Peter Matussek

Ghostreader

 


Erschienen in: MACup 2 (1989), S. 3.

 

     
 

Walter Benjamin tat es mit sündigen Gefühlen. John F. Kennedy konnte es selbst beim Krawattenbinden nicht lassen. Gottfried Keller unterzog sich gar einem dreißigtägigen Marathon; - solange nämlich hatte ihm ein fahrender Händler die unerschwingliche Gesamtausgabe Goethes zur Ansicht überlassen.

Leseratten nennt man nicht umsonst jene Verdauungswunder der Schriftkultur, die sich durch ganze Bücherberge fressen und dabei nur noch hungriger werden. Instinktsicher erspüren ihre kurzsichtigen Augen alles, was lesbar ist. Und bei der weihnachtlichen Fütterung hört man sie ein ums andere Mal in hohen Tönen fiepen: "Ein Buch, wie schön!"

Schwerer trägt der Normalkonsument an der täglichen Kost aus Morgenpost und Bettlektüre, Goethe und Grass, FAZ und taz. Die Verdauung des Durchschnitts-Lesers leidet an der Überfülle. Weder die Diätangebote aus Reader's Digest noch Lesetrainings vermögen sie anzuregen. Bilderlose Betonspaltenartikel haben keine Chance mehr aufs Wahrgenommenwerden und Dokumente mit dem Titel "Read me first" wandern als erste in den Papierkorb.

Überdrußsymptome, die es nicht erst heute gibt. "Quis leget haec? - Wer soll das lesen?" fragte schon der antike Satiriker Lucilius angesichts der unzähligen Neuerscheinungen, die Jahr für Jahr den römischen Schriftrollenmarkt überschwemmten. Das Problem stellt sich verschärft im Zeitalter des elektronischen Publizierens. "Output ist out, Input ist in", lautet die neue Zeitgeistdevise. Aber wer soll es sich hineintun?

Klar, daß man irgendwann auf ihn verfallen würde. Wegen seiner Outputqualitäten hatte ihn das Time-Magazin bereits 1982 zum "Mann des Jahres" gemacht. Soll er doch nun die Buchstabensuppe selber auslöffeln, die er uns eingebrockt hat, der Stromer! Optical Character Recognition - kurz OCR - heißt die feine Art der Informationsvertilgung von heute. Man läßt lesen.

Schon schwärmen die Propheten der Künstlichen Intelligenz von Bibliotheken, die sich mit sich selbst unterhalten. Endlich können wir uns ganz auf Videoclips konzentrieren. Und die dämliche Frage schriftbesessener Ordnungshüter, ob man denn nicht lesen könne, wird hinfällig.

Aber können sie denn wirklich lesen? Ist Lesen nicht etwas anderes als optische Buchstabenerkennung? "Kopieren ist nicht kapieren" mahnen heutige Deutsch-Professoren ihre technisch hochgerüsteten Studenten.

Offenbar gehört zum Lesen doch ein innerer geistiger Vorgang, der den Menschen vom Computer unterscheidet. Um dies zu zeigen, hat der Computerkritiker Searle ein Gedankenexperiment aufgestellt: das "Chinesische Zimmer". Darin sitzt ein Mann, der Schriftzeichen - "Fragen" genannt - hereingereicht bekommt. Da er kein Chinesisch kann, ist er sozusagen ganz auf seine OCR angewiesen. Aber er kennt bestimmte Regeln, nach denen man solche Schriftzeichen verknüpft und reicht sie als "Antworten" wieder heraus.

Man würde doch wohl nicht annehmen, folgert Searle, daß dieser Mann chinesisch verstünde. Obwohl er äußerlich korrekt auf die Fragen reagierte, wisse er doch, daß er nichts verstand. Eine Maschine könne dieses Wissen nicht haben.

Ich finde diese Argumentation nicht sehr tauglich, um den Unterschied zwischen Mensch und Maschine zu beweisen. Auch Jenninger hatte behauptet, er habe gewußt, wovon er sprach.

War er also eine Lesemaschine?