Peter Matussek

HighText

 


Erschienen in: MACup 5 (1988), S. 18–20.

 

     
 

"Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken", hämmerte Nietzsche in seine Schreibmaschine. In der Tat: der Erwerb des neuen Geräts, das damals nur über schwarze Kanäle zu haben war, animierte den Philosophen zu geistigen Höhenflügen. Vor Kurzsichtigkeit nahezu erblindet, genoß er begeistert den augenfreundlichen Schreibkomfort. Und man merkt es seinen Texten an. Sie sind fortan leichter, ungezwungener. "Woher haben Sie auf einmal diesen Geschmack in der Bilderrede?" fragt der Freund Peter Gast den Altphilologen, der sich zum Aphoristiker wandelte.

Die Ablösung der Handschrift durchs Typoscript grenzte für Nietzsches Zeitgenossen an Magie. "Die Schreibmaschine", berichtet ein erstaunter Augenzeuge, "erzeugt durch einen einzigen kurzen Fingerdruck auf eine Taste gleich den ganzen fertigen Buchstaben an der richtigen Stelle des Papiers, das von der Hand des Schreibers nicht nur nicht berührt, sondern von dieser entfernt an einem ganz anderen Ort sich befindet als da, wo die Hände arbeiten."

Weit größere Wunder vollbringt das elektronische Schreibzeug von heute. Wie arbeitet es mit an unseren Gedanken?

Deutsche Literaten sind hinsichtlich dieser Frage in zwei Lager gespalten. "Der ganze Krempel bringt doch nichts außer Verflachung", schimpft Lothar-Günther Buchheim. "Den Teufel" sieht er in der neuen Schreibtechnik. Ob er sie schon einmal ausprobiert hat? "Um Gottes willen, nein!" Wozu auch. "Meine Frau dechiffriert meine Texte."

Über eine entsprechende Ausrüstung verfügen Schriftstellerinnn in der Regel nicht. Viele von ihnen hatten es also sicher schon geme einmal mit dem Teufel versucht, aber er zeigte sich ihnen in garstiger Gestalt. "lch bin nicht aus Koketterie technisch unbegabt, sondern wirklich", schwört Eva Demski. "Außerdem finde ich das Grün der Buchstaben so verwesungsartig."

Mac-Writer wissen anderes zu berichten. Ob sie von vornherein auf ihn setzten, wie Wolf Biermann (vergleiche MACup 10/86), oder erst kürzlich umgestiegen sind, wie Wolfgang Menge - im "Computer for the rest of us" sehen sie den hilfreichen Assistenten, dem sie ohne technische Vorkenntnisse ihre Gedanken anvertrauen können. Friedrich Christian Delius hebt neben der einfachen Bedienung das poesiegerechte Schwarz auf Weiß des hochauflösenden Bildschirms hervor. Beeinflußt die Textverarbeitung seinen Stil'? "Ja, der Wortprozessor stimuliert. Weil der Vorgang des Tippens schneller geht, fliegen die Gedanken in anderen Rhythmen auf den Bildschirm/auf Papier. Anfangs hatte ich die Befürchtung, ich könnte mich zu schnell mit dem erschreckend sauber Geschriebenen zufriedengeben. Aber das Mißtrauen gegen den immer druckreif scheinenden Text fördert aufs Schönste die Leidenschaft des Anderns und Besserns."

Angetan sind computerisierte Schriftsteller insbesondere von der unendlichen Korrektur-Geduld der elektronischen Speicherung, die die sprichwörtliche des Papiers Lügen straft. "Eine gigantische Arbeitserleichterung", sagt Karl Hoche. Darüber hinaus unterstützt der lautlose Komfort des sanften Tastendrucks im Gegensatz zum Gehämmer der Schreibmaschine die Konzentration der Wortkünstler. Der eigentümlich schwebende Charakter der entmaterialisierten Schrift beflügelt manchen Lyriker.

