che Hin­weise gibt (die ich hier nur als Interpretationsmöglichkeiten an­deute), dann sind sie nicht in den Inhal­ten, sondern in der Form zu suchen. Die Form ist es, durch die der künstlerische Ausdruck dis­kursive Mitteilbarkeit konter­kariert. Deshalb kann er ihr vorgreifen. Für die Ästhetik ist das ein Gemeinplatz – sollte man jedenfalls mei­nen. Aber wie kann sie dieses Wissen umsetzen? Welche Navigationshilfen hat sie dem mißlingenden Fortschritt anzubieten?

Einschlägige Auskunft erhofft man nicht erst heute, da der Mainstream instrumen­teller Vernunft so­zu­sagen biologisch umgekippt ist, vom ästhetischen Naturbegriff. Er ist zuständig für die Flaggensignale der im Rationalisierungsprozeß gestrandeten Sehn­süchte, seit das Vertrauen in die metaphysische harmo­nia naturae nicht mehr trägt. Mit der Renaissance beginnt das geschichtliche Denken, Natur theoretisch und praktisch beherrschbar zu machen. Was in seinem Diskurs nicht aufgeht, übernimmt der bildliche Ausdruck – ein Ergänzungsverhältnis, bis der Glaube an die vernünftige Weltordnung durch das Erdbe­ben von Lissabon endgültig erschüttert wird. Die Unberechenbarkeit der Natur, von der die Wissenschaft sich zweckmäßig zu emanzi­pieren suchte, fand ihren abgespaltenen Ort in der Zwecklosigkeit der auto­nomen Kunst. Der ästhetische Naturbegriff entfaltete sich dabei weniger als Kompensation verlorener Geborgen­heiten[6] denn als Antizipation einer diskursflüchtigen Freiheit. „Die Ansicht“, schrieb Schel­ling, „welche der Philosoph von der Natur künstlich sich macht, ist für die Kunst die ursprüngliche und natürliche. Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer wunderbarer Schrift verschlossen liegt. Doch könnte das Räthsel sich enthüllen, würden wir die Odyssee des Geistes darin erkennen, der wun­derbar getäuscht, sich selber suchend, sich selber flieht; denn durch die Sinnenwelt blickt nur wie durch Worte der Sinn, nur wie durch halbdurchsichtigen Nebel das Land der Phantasie, nach dem wir trachten.“[7] Die von vornherein sentimentalische Perspektive der autonomen Ästhetik, wie sie sich hier dokumentiert, bleibt bis in die Moderne hinein bestimmend für das Verhältnis von Naturbild und Dis­kurs­geschichte. Es ist ein Negati­onsverhältnis. Als solches bleibt es bis zu Adornos Dik­tum, das Natur­schöne sei die „Spur des Nichtiden­tischen an den Dingen im Bann universaler Identität“[8], unverän­dertes Strategem der Naturästhetik.

Geändert aber hat sich die Diktion. Schon die Gegenüberstellung der enthusiasti­schen Sprache Schel­lings und der zurückhaltenden, ja asketischen Adornos bestätigt offenbar Jörg Zimmermanns Diagnose von 1982, es herrsche eine „Verlegenheit der zeitgenössischen Ästhe­tik gegenüber dem Naturschönen“[9]. Diese Verlegenheit, fordert er in seinem Sammelband Das Naturbild des Menschen, sei angesichts der drängenden Umweltprobleme aufzugeben, um endlich die von Adornos Prinzip der Negativität tabuisierte „Rekonstruktion des ästhe­tischen Na­tur­begriffs“[10] in Angriff zu nehmen. Zwei Jahre zuvor bereits hatten sich die Teilnehmer des 13. Wisconsin Workshop derselben Aufgabe gestellt, indem sie sich der „literarischen Naturbewältigung … unter der Perspektive eines erwachenden ökologischen, ja im weiteren Sinne alternati­ven Bewußtseins“[11] annahmen. Dennoch gibt es erst seit kurzem theoretische Kon­zepte einer entsprechend rekonstruierten Naturästhetik.[12] Sie zeichnen sich insbeson­dere durch eine Abwendung von kognitivistischen Konzepten aus, die in Adornos Wahrheitsästhetik noch dominierten.[13] Stattdessen wird die „ausgeführte Ästhetik der Natur“ entweder zum „Teil einer Ethik des guten Lebens“, wie sie Martin Seel vorge­legt hat[14], oder einer Theorie sinnlich-leiblicher Wahrnehmung, wie sie Gernot und Hartmut Böhme projektieren.[15] Während Seel sich dem akuten Desiderat einer natur­ästhetischen Terminologie nach Adorno mit einer merkwürdig unbekümmerten Apo­diktik entzieht[16], haben die Brüder Böhme die zentrale Bedeutung des Sprachproblems erkannt. Sie kritisieren Adornos Zurückhaltung gegenüber einer posi­tiven Bestim­mung ästhetischer Natur und sehen darin – wie überhaupt im Grundsatz der Ästhetik nach Kant, daß das Interesse am Schönen kein empirisches sein dürfe[17] – eine kogniti­vistische Abwehr ver­drängter Im­pulse.[18] Um die „affektive Betrof­fenheit durch die Natur“ wie­der diskursfähig zu machen, fordern sie im Rekurs auf das noch nicht in Kunst und Philosophie zerfal­lene Weltbild der Renaissance eine „Rehabilitation der Lehre von der Sprache der Natur“[19]. Kann ein solcher Rückgriff auf vormodernes Denken die erhofften Resultate bringen?

Ich bezweifle es. Denn die monierte Verlegenheit gegenüber der schönen Natur hat ihre guten Gründe, die aus der Theoriegeschichte hervorgehen. Mochte die Renais­sance noch auf eine Signaturen­lehre ver­trauen, die in der Zeichenschrift der Natur die Offenbarung Gottes entzif­ferte, so läßt schon Kants Kritik der Urteilskraft als Gel­tungsbasis der Rede über das Ästhetische ledig­lich eine hypo­theti­sche Vernunft zu, den „intellectus archetypus“, den man sich nur „negativ, nämlich bloß als nicht dis­kursiven“[20] den­ken dürfe. Die idealistische Ästhetik suchte dieses Negative dialektisch einzuho­len, in­dem sie es als das Andere des naturwissenschaftlichen Naturbegriffs in der Bewegung der spekula­tiven Vernunft aufhob. Mit der Ablösung des philosophi­schen durch den szientifischen Rationalitätsbegriff wurde die Begründungsba­sis dieser Vermittlung hinfällig. Der endgültige Bruch zwi­schen Sinnlichkeit und Idee, deren Überein­stimmung für Hegel noch das Wesen des Schönen ausmachte, war – von die­sem vorgedacht[21] – vollzo­gen. Die Philosophie der Kunst zerfiel seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in philo­logische Wissenschaft und ästhetizistische Remythologisierung. Die beiden Richtungen inhärierende Re­flexionsfeindschaft, die die Natur entweder zum Topos verdinglichte oder zur Verzauberung der entzauber­ten Dingwelt ideali­sierte, wirkten auf das künstlerische Naturbild zurück. Als „Flaggensignal“ in Benja­mins Sinne konnte es nur dadurch überleben, daß es sich affirmati­ver Vereinnahmung entzog. Von Bau­delaire[22] bis Beckett[23] flüch­tete es sich vor seiner Degradierung zum Kompensat, indem es sich selbst als Bild der „Natur“ negierte. Eine Ästhetik, die die­ser Reaktionsform auf die restlose Hi­storisierung der Natur gerecht werden und doch dem Naturschönen die Treue halten wollte, konnte dies nur durch die Tabuisierung seines Begriffs. „Schuld am Unstern über der Theorie des Naturschönen“, schreibt Adorno, „ist weder die korri­gierbare Schwäche der Reflexionen darüber noch die Armut des Ge­suchten. Vielmehr wird es bestimmt von seiner Unbestimmtheit, einer des Objekts nicht weniger als des Begriffs.“[24] Adornos „Verlegenheit“ ge­genüber dem Naturschönen gründet also, wie Zimmermann ein­räumt, „auch in begrifflichen Schwierig­keiten“[25], nämlich der Scheu vor ter­minologischen Vergewalti­gungen.

