Peter Matussek

Wir Voyeure

 


Erschienen in: MACup 9 (1988), S. 3.

 

     
 

Der kleine Prinz bittet den Märchenkönig um die Hand seiner Tochter. "Wenn Du sie mir gibst, kriegst Du gaaanz viel Geld von mir."

"Nö", sagt der König.

"Zig-unendlich-massenhaft-hoch-zehn Goldstücke." Der König bleibt hart.

"Alle Schätze der Welt." Gelangweiltes Achselzucken.

"Ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte."

"Also gut, dann kannst 'se haben."

Nicht nur Kinder brauchen den Maßstab der Sinne, wenn es um die Einschätzung von quantitativen Größen geht. So sagt es uns nicht allzuviel, wenn wir hören, daß Plexiglasspeicher 100 Milliarden Bits pro Quadratzentimeter aufnehmen können. Beeindruckend aber ist die Vorstellung, daß auf wenige solcher Platten alle Bücher passen, die jemals auf Erden erschienen sind. Und an Wahlsonntagen reagieren wir nicht anders als der Märchenkönig: Soundsoviel Millionen Stimmen - uninteressant. Aber beim Anblick der Parlamentstorte, da gehen uns die Augen über.

Denn wir sind Voyeure. Der durch Vorstellungen unserer Phantasie verschleierte Blick durchs Schlüsselloch ist beredter als die nackte Welt der Tatsachen. Womit Computer, diese Digitalgenies, große Probleme haben: das Verstehen von Analogien, das ist uns in die Wiege gelegt. Unser Gehirn ist auf Bilder geeicht. Auch unsere Sprache beruht vornehmlich auf Metaphern (das waren schon wieder drei). Noch die scheinbar abstraktesten "Be-griffe" der Wissenschaft sind sinnlichen "Ur-sprungs". Das Wort "digital" etwa leitet sich von den Fingern her, an denen die alten Römer ihre Umsätze abzählten.

So prägen wir uns auch heute die graue Welt der Zahlen wesentlich besser ein, wenn wir sie in bildhafte Vorstellungen umsetzen: in Torten, Balken, Zackenlinien.

Im Geschäfstleben, wo bekanntlich die Verpackung den Preis bestimmt, sind solche Nummernshows besonders wichtig. Profitraten wachsen dynamischer, Projektplanungen wirken zuversichtlicher im Kostüm figürlicher Präsentation.

Paradoxerweise ist gerade die Technik, die das Prinzip der Zahlenabstraktion auf die Spitze treibt, der Computer, zugleich diejenige, die uns den verschütteten Zugang zur Sinnenwelt wieder eröffnet. Die Unkenrufe von der Binärcodierung unseres Geistes durch den "Rechner" sind hinfällig, seit der nicht mehr nur Rechner ist. Benutzernahe Schnittstellen lassen uns eher zum Gegenteil tendieren: zeigend und palavernd kommunizieren wir wieder wie unsere Vorfahren. Tastbildschirme machen demnächst auch die Maus noch entbehrlich und Biosensoren erschnuppern gar, was wir ihnen vorlegen.

"Hier hast Du einen Keks" tippte der entnervte Wissenschaftler nach stundenlangem Probieren in seine Tastatur - und endlich gab das Virus, das mit seinem ungewöhnlichen Begehren ein ganzes Rechenzentrum blockiert hatte, den Zugang wieder frei.

In Zukunft genügt ihm vielleicht erst eine original Schwarzwälder Kirschtorte aus einer ganz bestimmten Konditorei in Freiburg.