Peter Matussek

Die totale Bescherung.
http:// oder: Wunscherfüllung im Cyberspace

 


Erschienen in: Frankfurter Rundschau, 22.12.1995, S. 8. [Wiederabgedruckt in: AGMB aktuell – Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen, Oktober 1997, Nr. 2, S. 11.]

 

     
 

Zu den unausgesprochenen Regeln des Wunschzettelschreibens gehört es, klare Forderungen zu stellen. Vagheiten setzen Weihnachtsmänner unter Streß. Am schlimmsten sind Mütter, die das Bestellangebot unterlaufen, indem sie Liebe oder – schlimmer noch – gar nichts begehren, statt zum Beispiel Marzipanherzen der Marke Substitut in der lila Vorratspackung.
Die besten Wunschzettel schreiben Kinder, die noch an den Weihnachtsmann glauben. Ihre Angaben über Prozessortyp, Speicherkapazität und Softwareausrüstung des begehrten Spielcomputers lassen an Präzision nichts zu wünschen übrig. Und nur, wenn am Heiligen Abend genau das geliefert wird, was auf dem Zettel stand, ist der infantile Glaube an den Himmelsboten für die nächste Saison gerettet.
Ewige Glaubenserneuerung für alle Menschenkinder ist uns nun verheißen. Das benutzerfreundliche World Wide Web, das jeden klar formulierten Wunsch auf Tastendruck herbeizaubert, macht den Heiligen Geschenke-Abend zur Dauereinrichtung. Um in den Genuß der permanenten Bescherung zu kommen, bedarf es wenig. Der notierte Wunsch muß nur den Regeln entsprechen.
"Ich wünsche mir" heißt korrekt geschrieben: "http://". Und dann folgt die genaue Objektbezeichnung. Wer etwa auf die Library of Congress mit ihren vier Millionen Titeln zugreifen möchte, der schreibt: "dranet.dra.com./lcmarc". Japanische Dekor-Malerei bekommt, wer "www.st.rim.or.jp" tippt. Und das komplette Verwöhn-Set inklusive Anal-Stöpsel zum Schleuderpreis gibt es bei "www.beate-uhse.com/uhse_sets.html."
Zugegeben: Die Leitungen sind durch den Andrang der Wunschzettelschreiber manchmal überlastet. Und da heißt es ein wenig warten, bis die Weihnachtsbotschaft ("nobi.ethz.ch/cgi-bin/bibel-query") auf den Bildschirm kommt. Die künftigen Datenautobahnen aber werden uns von den störenden Adventsresten bald erlösen.
Ihre Logistik verdankt sich der "memex"-Technik, wie sie ihr Erfinder, Vannevar Bush, genannt hat. Ausgehend vom Netzwerkmodell des menschlichen Geistes, schuf er ein Gedächtnissystem, das schlechterdings alles mit allem verbinden und speichern kann. Und was im Gehirn die Neurotransmitter leisten, besorgt nun, in der Weiterentwicklung von Bushs Erfindung, das Hypertext Transfer Protocol (HTTP), das alle Wunscherfüllungsdienste dieser Welt miteinander verwebt.
Für Ted Nelson, den Schöpfer des Wortes Hypertext, ist das aber erst der Anfang. Er hat einen ganz bestimmten Wunsch: "I want it all, and I want it now."
Dem Manne kann geholfen werden. Am Media Lab des Massachusetts Institute of Technology wird die totale Bescherung vorbereitet. Da wir mit der Suche nach Wunscherfüllung in den weltumspannenden Netzen maßlos überfordert wären, sollen uns kleine Dienstprogramme, "intelligente Agenten", dabei helfen. Diskret über unsere Einzelinteressen Buch führend, schaffen die digitalen Weihnachtsmännchen selbsttätig herbei, was sie in den Weiten des Cyberspace sonst noch an Passendem finden können. Schon mal zum Begriff der Informationsflut recherchiert? Fortan wird herangespült, was diesem Thema irgend ähnlich sieht. Taucht das Problem der Datenreduktion in Ihren Texten auf? Verwandtes wird sogleich in Hülle und Fülle auf den Bildschirm geholt.
Doch was ist das Ähnliche und Verwandte? Am "Music Recommendation System" (homr.www.media.mit.edu), dem Prototyp eines intelligenten Agenten, läßt sich das verdeutlichen. Wer sich ihm gegenüber als Bachliebhaber outet, wird in Zukunft auch mit Telemann beliefert. Miles-Davis-Hörer bekommen es mit Chat Baker zu tun. Und so weiter.
Dasselbe Prinzip läßt sich auf alle möglichen anderen Gebiete übertragen. Doch damit nicht genug. Es gibt digitale Agenten, deren Intelligenz fast schon humanes Niveau erreicht: Sie lassen andere für sich arbeiten. Treffen sie auf ihren Streifzügen durch die Netze einen Agentenkollegen, der ein ähnliches Nutzerprofil zu bedienen hat, fragen sie ihn aus und stopfen in ihren Gabensack, was dieser Interessantes zu bieten hat.
Kurz: Das Wünschen wird immer einfacher. Wir brauchen uns überhaupt nicht mehr darum zu kümmern. Was wir uns wünschen, das wissen unsere Agenten ja schon. Die wiederum bereichern ihr Wissen durch andere Agenten. Und so entsteht über ein kompliziertes Geflecht von Rückkopplungen eine wunderbare Ähnlichkeitsvermehrung: Da letztlich alles mit allem irgendwie zusammenhängt, befindet sich über kurz oder lang das gesamte Weltwissen in der eigenen Mailbox.