Die „gelehrte Ungeniertheit“[26] der Postmoderne läßt diesen Vorbehalt freilich nicht mehr gelten. Ge­rade im Verzicht auf eine affirmative Sprache der ästhetischen Natur erkennt sie die ausgrenzende Ge­walt logozentrischer Rationalität, die sie zugunsten einer neuen Empirie der Sinne durchbrechen möchte. So ist es auch zu verstehen, wenn sich Gernot Böhme in seinem Plädoyer Für eine ökologische Naturästhetik etwas davon verspricht, „die Frage der Natur­schönheit als eine naturwissen­schaftliche [zu] bearbei­ten“[27]. Ich glaube allerdings, daß dieser Ansatz, den ästhetischen und diskursi­ven Aspekt von Na­tur wieder zusammenzuführen, seinen eigenen kritischen Intentio­nen im Weg steht. Ein leibphilosophi­scher Synkre­tismus, der die „Erfahrung von Atmosphären, wie man sie an Kunstwerken macht, … zu artikulieren“ sucht und hierfür die „Entwicklung disziplinierter und intersubjektiv ver­bindlicher Sprech­weisen“[28] for­dert, droht durch Identifikation zu destruieren, was er erfahrbar machen möchte. Gewiß ist die kantische Abspal­tung des empirischen vom intellektuellen Interesse am Schönen eine Entfrem­dungs­erscheinung. Doch der Versuch, diese Ent­fremdungser­scheinung durch eine Umkehrung der ko­pernikani­schen Wende rück­gängig zu machen, kuriert das Sym­ptom, nicht ihre Ursache. Indem er die Differenz nivelliert zwi­schen Anschauung und Begriff, Bild und Diskurs, beraubt er die Kunst ihres kriti­schen Po­tentials, das auf den Kontrasteffekten dieser Gegensätze beruht.[29] Eine Natur­ästhetik, die sich nur auf die Brauchbarkeit des künstlerischen Naturbildes – etwa für die öko­logische Stadtplanung[30] – kaprizierte, würde die oppositio­nelle Energie seiner „unbrauchbaren“ Aspekte nicht ausschöpfen.[31] Denn die Funk­tion der ästhetischen Natur besteht in ihrer Disfunktionalität. Anstatt, wie es auch Zim­mer­mann fordert, „die Aufgabe des Künstlers in einer Weise neu zu definieren, die seine Verantwor­tung gegenüber der Na­tur als ‚Zweck in sich selbst‘ deutlich macht“[32], sollte es der Kunst überlassen blei­ben, auf ihre Weise zu artikulieren, was aus dem Natur­schönen in der Welt der Zwecke geworden ist. Nur die Freiheit von derlei Rücksich­ten prä­destiniert das künstlerische Naturbild zum „geheimen Flag­gensignal“. Was es über die Diskursge­schichte mitzuteilen hat, artikuliert es durch eine Physiognomie, die in ihrer Eigenart nur dadurch zu Be­wußtsein kommt, daß sie als das Negative kommunikativer Mittei­lung bestimmt wird.

Ich möchte deshalb für eine Naturästhetik plädieren, die die Werke im Sinne Adornos als die „ihrer selbst unbewußte Geschichtsschreibung“[33] zu deuten sucht. Das heißt, ich möchte anknüpfen an ein Verständnis von Ästhetik, das sich in der Moderne herausgebildet hat und demzufolge die Kunst als das andere begrifflicher Diskurse zu betrachten ist. Durch eben diese Oppositionsbestimmung nun wird eine Ästhetik, die ihre Phänomene als Negationsverhältnis der Diskursgeschichte zu beschreiben sucht, zur Naturästhetik. Meine Definition des Kompositums, die von der derzeit gängigen abweicht, beruht also nicht auf einem topologischen, sondern auf einem modalen Kriterium: Nicht als einen Gegenstand (unter an­de­ren möglichen) werde ich das künstlerische Bild der Natur thematisieren, sondern als eine Physiogno­mie, die sich durch ihr negatives Verhalten zur Diskursgeschichte als „Naturbild“ qualifiziert. Daß ich gleich­wohl an der doppeldeutigen und folglich mißverständli­chen Vokabel festhalte, hat auch strategische Gründe. Ich möchte einem Sprach­gebrauch entgegenwirken, der sich daran gewöhnt hat, von „Naturästhetik“ nur dann zu sprechen, wenn „Natur“ in den Werken explizit thematisch wird. Wie ich oben zu zeigen versuchte, wird damit eben jener Verdinglichungstendenz Vorschub geleistet, der die äs­the­tische Moderne sich zu Recht entzog. Die topologisch bestimmte Natur­ästhetik reduziert ihren Fokus um die Werke bzw. um diejenigen ihrer Aspekte, die das Naturschönen nicht als ein identifizierbares Sujet, son­dern als Physiognomie zur Darstellung bringen – und das sind die für die Frage nach dem anderen der Dis­kurs­geschichte wesentlichen.

Zweifellos haben sich die sprachlichen An­forderungen, jene unbewußte Geschichts­schreibung als Ne­gation der bewußten zu thematisieren, im Diskussionskontext der Postmoderne gewandelt. Das bedeutet aber nicht, daß Adornos terminologische Potentiale erschöpft seien, Naturästhetik als Diskurskritik zu betreiben. Worin sie nach wie vor bestehen und wo über sie hinausgegangen werden muß, ist der Gegen­stand des ersten Teils der vorliegenden Arbeit. Hier muß ich mich mit Andeutungen über dessen Problemstellung begnügen.