Daß High-Tech-Schreibzeuge zugleich Denkzeuge sein wollen, verkünden Outline-Programme mit ihrem Beinamen "Ideenprozessoren". Dabei ist das Prinzip, mit dem zum Beispiel More (vergleiche MACup 8/86) die Konzeption von Texten unterstützt, höchster Goethescher Weihen würdig: "Die Teile", schreibt der Zunftmeister über seine Arbeit am ,Faust', "sind in abgesonderten Lagen nach den Nummern eines ausführlichen Schemas hinteleinandergelegt. Nun kann ich jeden Augenblick der Stimmung nutzen, um einzelne Teile weiter auszuführen und das ganze früher oder später zusammenzustellen."

Dieser vorelektronische Prototyp der literarischen Konzeptionstechnik hat inzwischen manche Verbesserung erfahren. "Writing by Design" verspricht der jüngste Ideenprozessor, entwickelt an der Universität von Santa Barbara in Kalifornien. Das Programm unterstützt sowohl den freien Gedankenfluß wie das Erkennen struktureller Bezüge. Autoren können mit ihm die Ergebnisse ihrer Brainstorms zu Analysebäumen arrangieren, bis sie den stimmigsten Aufbau gefunden haben.

Auch Microsofts Word bietet neuerdings eine Outline-Funktion, die sinnvoll mit der Textverarbeitung kooperiert. Buchstäblich metaphysischen Gebrauch von ihr macht der Schriftsteller Gundolf Freyermuth. Er deklariert seine Gliederungstitel zum Zweck des eigenen Lesartenwechsels als "verdeckt". So unterbrechen sie nicht wie bei herkömmlichen Outline-Programmen ­ den Textzusammenhang, können aber für Strukturierungsarbeiten jederzeit aktiviert werden.

Freyermuth sieht in der soften Schreib-Ware mehr als nur eine Arbeitserleichterung. Nicht ohne Häme diagnostiziert der Literaturwissenschaftler im Nebenberuf das Ende einer Ära. "Die antiquierte Philologie, die sich aus den Manuskriptabfällen der Dichter speiste, wird endgültig in ihre Schranken verwiesen."

Statt des musealen Sammelns ohne Sinn und Verstand müsse sie nun, mangels Materials, mit den eigenen Ideen wuchern. Beobachter der Szene sagen denn auch eine Hochkonjunktur der literarischen Kreativität voraus. Peter Glaser prophezeit gar den Anbruch einer neuen Genie-Bewegung.

Nun macht freilich das beste Programm aus einem Gipskopf keinen Goethe. Doch es kann schlummernde geistige Potentiale wecken, ja literarische Utopien wirklich werden lassen.

Zum Beispiel die des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges. Der beschreibt in seiner Erzählung "Der Garten der Pfade, die sich verzweigen" ein episch-enzyklopädisches Labyrinth, das nicht nur im Raum verzweigt ist, sondern auch in der Zeit. Während nach dem Muster herkömmlicher Dichtungen der Protagonist sich für eine von verschiedenen Möglichkeiten entscheidet, stehen ihm hier gleichzeitig alle offen. "Fang (sagen wir) hütet ein Geheimnis, ein Unbekannter klopft an seine Türe: Fang beschließt ihn zu töten. Natürlich gibt es verschiedene Lösungen. Fang kann den Eindringling töten, der Eindringling kann Fang töten; beide können davonkommen, beide können sterben usw. Im Werk von Ts'ui Pên kommen sämtliche Lösungen vor; jede einzelne ist der Ausgangspunkt neuer Verzweigungen..."

Diese Idee, deren vereinfachte Ausführung das Abenteuerspiel ist, findet ihr kongeniales Medium in der formalen Struktur eines Hypertext-Dokuments. Sie gestattet vollkommen neue Manuskriptformen, bei denen sich jede Textpartie mit jeder anderen zu einem vieldimensionalelm Gewebe verknüpfen läßt. Die Phrase, "hier ist nicht der Ort, um ..." , gehört für Hyper-Texter der Vergangenheit an.

Die "Story-Space"-Struktur markiert den Beginn einer neuen literarischen Gattung: der "lnteractive Fiction", wie Jay Bolter von der Universität North Carolina sie nennt. Er ließ sich inspirieren von Borges' Erzählung und hat sie in eine Textur von 100 Episoden und 300 Knoten gebracht Vorbild und kreative Herausforderung für künftige Schreibexperimente, die mit althergebrachten Gewohnheiten brechen.

