Peter Matussek

Kopierkultur

 


Erschienen in: MACup BG2 (1989), S. 24–25.

 

     
 

Das beste Backup-Utility taugt nichts, wenn es vom User zu spät - sprich: gar nicht - eingesetzt wurde. MACup-Redaktuer Peter Matussek hat sich dieser Schwachstelle in der Mensch-Maschine-Beziehung angenommen und mögliche Therapieformen überlegt.

"... und vor allem: machen Sie Kopien, machen Sie unbedingt regelmäßig Kopien! Denn auf keine Festplatte ist hundertprozentig Verlaß; es kann immer mal etwas schiefgehen."

Wieder einmal hatte ich mit diesem goldenen Ratschlag eine Computer-Einführung abgerundet. Beim Hinausgehen empfahl ich dem dankbar lächelnden Kunden noch die eine oder andere Backup-Utility, fuhr im Vollgefühl meiner pädagogischen Tugenden nach Hause und setzte mich ans eigene Werk. Ich sollte einen Artikel über das Kopieren schreiben. Zweifellos war ich der Richtige für dieses Thema, wußte aber noch nicht, wie ich es eingrenzen sollte. Während mein Mac hochbootete, kam mir, wie so oft in diesem Moment, die plötzliche Eingebung: "Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert". Ich hätte nicht sagen können, warum, aber das war mein Thema. Wie oft tut man doch - so sinnierte ich, während ich weiter auf das Hochfahren der Festplatte wartete - genau dasjenige nicht, was man ständig sich und anderen predigt.

Das Booten dauerte diesmal ziemlich lange. Mit der Gelassenheit eines Power-Users erklärte ich mir die Verzögerung durch gelgentlich auftretende Schwierigkeiten beim Desktop-Aufbau, pfiff den Entsorgungs-Song "Don't worry, be happy" mit, der gerade im Radio lief und schielte nur so ganz nebenbei auf das Kontrollämpchen.

Das gab nicht einen Blink von sich. Meine gespitzten Lippen vermochten nur noch tonlose Luft auszupusten, bis ihnen auch diese im Würgegriff aufsteigender Panik ausging. Sie wird doch nicht…? sprach eine flehende Stimme aus meinem Inneren. Und was ist mit meiner Terminplanung für die nächsten drei Monate? Was mit dem sündhaft teuren Download von der amerikanischen Datenbank? Mit den glänzenden Algorithmen der vergangenen Nacht?

In diesem Moment begann das Kontrollämpchen zu blinken, der Startup-Sound intonierte sein "Halleluja" und nach einigen Schwierigkeiten beim Desktop-Aufbau zeigte mein Mac sich dialogbereit.

Den Angstschweiß von der Stirn wischen und ein neues Word-Dokument aufrufen war nun eins. Ich begann sofort mit der Niederschrift eines Traktats "Über die vernachlässigte Bedeutung des menschlichen Faktors bei der Erstellung regelmäßiger Backups als neues Aufgabengebiet der Psychologie nebst einem Anhang über mögliche therapeutische Maßnahmen".

Ich begann mit einer dramatischen Schilderung, wieviel unwiderbringliche Verluste an geistiger Produktivität die zivilisierte Menschheit schon hinnehmen mußte, nur weil sie vergaß, rechtzeitig Kopien ihres Tuns anzulegen. "Nun stellen Sie sich einmal vor," ermahnte ich meine Leser, "Sie haben ein geniales Werk geschrieben, das die Menschheit von ihren schlimmsten Schwächen kuriert. Nach einigen doppelten Jubel-Whiskeys sind Sie ins Bett gegangen, um Ihr Opus am nächsten Tag der Weltöffentlichkeit zu präsentieren. Aber Ihre Festplatte streikt. Ihr letztes Lebenszeichen war ein häßlich kratzendes Geräusch, mit dem der Lesekopf einmal quer über alle Ihre Daten schrammte. Ob des Whiskeys vom Vorabend haben Sie alles vergessen, was Sie geschrieben hatten. Das wäre doch schrecklich, oder?"

Mit dieser dramatischen Frage hatte ich meine Leser bei ihren tiefsten Ängsten gepackt. Jetzt mußte die überraschende gedankliche Wende folgen: "Helfen gute Vorsätze hier weiter?" fragte ich in rhetorischer Zuspitzung.

- Nach einer Gedankenstrich-Pause, die ich durch einen neuen Absatz verstärkte, hämmerte ich mein unerbittliches "Nein!" in die Tasten. "Denn" - so leitete ich geschickt zu meinem Thema über - "wie das Sprichwort sagt, ist der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert. Das beste Backup-Utility nützt eben nichts, wenn dem User das rechte Backup-Bewußtsein fehlt. Wer nach der Devise lebt, 'tausend mal kopiert, tausend mal ist nichts passiert'," so schürte ich die angefachten Ängste weiter, "der hat das Kopieren nicht kapiert. 'Morgen werde ich das Backup machen', denkt der User - mañana, wie der Spanier sagt. Und genau diese Mañana-Mentalität ist das Problem."

Nun konnte ich dazu übergehen, meine Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Statt gutgemeinter Ratschläge sei es erforderlich, die Kopierkultur zu fördern, indem man den abendländischen Hang zur Originalität mit Stumpf und Stiel ausrotte. Nur eine an diese Wurzeln heranreichende Psychotherapie könne den vom falschen Einmaligkeitswahn überwucherten Sinn fürs Duplikat, für die unschuldige Freude an der Nachahmung wieder freilegen.