Der doppelsinnige Titel Ästhetische Theorie darf ebensowenig im Sinne einer ästhetisierten Theorie[34] wie dem einer theoretisierten Ästhetik aufgefaßt werden. Adorno vermeidet es, das seit Baumgarten sy­ste­matisch Unterschiedene, sinnliche und rationale Erkenntnis[35], synkretistisch zu ver­schmelzen, weil er gerade aus ihrer Anti­thetik die Illuminationen gewinnt, die über den Horizont gewöhnlicher Erfahrung hinausreichen. Diese Antithetik ist aber nach dem Wegfall der idealistischen Vernunftmetaphysik in einen unversöhnlichen Hiat auseinandergebrochen. Was die These der Konvergenz von künstlerischer und philosophischer Wahrheit[36] einzig noch trägt, ist der Wechselbezug von physiognomischer und bestimm­ter Negation. „Deshalb“, so Adornos Konse­quenz, „bedarf Kunst der Philoso­phie, die sie interpre­tiert, um zu sagen, was sie nicht sagen kann, wäh­rend es doch nur von Kunst gesagt werden kann, indem sie es nicht sagt.“[37] Mit dieser Paradoxie sucht Adorno sowohl einer theoreti­schen Gängelung der Kunst[38] als auch einer ästhetizisti­schen Selbst­genügsamkeit zu entgehen. Stattdes­sen sucht er, von Benjamin inspiriert, die ästheti­schen Konfigurationen als Chiffren philosophischer Pro­bleme zu deuten.[39] Sein Form­begriff ver­fügt über die hierfür nötige Ambiguitätstoleranz. Er voll­zieht den termino­logischen Brücken­schlag zwischen ästhetischer Artikulation und phi­losophischer Argu­mentation, indem er die tradierten Formkategorien über ihren kunstgeschicht­lichen Rahmen hinaus erwei­tert und zu Grundbegriffen einer ideologiekritischen Geschichtsphilosophie in Be­ziehung setzt. So führt er etwa, wiederum angeregt durch Benjamin, die Diskussion des Verhältnisses von Natur und Geschichte im Medium der Diskussion allegorischer und symbolischer Formen; deren Konfigurati­onen erscheinen ihm als objektivierte Physiognomien einer naturgeschichtlichen Dialektik. Dieses Verfahren konzipiert Adorno bereits mit seiner Idee der Naturgeschichte von 1932, von der meine terminologische Reformulie­rung ihren Ausgang nimmt.[40]

Die Fruchtbarkeit wie auch die Problematik dieses Verfahrens läßt sich insbe­son­dere an der Faustforschung zeigen. So sind zum Beispiel Wilhelm Emrichs Buch Die Symbolik von Faust II [41], dem nicht nur die Methodik der Faustinterpretation, sondern der Literaturwissenschaft über­haupt wichtige Impulse ver­dankt, und Heinz Schlaffers Gegenstück, Faust Zweiter Teil. Die Allegorie des 20. Jahrhunderts [42], maßgeblich von Adorno bzw. Benjamin beeinflußt.[43] Doch schon die Konfronta­tion dieser beiden Interpretationen läßt die terminologischen Unsicherheiten hervortreten, die einer un­verkürz­ten methodischen Um­setzung des naturgeschichtlichen Ansatzes entgegen­stehen. Während Em­richs werk­zentrierte Deutung zu dem Ergebnis kommt, daß im Faust II ein „Umschlag von Geschichte in Natur“[44] dargestellt sei, wartet Schlaffers sozialgeschichtlich orientierte Allegorese mit dem konträren Resultat auf: Das Werk zeige, daß „die Macht der Na­tur vergangen“[45] und durch die der Geschichte ab­ge­löst worden sei. Adorno hätte wohl beiden Behaup­tungen partiell zugestimmt, nicht aber jeder für sich. Sein dialektischer Formbegriff, der solche Paradoxien ermög­licht, ist ein „Begriffsjoker“[46], wie Peter Bürger sagt. Aller­dings müssen sich auch Bürgers Versuche, ihn neu zu explizieren und in den Kontext der postmodernen Sym­bol-Allegorie-Dis­kus­sion einzuführen, den Vorwurf gefallen lassen, sie offenbar­ten eine „für die Adorno-Rezeption charakte­ristische Schwierigkeit, dessen Begriffe anders denn als in ihre Einzelbestim­mungen fragmentierte zu in­strumentalisieren“[47]. In der Tat sind Adornos und Benjamins Termini schwer­lich aus ihren Verwendungskontexten zu lösen und methodisch zu operationalisie­ren. Der Grund hierfür ist aber weniger deren definitorische Unschärfe als vielmehr ein Erkenntnisver­fahren, das die Untrennbar­keit von Methode und Darstellung zu seiner Voraussetzung hat: das Verfahren der Kon­stella­tion. Durch ihre Konstella­tion, so die These von Adorno und Benjamin, erhalten die philosophischen Begriffe den ästhetischen Aus­druck zu­rück, ohne den sie ihren Anspruch, objektive Repräsentation der Wahrheit zu sein, nicht einlösen könn­ten. Bestimmte und physio­gno­mische Negation, Kommentar und Kritik der Werke sind so ineinander verklammert, daß sich keine kontextunabhängigen Kriterien ästheti­scher Termini extrapo­lieren lassen, ohne das zu verkürzen, wofür sie stehen. Die Beweislast trägt das konstellierende Subjekt.

Wollte man an diesem methodologischen Tabu festhalten, wäre eine Erweiterung der natur­ästheti­schen Perspektive im oben genannten Sinne nicht möglich. Eine solche Erweiterung aber ist notwendig. Angesichts der Diskursivierung des spät- und postmodernen Wissens sind die Kontrasteffekte neu zu be­stimmen, die die künstleri­schen Formen ihr gegenüber bewirken. Die ästhetische Terminologie ist deshalb in zweierlei Hinsicht diskurstheoretisch zu reformulieren: Auf der Ebene des Kommen­tars zur sprachanalytischen Rekonstruktion und auf der Ebene der Kritik zur sprach­kritischen Dekonstruktion. Da sie diesen Forderungen nicht mehr zu genügen scheint, stößt Adornos Ästhetische Theorie heute von zwei Seiten auf Ablehnung: Für die sprachanalytischen Rekonstrukteure der Frankfurter Schule „drohen … die Kon­turen des Vernunftbe­griffs zu verschwimmen“[48], wenn man den philosophischen Dis­kurs konstellativ ästhetisiert. Die Dekonstruktivisten hingegen monieren, daß Ador­nos Texte sich – im Unter­schied etwa zu denen Derridas – „fast niemals im Ernst auf die Zer­setzung des sprachlichen Zeichens, die konkrete Sub­version des fixierenden Begriffs, einlassen“[49].

In der Tat haben beide Tendenzen mittlerweile das terminologische Repertoire der Ästhetik erweitern hel­fen. Voraussetzung hierfür war die Preisgabe bewußtseins­theoretischer Erkenntnismodelle – und damit auch des Konstellationsverfahrens. Denn es beruhte ebenfalls auf dem Mo­dell eines sich Objekte vorstel­lenden und an ihnen sich abarbeitenden Subjekts, das freilich bei Adorno sich selbst zu negieren hatte, um in der objek­tiven Repräsentation der Wahrheit aufzugehen. Ein Paradig­men­wechsel von der Theorie des Bewußt­seins zur Sprachtheorie hingegen, den Adorno selbst nahegelegt hatte, ohne ihn aber zu vollzie­hen[50], versprach nun einen Ausweg aus diesem Dilemma. Durch ihn nämlich ließ sich die unausweisbare Inten­tionalität eines bedeutungskonstituierenden Sub­jekts ersetzen durch die Gegebenheit seines Sprachgebrauchs, der nun wiederum hinsichtlich seiner je­weiligen Funktionen beschreibbar wurde.

Ein linguistic turn Adornos scheint also sinnvoll, sofern daran nicht nur sprachana­lytische, sondern auch strukturalistische Verfahren beteiligt sind. Denn beide haben ihre Zustän­digkeiten. Habermas’ Begriff einer kommunikativen Vernunft etwa erhöht die Rekonstru­ierbarkeit der Sachgehalte, indem er die „Gegenbewegungen“ von Kunst, Wissenschaft und Moral in den Rahmen einer universalpragmatisch fundierten Gesellschaftstheorie rückt.[51] Auf der ande­ren Seite wen­den Foucaults Diskursarchäo­logie oder Derridas Grammatologie „sich dem Geraune der Welt“[52] zu und dekonstru­ieren die logo­zentrische Sprache zur Freisetzung von Spu­ren einer unterdrückten „Ur-Schrift“ (écriture)[53].