So ebnet der "Roman zum Mitmachen" die traditionelle Kluft zwischen Autor und Leser ein. Der Leser wird nicht mehr nur in seiner deutenden Phantasie, sondem leibhaftig zum mitgestaltenden Autor.

Umgekehrt wirkt die neue Aneignungsform zurück auf die Interpretation eines literarischen Werks. Wie befruchtend dies auch für den Umgang mit "klassischen" Texten sein kann, haben Unterrichtsversuche an der Brown University gezeigt. Die Schüler bekamen ein Gedicht zu lesen, das in eine Hypertext-Struktur eingebettet war. So konnten sie je nach Interesse auf biographische Angaben über den Autor und sein literarisches Umfeld, auf zeitgenössische Dokumente und Kommentare zugreifen. Vor allem aber konnten sie ihre eigenen Beobachtungen hinzufügen, die über einen Zentralrechner zugleich allen anderen Schülern zugänglich waren.

Das Gedicht stand für sie dadurch nicht mehr in einem raum- und zeitlosen Vakuum, sondern im Zentrum eines sich diskursiv erweiternden Verstehensprozesses, dem sie sich mit Eifer widmeten. Ganz unproblematisch ist die Ablösug herkömmlicher Lesarten indessen nicht. Das neue Legasthenie-Syndrom, um das sich Hypertexyt-Experten Sorgen machen, heißt "Lost in Hyperspace". Der in lineare Fortsetzungen und Gängelung durch den Autor gewöhnte Leser verirrt sich allzuleicht im Labyrinth der Lektüren. Einen Ariadnefaden versprechen sich neuere Projekte von einer stärker inhaltsbezogenen Verknüpfung, die mit Hilfe künstlicher Intelligenz ermöglicht werden soll.

Mehr Intelligenz wünscht auch der Schweizer Poet Jürg Laederach seinem Textverarbeitungssystem: "Es hilft bieder mit; aber nur zu deutlich macht sich bemerkbar, daß es Texte nicht lesen und nicht einmai ihrer Primitivstruktur und -aussage nach verstehen kann. Was wir Dichter brauchen, ist ein polyvalenteres Gebilde."

Brauchen sie in Zukunft gar einen "Elektrobarden" wie in der Science-fiction-Story von Stanislav Lem? Aber die Geschichte geht nicht gut aus: Sie handelt von einem sprachbegabten Computer, der ­ zunächst recht miserable Gedichte schreibt. Natürlich sind die Vertreter der Zunft voller Spott und Hohn über die primitiven Holperverse. Doch der Elektrobarde ist lernfähig. Er verfügt über eingebaute Ehrgeizverstärker und ruhmsuchende Stromkreise, die jede Kritik zum Anlaß für Verbesserungen nehmen. Bald übertrifft er auch die avantgardistischsten Elaborate seiner menschlichen Kollegen an symbolischer Tiefe und magischer Unausdeutbarkeit, so daß die nun arbeitslos Gewordenen keine Alternative sehen, als ihrer überflüssigen Existenz durch den Freitod ein Ende zu setzen. Als er die Gefahr erkennt (und seine hohe Stromrechnung sieht), greift der Konstrukteur des Elektrobarden zur Zange. Doch sein Werk fleht ihn in so vollendet lyrischen Schwanengesängen an, daß er den Mordplan nicht ausführen kann ...

Die Moral ist in Goethes Zauberlehrling nachzulesen. Statt den Dichtern das Denken abzunehmen, kann die künstliche Intelligenz es aber durchaus sinnvoll fördem. Zum Beispiel bei der inhaltlichen Analyse und stilgerechten Komposition von Texten. Das Darmstädter Institut für integrierte Publikations- und Informationssysteme arbeitet an einem entsprechenden Großprojekt mit dem ­ allerdings nicht gerade glücklich gewählten ­ Titel "Ghostwriter".

Daß die Technik den Geist nicht verkümmern lassen muß, sondern stimulieren kann, hat schon Nietzsches Schreibmaschinenerlebnis gezeigt. Leider währte des Philosophen-Tipp-Glück nicht lange. Die anfällige Mechanik hielt seinem Ideenreichtum nicht stand. Doch er sann sogleich auf besseren Ersatz: "Nun müssen mir meine Freunde noch eine Vorlesemaschine erfinden." Er war eben seiner Zeit voraus.