Nun galt es, zu überlegen, welche Therapieformen geeignet seien und wie sie gegebenenfalls modernisiert werden müßten.

Ich begann, einen noch in frischer Erinnerung befindlichen Impuls überdenkend, mir den Sinn einer Urschrei-Therapie im kopiertherapeutischen Zusammenhang vor Augen zu führen. Die geräuschvolle Entladung aus tiefster Seele nach dramatischen Datenverlusten sei, so befand ich, gewiß gesünder als das selbstzerstörerische Herunterschlucken. Allerdings eigne sich dies Verfahren nur für Nachbehandlungen. Für die Prophylaxe komme es ebenso zu spät wie das vergessene Backup.

Vielversprechender schien mir da schon die Transaktionsanalyse. Sie könnte die Ursachen einer Kopierneurose aus einer mißglückten Mensch-Maschine-Kommunikation erklären helfen. So ist beispielsweise der technische Ignorant an der Formel zu erkennen: "Ich bin OK, du bist nicht OK". Ein solcher Mensch braucht keine Backup-Therapie, denn er hat nichts zu kopieren. Der Computernovize hingegen neigt in seiner ersten Schüchternheit zu der Einstellung : "Ich bin nicht OK, du bist OK." Aber auch dieser Menschentyp ist vor falschem Originalitätseifer gefeit; er kopiert eher zu viel als zu wenig. Der Power-User dagegen wird zum Problemfall, gerade weil seine Haltung dem transaktionsanalytischen Ideal - "Ich bin OK, du bist OK" -entspricht. Hier lauern Gefahren. Ein neu zu definierendes therapeutisches Ziel wäre die realistischere Erkenntnis (die übrigens auch zwischenmenschliche Kopierkomplexe, z.B. unter Yuppies, lösen könnte): "Ich bin nicht OK, du bist nicht OK - und das ist OK".

Hoffnungsvolle Ansätze entdeckte ich auch in der Verhaltenstherapie. Jeder Mensch weiß, wie wirkungsvoll sich ein früher Gewohnheitsdrill auf das Zähneputzen, Fernsehen und Zigarettenrauchen auswirkt. Dabei helfen kleine mnemotechnische Hilfen wie zum Beispiel der berühmte Knoten im Taschentuch. Warum also diese Erkenntnisse nicht übertragen auf die Kopiertherapie? Ein Knoten etwa im Kabel der Festplatte könnte da Wunder wirken.

So richtig tief hinunter aber in die Abgründe der kopierfeindlichen Seele, so überlegte ich mir, reicht nur die Psychoanalyse. Sie fragt nach den verdrängten traumatischen Erlebnissen, die eine Duplikatneurose verursachten. Meist liegen sie in der frühen Kindheit. Ein Fallbeispiel hatte ich mir schnell ausgedacht:

"X. war völlig außerstande, Backups zu machen. Natürlich hätte er allerlei Vorwände für seine 'Vergeßlichkeit'. Aber erst eine mehrjährige Analyse brachte ans Tageslicht, was die eigentliche Ursache war: er hatte in der Schule bei seinem Nachbarn eine wichtige Mathe-Arbeit abgeschrieben. Dieser Nachbar bekam für seine Berechnungen eine eins, X. aber eine sechs. Was war geschehen? Nun, er hatte versehentlich nicht die Mathe-Arbeit, sondern eine Seite des zufällig daneben aufgeschlagenen 'Word' -Handbuchs abgeschrieben. Ein fortan tiefes Mißtrauen verhinderte fortan, daß er sich aufs Kopieren hätte verlassen mögen. Stattdessen lernte er lieber ganze Festplatten auswendig."

Ich wertete den Fall aus, schrieb noch einige abschließende Bemerkungen, sicherte den Erguß und schaltete befriedigt meinen Mac ab. Den doppelten Whiskey hatte ich wirklich verdient. Mein Aufsatz würde die erschlaffte Kopierkultur aufrütteln. Gleich morgen wollte ich ihn auf Diskette kopieren und an den Verlag schicken. Während ich mir großzügig nachschenkte, überkam mich dieses merkwürdige Gefühl, irgendetwas vergessen zu haben.

Mein Bi-Gott, ja! schoß es mir durch den Kopf. Ich schaltete den Mac wieder ein, um endlich das zu tun, was ich mir schon seit etlichen Wochen vorgenommen hatte. Das bewußte Lämpchen, das ich nun schon etwas argwöhnischer beäugte, zögerte etwas, begann dannn aber artig zu blinken und ich konnte mein Backup-Programm aufrufen. Die komfortable Kopierhilfe zeigte mir den Stand des Verdopplungsvorgangs in einem Dialogfenster an. Als mein neuer Artikel dran war, gab es ein schrammendes Geräusch…

- Mein Therapeut meint, über das Ärgste wäre ich hinaus, so daß wir nun von der stationären zur ambulanten Behandlung übergehen könnten. Zum Abschied aus der Reproduktionsklinik gab er mir noch einen guten Rat mit auf den Weg: "Machen Sie Kopien, machen Sie unbedingt regelmäßig Kopien! "