Die Gegenläufigkeit beider Strategien provoziert natürlich erst recht die Frage, wie sie sich termino­lo­gisch aufeinander beziehen lassen. Denn erst der Wechselbezug von sprachanalytischer Rekonstruktion und (post)strukturalistischer Dekonstruktion würde einlösen, was der hier zugrundegelegte Begriff von Naturästhetik erfordert: Die physio­gno­mische Deutung des künstlerischen Naturbildes als des Anderen der Dis­kursgeschichte. Die beiden Varianten des linguistic turn scheinen sich aber eher aus­zuschließen. Man vergleiche nur einmal etwa den Mimesis-Begriff Derridas mit demjenigen von Haber­mas[54], um zu ermessen, wie weit sich beide – in gegenläufiger Richtung – vom rational-irra­tio­nalen Doppelcharakter in Adornos Mimesis-Begriff entfernt haben. Das liegt vor allem an der Unter­schiedlich­keit der Grundlagen: Die strukturalistische, von Saussure inaugurierte Variante des linguistic turn rekur­riert auf die Differentialität der Zeichenaspekte und eignet sich insofern besonders für eine Be­schreibung ästhetischer Sinndestruktionen. Die sprachanalytischen Schulen in der Nachfolge Wittgen­­steins hingegen haben ihre Stärke in der systematischen Beschrei­bung dessen, was von der ästhe­tischen Form subvertiert wird.[55] Beides aber sind Spe­zialisierungen, die sich, tel quel, eher ausschließen als ge­genseitig befruchten. Dieses Dilemma von subversiver Begriffslosigkeit einerseits und sy­stematischer An­schauungsferne anderer­seits gilt heute als ein Hauptproblem ästhetischer Terminolo­gie. So schrei­ben die Herausgeber des im Entstehen befindlichen Historischen Wörterbuchs ästheti­scher Grund­begriffe: „In der ästhetischen und kunsttheoretischen Diskussion wird all­gemein ein Verlust an termino­logischer Sicherheit, an geschichtli­cher Bewußtheit, an gegenstandsspezifischer Konkretion beklagt. Die meisten ästhetischen Begriffe kur­sie­ren nur noch in einem traditionellen Restverständnis ihrer Bedeu­tungsdimen­sion. Zum anderen beob­achten wir Formen und Praktiken einer Hyper-Ideologi­sierung und -Politisie­rung, die – statt das Künstle­rische/Ästhetische zu profilieren – es eher zu verschlin­gen drohen oder ins Schlepptau der Philosophie nehmen.“[56]

Freilich sind solche Mahnungen vor dem Zerfall ästhetischer Grundbegriffe in der Ästhetikgeschichte nichts Neues. Adorno konnte für das Motto seiner Ästhetischen Theorie schon auf Friedrich Schlegel zurückgreifen: „In dem, was man Philosophie der Kunst nennt, fehlt gewöhnlich eins von beiden; ent­we­der die Philosophie oder die Kunst.“[57] Er selbst dürfte aber den letzten ambitionierten Versuch unter­nom­men haben, beides miteinander zu verbinden, ohne den einen Aspekt dem anderen zu subsumieren. Opti­mal wäre es also, den erweiterten Beschreibungsspielraum des lin­guistic turn zu nutzen und gleich­zei­tig seine beiden auseinanderdriftenden Tendenzen miteinander kompatibel zu machen, um sie im Sinne der Grundintentionen Adornos zu vermitteln. Eine Naturästhetik allerdings, die derart mit Adorno über Adorno hin­ausgehen möchte, sieht sich in einer ähnlich prekären Lage wie Bernhard Minetti in der Berli­ner Faust-Inszenierung von Klaus Michael Grüber: Die Regie, auf die düste­ren Zwischentöne des Dramas eingehend, wollte, daß er seinen Monolog flüstert; das Premierenpublikum aber rief unmutig „lauter!“, weil es den Text nicht verstehen konnte.

Nicht weniger dilemmatisch ist die Situation einer Naturästhetik, die weder ihre Befunde den redu­zier­ten Explikationskriterien analytischer Erkenntnis gefügig machen noch Erkenntnisansprüche über­haupt preisgeben will. Daß künstlerische Ausdrucksformen nicht diskursiv sind, gewinnt erhellende Be­deutung erst in deren Konfrontation mit gegebenen Diskurshorizonten. Die aber sind heute geprägt durch einen In­formations- und Verwissenschaftlichungsdruck, der mit der zunehmenden Rationalisierung aller Lebensbe­reiche stetig anwächst. Viele Geisteswissenschaftler sehen sich vor diesem Hintergrund zu Nützlichkeits­nachweisen ge­drängt, die nur die Al­ternative offenzu­lassen scheinen: Anpassung an die Informationsgesellschaft [58] oder kom­pensatorische „Dennoch-Verzauberung“[59] ihrer Defizite. Weder die zur bloßen Medienwissenschaft glattgebürstete noch die zur Zuflucht vor Diskurszwängen aura­tisierte Ästhetik wird aber ihrer genuin pa­radoxen Aufgabe gerecht, auf dem jeweils avanciertesten Reflexionsniveau zu sagen, was sich nicht sagen läßt, mit diskursiven Mitteln das antidiskursive Potential der Kunst freizulegen.

Minetti unterbrach seinen Monolog und sagte: „Ich werde es versuchen. Es wird hoffentlich nicht schlechter dadurch.“ Auch die Naturästhetik muß immer wieder ver­suchen, „lauter“ zu sprechen, das Ver­hältnis von Naturbild und Diskursgeschichte auf der Grundlage aktueller Wissenschaftskriterien zu be­stimmen. Auch sie muß aber das Gewaltsame ihres eigenen Diskurses immer wieder transparent ma­chen, um vor die­sem Hintergrund das Divergierende, um das es ihr geht, aufscheinen zu lassen.

In diesem Sinne werde ich eine linguistisch fundierte Neuformulierung der ästheti­schen Terminologie Adornos versuchen, ebenfalls hoffend, daß sie nicht schlechter wird dadurch, daß ihre Resistenzkraft ge­genüber dem Bescheidwissen nicht verblaßt. Entgegen einer verbreiteten Auffassung glaube ich, daß eine solche Re­formulierung möglich ist[60] – und zwar dann, wenn man einen von Adorno und Benjamin selbst nahe­ge­legten Explikationsschritt vornimmt: den der Semiotik.[61] Über ihn lassen sich theoretische In­stru­men­ta­rien anschließen, die sowohl das sprachanalytische wie das (post-)strukturalistische Potential des lin­guistic turn nutzbar machen. Die regulative Bedeutung Adornos für die Zusammenführung beider Posi­tionen wird in der Diskus­sion um die Wissenskonzepte der Moderne und Postmoderne zunehmend sicht­bar.[62] Sie kann auch ohne die subjektphilosophischen Implikationen des Konstellations­verfahrens einge­bracht werden, wenn man den Wechselbezug von Kommentar und Kritik als hermeneutischen Per­spekti­ven­wechsel begreift und seine Erweiterungen, diskurstheoretische Rekonstruktion und dis­kurskriti­sche De­konstruktion, dialogisch miteinander konfrontiert – wobei der monologische Wahrheitsanspruch Adornos allerdings zu relativieren ist.

Ziel des theoretischen Teils dieser Arbeit ist die Durchführung des hier skizzier­ten Programms. Sie soll die terminologischen Voraussetzungen liefern für die Materi­alstudien des zweiten Teils, die sich den Naturbildern in Goethes Faust widmen. Sie stehen in einem mehr als nur exempla­ri­schen Bezug zu den erörterten Theorie­problemen. Denn der naturgeschichtliche Ansatz hat, wie oben erwähnt, die Faust­for­schung nachhaltig beeinflußt. Dieser Einfluß kommt nicht von außen. Adornos und Benjamins ideolo­giekritischer Versuch, die Dialektik von Natur und Geschichte im Medium des Formgegensatzes von Symbol und Allegorie zu objektivieren, steht in einem expliziten Spannungsverhältnis zur Ästhetik Goe­thes[63]; er greift Probleme auf, die hier ihren Ursprung haben. Eine Reformulierung der ästhetischen Ter­minologie Adornos bedeutet also zugleich eine Klärung der historischen Vorausset­zun­gen, über das Na­turbild Goethes zu sprechen. Ohne diese Zwischenblende würden die zivilisa­tionskri­ti­schen Blicke vom Ende auf den Anfang – sich zu Recht den Vorwurf zuziehen, der auf jener Tagung mit tosendem Beifall bedacht wurde: Goe­the sei zu schade für die Germanistik. Zu Recht, weil dem populären Bedürfnis nach einer af­firmativen In­anspruchnahme des Goetheschen Naturbildes als Alternative zur herrschenden Na­turwissen­schaft mit phi­lologischen Mitteln allein nicht begegnet werden kann. Nur eine zur Rationali­tätskritik er­weiterte Litera­turwissenschaft, die Adornos Anliegen einer physiognomischen Naturästhetik weiterführt, kann zeigen, worin die Aktualität Goethes tatsächlich besteht. „Goethes Erbe“, schreibt Hartmut Böhme, „ist nicht der Mythos, die Alchemie, die Signaturenlehre, die Naturfrömmigkeit, son­dern daß er diese in Kunst trans­formiert. Kunst allein und ästhetische Erfahrung sind für ihn die mögli­chen Orte, an denen nichtideolo­gisch die Idee einer erlösten Natur aufscheint, wenn auch nur negativ.“[64]

Die Sachgehalte dieses Negationsverhältnisses müssen, wenn man Adornos Termi­nologie linguistisch reformuliert, nicht aus geschichtsphilosophischen Spekulationen gewonnen werden. Ihre Kom­men­tierung kann sich dann nämlich auf empirisch-dis­kursanalytische Untersuchungen stützen, die die Ge­schichtlichkeit des Naturbegriffs in theoretische, praktische und ästhetische Aspekte auszudifferenzie­ren er­lauben.[65] Unter den wissenschaftshistorischen Arbeiten zum Verhältnis von Natur und Geschichte in der Goethezeit ist neben Wolf und Dietrich von Engelhardt[66] insbeson­dere Wolf Lepenies hervorzuhe­ben, der die Epoche als Das Ende der Naturgeschichte beschreibt: „Der Niedergang der Chronologie und die Abkehr von naturalen Zeitvor­stellungen kennzeichnen auch in der Wissenschaftsgeschichte den Übergang zur Mo­derne, d. h. den Erwerb historischer, im engeren Sinne entwicklungsgeschichtlicher Denkweisen. Foucault datiert diesen Übergang auf den Zeitraum von 1775 bis 1825; ähnlich verfahren die Historiker verschiede­ner Einzeldisziplinen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts zeichnet sich jedenfalls ein neues Verständnis der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Entwicklung ab. Bereits in den zwanziger Jahren des 19. Jahr­hun­derts sieht es so aus, als ob sich die historische Betrachtungsweise in den Wissenschaf­ten durchgesetzt hat.“[67] Diesem Prozeß gilt das pathognostische Interesse des Post­histoire, das in der restlosen Historisierung der Natur zugleich den Verlust einer sub­stantiell gehaltvollen Geschichte erkennt. Und es dürfte kein Werk geben, das dem Desi­derat einer na­turästhetischen Diagnose dieses Pro­zesses mehr entgegenkommt als Goethes Faust. Drei Gründe möchte ich hierfür nennen: die Entstehungs­geschichte des Dramas, seine Thematik und seine Re­zepti­onsgeschichte.

Die Entstehungsgeschichte korreliert auf allen Stufen mit dem Ende der Na­turge­schichte. Im Geburtsjahr des Faust-Dichters erscheint der erste Teil von Buffons Histoire Naturelle. „Die Bände folgten jahrweise, und so begleitete das Interesse einer gebildeten Gesellschaft mein Wachs­tum“[68], schreibt Goethe. Und zwar begleitete sie es sein Wachstum als dem eines „Kollektivwesens“[69], wie der Naturforscher, Politiker und Dichter sich selbst nannte. Das dokumentiert sich panoramatisch in der sechzigjäh­rigen Werkgenese seines „Hauptgeschäfts“[70]. Denn die offene Konzeption des Dramas gestattete es ihm, auch die abgestreiften „Häute“[71] darin zu integrieren. Doch erst zu Beginn dieses Jahrhunderts, mit der Überwindung der reziproken Blickverengungen werkim­ma­nenter „Stoffhuberei“ und spekulativer „Sinnhuberei“[72] – die in der Scherer- und Diltheyschule ihre unter­schiedlichen Ausprägungen gefunden hatten, wurde die Bedeutung der Goethe­schen Naturforschun­gen für das Verständnis des Werks erkannt.[73] Seither gibt es zwar zahlreiche Arbei­ten, die diesen Korre­spondenzen nach­gehen. Sie führen aber meist, wie Mandelkow feststellt, „zu einer harmoni­stischen Aus­blendung der Brüche, Dissonanzen und Widersprüche“[74] des Dramas, die dem dichterischen Gehalt nicht gerecht wird. Daher existiert für die Faust-Deutung nach wie vor das oben thematisierte Desiderat, den Wechselwirkun­gen von naturwissen­schaftlichen und ästhetischen Prozessen im Rahmen von Formkate­gorien nachzuge­hen, die es gestatten, beide konterkarierend zueinander in Be­ziehung zu setzen.

Die Thematik des Werks spiegelt die Grundantinomie des bürgerlichen Naturver­hältnisses, das vitale Verlangen nach unreglementiertem Naturgenuß und die geschichtliche Notwendigkeit von Naturbeherr­schung. Fausts tragischer Konflikt ist die Kollision zwischen beiden Tendenzen. Wie ein literarisches Ex­periment möglicher Verarbeitungen dieses Konflikts durchläuft das Naturbild des Dramas einen Bo­gen von der emphatischen Naturalisierung der Geschichte in der Erdgeistbeschwörung bis zur positivisti­schen Hi­storisierung der Natur in der Herrschervision des Schlußmono­logs. Goethes Faust präsentiert sich somit als das Drama des Endes der Naturge­schichte. Aber es ist ein Drama, keine Dokumentation. Das heißt: In der ästhetischen Subversion der diskursiven Horizonte jenes wissenschaftsgeschichtlichen Prozesses liegt sein Gehalt. Diese Tatsache kommt noch in den neuesten Faustkommentaren zu kurz.[75] So wird die Chance vertan, mit den Mitteln der Dichtungsinterpretation subti­leren Alternativen zur naturbeherrschenden Vernunft nachzuspüren, als sie einem „alternativen“ Denken in den Sinn kommen, das seine Heilsbotschaften aus einem bequemen Naturalismus herleitet.

In seiner Rezeptionsgeschichte schließlich entfaltet Goethes Drama seine einzigartige Wirkungs­po­ten­tialität. Es gibt kaum eine philosophische Strömung, kaum eine politi­sche Position, die sich nicht schon „mit Fäusten geschlagen“[76] hätte – neuerdings, wie oben schon angedeutet, verstärkt im Hinblick auf Fra­gen der Umweltzerstörung.[77]  Daß auch für die Faustrezeption die tragende Achse das Verhältnis von Natur und Geschichte ist, hat Karl Robert Mandelkow unlängst rekonstruiert. Mit ihm bin ich der Ansicht, daß die „unterschiedliche Akzentuierung dieses zentralen Problems Auf­schluß geben kann über historische Bedingungen und ideo­logisch-politische Voraus­setzungen von Deutungsmöglichkeiten im Umgang mit Goethe“[78]. Mit meiner Arbeit möchte ich unter anderem dazu beitragen, das ausufernde Material der Faustrezeption diesbezüg­lich zu strukturieren und einer Beurteilung im Lichte gegenwärtiger Aneig­nungsinteressen zuzuführen. Nur im Durchgang durch die überlieferten Lesarten der Naturbilder im Faust, die als Aus­druck je spezifischer Stellungnahmen zum Geschichtslauf zu verstehen sind, gewinnt die ästheti­sche Kri­tik ihren Problematisie­rungshorizont; nur dann entgeht sie der tautologischen Vereinnahmung des Dich­ter­worts durch den Zeitgeist, wie sie auch und gerade die vermeintlich „immanente“ Interpreta­tion von Scherer bis Schadewaldt praktizierte und die auch heute wieder zu beobachten ist.[79]

Damit sind die Gründe benannt, die Goethes Faust für eine physiognomische Deutung des Endes der Naturgeschichte prädestinieren – als Innervierung der gegebe­nen Begriffshorizonte und zugleich als de­ren Transzendierung durch den ästhetischen Ausdruck. Ich werde Naturbilder der vier Entstehungsphasen des Dramas auf jeweils drei Interpretationsebenen zu charakterisieren suchen, indem ich sie philologisch kommentiere, rezeptionsgeschichtlich problematisiere und schließlich ästhetisch kriti­siere. Dabei kann ich mich zwar in vielen Einzelfragen auf eine reichhaltige Sekundär­literatur stützen. Doch für eine Interpretation auf zeichentheoretischer Explikations­folie gibt es kaum Vor­arbeiten inner­halb der Faustforschung.[80] Hier war Neuland zu betreten.

Das Leitmotiv meiner Arbeit ist der Ausgang des folgenden Dialogs zwischen Jarno und Wilhelm Meister: „‚Wenn ich nun aber‘, versetzte jener, ‚eben diese Spalten und Risse als Buchstaben behandelte, sie zu entziffern suchte, sie zu Worten bildete und sie fertig zu lesen lernte, hättest du etwas dagegen?‘ – ‚Nein, aber es scheint mir ein weit­läufiges Alphabet.‘ – ‚Enger, als du denkst; man muß es nur kennen lernen wie ein anderes auch. Die Natur hat nur eine Schrift, und ich brauche mich nicht mit so vielen Kritzeleien her­umzuschleppen. Hier darf ich nicht fürchten, wie wohl geschieht, wenn ich mich lange und liebevoll mit einem Pergament abgegeben habe, daß ein scharfer Kritikus kommt und mir versichert, das alles sei nur untergeschoben.‘ – Lächelnd versetzte der Freund: ‚Und doch wird man auch hier deine Lesar­ten strei­tig machen.‘“[81]

Im Interesse der „einen Schrift“ ästhetischer Natur ihre vielfältigen „Lesarten streitig machen“ – dazu möchte ich mit dem Folgenden beitragen.

 



[1]  Benjamin (1983), Bd. I, S. 112. [Zur Zitierweise s. die Vorbemerkung im Literatur­verzeichnis.]

[2]  Man denke etwa an die Bemerkung Heines aus der Romantischen Schule, das Drama prophezeie eine deutsche Revo­lution [Heine (1835), S. 402]. Oder man denke an die Bedeutung, die das „Faustische“ für die deutsche Ideolo­gie von der Reichsgründung „bis in die Schützengräben des Ersten Weltkrieges, bis in die na­tionalen Manifeste der Weimarer Zeit und noch in die des Nationalsozialismus“ [Schwerte (1962), S. 148] hinein gehabt hat. Man denke schließlich an die Warnungen vor dieser Ideologie, die z. B. Kon­rad Burdach oder Wilhelm Böhm lange vor dem Zweiten Weltkrieg – freilich ungehört – aus dem Stück herausla­sen [vgl. ebd., S. 235ff.].

[3]  Nach Sucher (1987), S. 32.

[4]  Jonas (1987), S. 11.

[5]  Was ich hier nur als Behauptung aufstelle, ist im IV. Kapitel des Zweiten Teils ausführli­cher be­han­delt. Es spricht jedoch für sich, daß Fausts Perspektive, „umrungen von Gefahr“ (V.11577) zu sein, von der Jonas sich abgrenzt, in dessen eigener Diktion wiederkehrt: das „Prinzip Verantwortung“ defi­niert sich als „Aufgabe der Abwendung“ [Jonas (1987), S. 11] von Risiken. Zwar haben sich „die Fronten ver­kehrt“; die Konfrontationslogik aber ist dieselbe.

[6]  Dies ist die häufig generalisierend wiederholte These von Joachim Ritter, der, von Petrarca ausge­hend, am künst­lerischen Naturbild die kompensatorische Funktion hervorhebt, das verlorene „Naturganze und den ‚harmonischen Einklang im Kosmos‘ zu vermitteln und ästhetisch für den Men­schen gegenwärtig zu halten“ [Ritter, J. (1963), S. 153]. Er übergeht aber dabei die Tatsache, daß dieses Kom­pensationsbedürfnis selbst schon die Spuren seiner Defizi­enz trägt [vgl. zu den Paradoxien des Tra­ditionalismus bei Ritter: Habermas (1985), S. 91], was auch in der Renais­sance bereits ästhetisch zum Ausdruck kommt. [Vgl. Brede­kamp (1984) und die Anmerkungen dazu von Böhme, H. (1986), S. 261f.]

[7]  Schelling (1800), S. 696.

[8]  Adorno (1970), S. 114.

[9]  Zimmermann, J. (1982b), S. 118.

[10]Ebd., S. 148, Anm. 3.

[11]Grimm/Hermand (1981), S. VII.

[12]Das Kapitel Ansätze einer Kunstphilosophie im Rahmen grüner Politik in Maren-Grisebach (1982), S. 126–134 soll dabei nicht unterschlagen werden; es entzieht sich aber mit seinem Plädoyer für die Abschaffung ästhetischer Exper­tenkulturen just den Fragestellungen, deren Beantwortung ästhetisches Expertenwissen verlangt.

[13]Eine Ausnahme bildet hier Schönherr (1989).

[14]Seel (1991 ), S. 10.

[15]Bislang gibt es hierzu erst Vorstudien Vgl. Böhme, G. (1989a), G. (1989b), Böhme, H. (1991), Böhme, G. (1991), Böhme, G. (1992).

[16]Er schreibt: „Eigentlich ist es nur eine Begriff, der einer vorbereitenden Klärung bedarf – der Begriff der  ästheti­schen Natur.“ [Seel (1991), S. 33] Die angekündigte Klärung erschöpft sich dann freilich in der Tautologie, ästhetische Natur sei „eine Abkürzung für ‚ästhetisch wahrgenommene Natur‘“ [ebd.], die sodann in drei Wahrnehmungsweisen aufgeteilt wird: die „imaginative“, die „korrespondierende“ und die „kontemplative“ [ebd., S. 34]. Die ästhetische Natur wird somit von vornherein dem Subjekt zugeschla­gen, das überdies weder in seiner historisch-sozialen noch sprachlichen Konstituiertheit hinterfragt wird.

[17]Vgl. Kant (1790), S. 231.

[18]Vgl. Böhme, G. (1989), S. 44ff., der mit seiner Kritik am „Intellektualismus der bürgerlichen Ästhe­tik“ [ebd., S. 93] nicht allein steht: Vgl. Lyotards „Energetik“ [Lyotard (1978), S. 104], die Adorno vor­wirft, noch immer an einer „Passion des Sinns“ festzuhalten [Lyotard (1974-84) S. 75]; vgl. Bourdieu, der eben­falls in Abgrenzung zur kanti­schen Ästhetik fordert, daß „noch der raffinierteste Geschmack für erlesene Ob­jekte wieder mit dem elementaren Schmecken von Zunge und Gaumen verknüpft wird“ [Bourdieu (1979), S. 17; vgl. ebd., S. 81ff.].

[19]Böhme, G. (1989), S. 45 u. 54.

[20]Kant (1790), S. 362 u. 360.

[21]Vgl. Hegel (1835-38), Bd. 1, S. 498f.

[22]„Baudelaires Absage an die ‚natürliche Natur‘, die er gelegentlich als Haß auf alles wachsende und grüne Leben sti­lisieren konnte, bekundet“, wie Jauß hervorhebt, „noch in der Polemik die Melancholie des unwi­derbringlich ver­lore­nen natürlichen Weltverständnisses.“ [Jauß (1982), S. 178]

[23]Hamm: Die Natur hat uns vergessen. Clov: Es gibt keine Natur mehr. Hamm: Keine Natur mehr! Du über­treibst. Clov: Ringsherum. Hamm: Wir atmen doch, wir verändern uns! Wir verlieren unsere Haare, un­sere Zähne! Unsere Frische! Unsere Ideale! Clov: Dann hat sie uns nicht vergessen.“ [Beckett (1957), S. 23]

[24]Adorno (1970), S. 113.

[25]Zimmermann, J. (1982b), S. 118.

[26]Foucault (1966), S. 48.

[27]Böhme, G. (1989), S. 53.

[28]Ebd., S. 154.

[29]Vgl. auch Habermas’ Kritik an der Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Lite­ratur bei Der­rida [Habermas (1985), S. 219-247].

[30]Vgl. Böhme, G. (1989), S. 56ff.

[31]Dies scheint mir die Gefahr zu sein, in die Gernot Böhme mit seiner Forderung gerät, „die Ästhetik zu einem Teil der Ökologie zu machen“ [ebd., S. 50]. Vgl. K. M. Meyer-Abichs „Erkenntnis­leitende Gefühle“ [(1988), S. 126-134]. Dagegen betont Hartmut Böhme ausdrücklich die spezifisch künst­leri­sche Qualität, z. B. der Natur­äs­thetik Goethes, in Negation zu ihren diskursiven Sachgehalten [vgl. Böhme, H. (1986) und (1988a)]. Auf die Pro­blematik einer öko­logischen Naturästhetik komme ich in den Katharsis-Ab­schnitten des I. u. III. Kapitel des Zweiten Teils zurück.

[32]Zimmermann, J. (1982b), S. 147.

[33]Adorno (1970), S. 272 [Hv. P.M.].

[34]Vgl. Bubner (1980).

[35]„Die Ästhetik (als Theorie der freien Künste, als Logik der unteren Erkenntnisvermögen, als Kunst des schönen Denkens und als Kunst des intuitiven, dem rationalen Denken analogen Erkennens) ist die Wissen­schaft der sinnli­chen Erkenntnis.“ [Baumgarten (1750/58), § 1]

[36]Erstmals wird sie formuliert in Adorno (1933), S. 370. Vgl. Adorno (1970), S. 197.

[37]Adorno (1970), S. 113.

[38]Diese findet sich nicht nur in der klassische Widerspiegelungstheorie, sondern auch dort, wo man z. B. der Natur­lyrik nur noch einen „dokumentartischen Wert“ für die Gesellschaftstheorie zutraut [Mecklenburg (1977b), S. 19] oder ihre Wirkung darin sieht, daß sie die naturwissenschaftliche „Bewußtseinsbildung … vorantreibt“ [Richter, K. (1972), S. 42]. Der spezifische Eigensinn ästheti­scher Formen wird durch solche Dienstbarmachung um eben die Potentiale verkürzt, die über den Diskurs­horizont der Gesellschaftstheorie oder der Naturwissenschaft hinausragen.

[39]Vgl. Benjamins These von der Verwandtschaft des künstlerischen Rätselcharakters mit dem Ideal des phi­loso­phi­schen Problems [Benjamin (1924), S. 172].

[40]S. Erster Teil, Kap. I.

[41]Emrich (1943).

[42]Schlaffer (1981).

[43]Emrich selbst bestätigt dies – allerdings erst in einer späteren Veröffentlichung [vgl. Emrich (1981), S. 7]. „Es wäre höchst aufschlußreich“, schreibt Mandelkow deshalb, „diese geschichts- und kunsttheore­tische Konstruktion mit ähn­lichen Ansätzen bei Benjamin und beim frühen Adorno zu vergleichen, die nach dem Zeugnis Emrichs einen so umwälzenden Einfluß auf den jungen Wissenschaftler gehabt haben.“ [Mandelkow (1989), S. 114] Daß Emrichs Faustbuch zugleich „grundsatztheoretische Probleme wie die Frage nach dem Verhältnis von Ästhetik und Ge­schichte und nach den Aufgaben und Möglich­keiten von Dichtungsinterpreta­tion überhaupt“ [Mandelkow (1989), S. 108] aufwirft, ist m. E. selbst schon ein Beleg für die Horizonter­weiterung, die durch Benjamins und Adornos na­tur­geschichtliche Auslegung der ästhetischen Terminologie ermöglicht wird.

[44]Emrich (1943), S. 347.

[45]Schlaffer (1981), S. 157.

[46]Bürger, P. (1989), S. 90.

[47]So die Feststellung von Andreas Kilb (1987), S. 99.

[48]Habermas (1981), Bd. I, S. 489.

[49]Lehmann (1979), S. 669.

[50]S. Erster Teil, Kap. II. B.

[51]Vgl. Habermas (1981), Bd. II, S. 585.

[52]Foucault (1969), S. 13.

[53]Derrida (1974), S. 99.

[54]Für den einen bezeichnet er eine irrationale „Selbstverdoppelung“ [Derrida (1972b), S. 217], für den anderen einen rationalen „Akt der Rollenübernahme“ [Habermas (1981), Bd. I, S. 523].

[55]Natürlich sind das didaktische Vereinfachungen. So beansprucht etwa der generative Strukturalismus Bourdieus durchaus, Systematisierungsfragen zu lösen, indem er mit seiner Soziologie der symbolischen Formen [Bourdieu (1970)] „isomorphe Strukturen … quer durch verschiedene Diskursuniversa (zum Beispiel wissenschaftliche und poetische)“ [Hahn (1986), S. 605] verfolgt. Gerade Bourdieus Beispiel aber verdeut­licht auch das oben angespro­chene Problem, daß die konzeptionelle Kompetenz seiner Korrespondenzanaly­sen unreflektiert bleibt, letztlich an die Computerstati­stik ab­getreten wird [vgl. Bourdieu (1979), S. 405, Anm. 2].

[56]Barck/Fontius/Thierse (1987), S. 2.

[57]Adorno (1970), S. 544.

[58]Vgl. Gotzmann (1987).

[59]Marquard (1987), S. 13.

[60]So beruht z. B. Zimmermanns Behauptung der Unvereinbarkeit einer sprachanalytischen Ästhetik mit der Ästhe­ti­schen Theorie Adornos [vgl. Zimmermann, J. (1980), S. 96f.] m. E. auf einer doppelten Verkürzung: Zum einen klammert sie unsinnigerweise just solche Ansätze aus, an denen der Universali­enanspruch der Sprachanalyse, die Bedeutung sprachlicher Äußerungen aus ihrem Gebrauch herleiten zu können, seine nichttriviale Bewährungsprobe hätte; zum anderen ignoriert sie die Tatsache, daß Adorno von vornherein einen solchen Universalienanspruch erho­ben hatte („Alle philosophische Kritik ist heute möglich als Sprachkritik.“ [Adorno (1933), S. 370]) Anstatt also die Unter­schiedlichkeit der Sprachkon­zepte – die zwei­fellos gegeben ist – als Unvereinbarkeit festzuschreiben, geht es mir um die Frage, wie sie sich im Sinne einer wechselseitigen Korrektur fruchtbar machen ließe.

[61]Benjamin behandelt ausdrücklich die naturgeschichtliche Lesart von Symbol und Allegorie als ein „Gebiet der Semiotik“ [Benjamin (1925), S. 342]. Und für Adorno spricht Kunst „nach dem Mo­dell einer nicht be­grifflichen, nicht dingfest signifikativen Sprache; es wäre die gleiche, die in dem ver­zeichnet ist, was dem sentimen­talischen Zeit­alter mit einer verschlissenen und schönen Metapher Buch der Natur hieß“ [Adorno (1970), S. 105]. Indem ich die semiologische Explizierbarkeit beider Autoren aufzeige, trete ich zugleich dem Vorurteil entgegen, mit der semioti­schen Terminologie werde das Äs­thetische auf „Signalerkennung“ reduziert [Böhme, G. (1989), S. 33]. Was auf die informationstheoretische Ästhetik von Bense (1954-60) und – schon weniger – auf die Ikonologie von Panofsky (1932/64;1939/55) zutref­fen mag, zeigt im Hinblick auf Adorno, daß es der Gebrauch dieser Terminologie ist, der zur Disposition steht, nicht ihr Potential.

[62]Vgl. Wellmer (1984), Lehmann (1984), Früchtl (1985), Brunkhorst (1990), Menke (1992).

[63]Vgl. Benjamin (1925), S. 336ff. Im selben Jahr, in dem Adorno seinen programmatischen Vortrag Die Idee der Naturgeschichte hielt, erneuert Weinhandl die kanonische Maxime: „Der Gegensatz von Symbol und Allegorie ist der Schlüssel zur Goetheschen Lebensdeutung in ihrem umfassenden Sinn.“ [Weinhandl (1932), S. 267]

[64]Böhme, H. (1986), S. 272.

[65]Gedö (1986) unterscheidet Drei Aspekte der Geschichtlichkeit des Naturbegriffs: erstens die objektive, äußere Natur, zweitens die soziale, gestaltete Natur, drittens die subjektive, innere Natur [vgl. Habermas (1985), S. 396].

[66]Vgl. Engelhardt, D. v. (1979), Engelhardt, W. v. (1982).

[67]Lepenies (1976), S. 16. Vgl. das Kapitel Naturgeschichte in Foucault (1966), S.168-173.

[68]Goethe (1830/32), S. 229.

[69]Soret (1905), S. 146; Gespräch v. 17.2.1832.

[70]Goethe (1887-1919), Bd. 3, S. 404; Tagebucheintrag v. 18.5.1827.

[71]Goethe (1962-67), Bd. 1, S. 370; Brief v. 9.10.1781 an Charlotte v. Stein.

[72]Vgl. Vischer der in seiner Faust-Parodie eine „Gesellschaft der an Goethes Faust sich zu tot erklärt ha­bender Erklä­rer“ auftreten läßt, „bestehend aus Präsident Denkerke, drei Stoffhubern mit Namen Scharrer, Karrer, Brösamle, drei Sinnhubern mit Namen Deuterke, Grübelwitz, Hascherl“ [Vischer (1861), S. 135].

[73]Das beginnt mit der Arbeit von Wilhelm Hertz (1913); vgl. Mandelkow (1975), S. LXI.

[74]Mandelkow (1987), S. 94.

[75]Gaiers Urfaust-Kommentar kehrt gar die Theoriegeschichte gegen das Drama, indem er die alchemi­stische Tradi­tion zur Norm erhebt und stereotyp befindet: „Faust verhält sich … wieder falsch.“ [Gaier (1989), S. 318; vgl. Zweiter Teil, Kap. I. B. 7.]

[76]Achim von Arnim in seinem Vorwort zur 1818 erschienenen deutschen Nachdichtung von Marlowes Faust; zit. nach Mayer (1961), S. 8.

[77]Vgl. auch Christa Wolf (1980), S. 320f., Chargaff (1984), Muschg (1985), Koslowski (1988).

[78]Vgl. Mandelkow (1987), S. 69.

[79]Denn zweifellos war auch Scherers Programm einer positivistischen Goethe-Philolo­gie [Scherer (1877)] weltan­schaulich geprägt – als Ausdruck der spekulationsfeindlichen Wissenschaftspolitik im Kai­serreich; ebenso wie Scha­de­waldts Maxime einer „Interpretation Goethes aus Goethe“ [Schadewaldt (1946/49), S. 280] Aus­druck der Ver­drän­gungsbedürfnisse in der Restaurationsepoche war. Wenn heute wieder die „Entdeckung“ angepriesen wird, daß sich in Goethes Dichtungen „naturgemäße Gesetze“ spiegeln [Hohoff (1989), Klappentext], dann deutet das auf einen ähn­lich unkritischen Eskapismus hin.

[80]Auch die semiologischen Ansätze von Jens Kruse (1982) [vgl. die Rezension von Berghahn (1986)] und Friedrich Kitt­ler (1985) lassen dies­bezüglich zu wünschen übrig. Denn beide verzichten nicht nur darauf, ihre Termi­nologie aus­zuweisen, sondern unternehmen gar nicht erst den Versuch, sie mit der Begriffstradition – und damit der Ge­schichte der Faustdeutung – zu vermitteln.

[81]Goethe (1821/1829), S. 34.