Aber was wird dann aus Ted Nelson? Wird er, wie alljahrlich die reuige Christengemeinde nach Bescherung und Festschmaus, seinen vollgeschlagenen Datenwanst einer Strafpredigt aussetzen und Abkehr von der Naschsucht geloben?
Dazu besteht kein Anlaß. Einschlägige Mahnungen zielen bei der virtuellen Völlerei buchstäblich ins Leere. Die Informationsbeschaffung aus dem Cyberspace gleicht, wie der Internet-Pionier Clifford Stoll bemerkt, dem Trinken aus einem Feuerwehrschlauch: "Man macht sich naß – und bleibt doch durstig."
Das ist kritisch gemeint, trifft aber ungewollt den Kern einer gottgefälligen Konsumhaltung. Datenströme gehören zu jener Art von Getränk, die der christliche Mystiker Nikolaus von Kues als seligmachend preist: "Und weil dieser Trank in Ewigkeit dauert, trinken die Seligen immer und werden niemals zu Ende getrunken haben oder gestillt worden sein." Und auch der digitale Christstollen ist gerettet: "Es ist klar," schreibt der Cusaner, "daß, falls diese Speise niemals fehlen würde, der Essende stets satt wäre und doch unaufhörlich dieselbe Speise erstrebte." Mit dem Wissen wächst das Nichtwissen und damit der Appetit auf neues Wissen und so weiter. Dies ist das Geheimnis der docta ignorantia, der gelehrten Unwissenheit.
Der Kreis der darin Eingeweihten wächst unaufhörlich. Demütig durchsuchen sie das Datenreich. Und da sie sich statt des Wissens mit bloßer Information begnügen, übertrifft ihr Asketismus den des mittelalterlichen Mystikers bei weitem. Wie Anachoreten sitzen die Informationsdurtigen und Netzhungrigen vor ihren Terminals. Reglos und entkörperlicht bis zur Katatonie, unterwerfen sie sich dem Exerzitium selbstvergessener Mausklicks, von gelehrter Leere zu geleerter Lehre levitierend, bis der Zustand der absolut leeren Leere erreicht ist. Schon nach wenigen Andachtsstunden vor den Bildschirm-Ikonen hat ihr Blick jene Glasigkeit angenommen, die das untrügliche Zeichen tiefen Eindringens in das Arkanum der Unwissenheit ist.
Im Idiota hat Cusanus den Zustand seliger Verblödung erstaunlich modern erläutert: Was wir erkennen, ist ein Netzwerk von Beziehungen, dem sich das Wesen der Dinge enzieht. In der unio mystica mit der konnektiven Struktur der elektronischen Gedächtnisse wird der Cybergnostiker eins mit ihrer Leere. Anders als es die tradierte Metapher suggeriert, sind die digitalisierten Daten-"Speicher" substanzlos – sie enthalten nichts als positive oder negative Zustände. Gedächtnisse bar jeder Erinnerung, entsprechen sie dem nur noch an manchen Klosterschulen gepflegten Ideal des reinen Auswendiglernens ohne hoffärtiges Verstehenwollen. Aufgeklärte Auswendiglerner sind da weiter: Das zu Merkende wird unter Umgehung des fehlbaren Hirns sofort auf Hard-Disks gebannt. Jeder Daten-Input drückt zugleich eine Delete-Taste in unserem Innern, ausgelöst von dem beruhigenden Impuls: Das kannst du getrost vergessen.
Falls doch noch hier und da eine ungetilgte Erinnerungsspur die Eingeweide zu belasten droht, sorgt ein perfektioniertes Ausscheidungssystem für rasche Erleichterung. Elektronische Mail, News-Groups und Online-Konferenzen sind, wie Eingeweihte wissen, weniger auf das Einholen als auf das Ablassen von Daten hin optimiert. Darüberhinaus fördert die elektronische Kommunikation durch ihren Verzicht auf Stimme, Gestik und andere Ballaststoffe des Selbstausdrucks eine alphanumerische Logorrhoe, die dem Ideal des flüssigen Schreibens erst seinen wahren Sinn gibt. Mit geringstem Aufwand – etwa der unspezifischen Adressierung an alle im Netz (*@*) – wird ein Abstrahlungsverhalten erreicht, das einen Feuerwehrschlauch vergleichsweise impotent erscheinen läßt.
Da der Informationsfluß schneller herausgeht als er hereinkam, können die Neu-Cusaner ihren Datendurst ungehemmt reklamieren: "Kathleen@ hat mich aufgefordert, sie weiterhin auf meiner maillist zu behalten; sie wolle zwar nicht auf mich eingehen, aber doch weiter von mir hören". So berichtet befremdet 'kaspaH', das im Cyberspace lebende Alter Ego eines Mitglieds der Hamburger 'Telematik Workgroup' (www.hfbk.uni-hamburg.de). Verfechter kritischer Subjektivität wie sie werden – schon aus Kostengründen – endlich begreifen müssen: Dem Netznießer gilt das Individuum wenig.
Noch weniger das eigene. Er dividiert und verströmt es in eine Simultanpräsenz, die überall und also nirgends anwesend ist. Web-Magazine bieten hierzu geeignete Polylog-Kurse an. Klagt ein Novize im kommunikativen Multitasking ob der Schwere der Übung: "Ich kann doch nicht zu Euch allen gleichzeitig reden", tröstet ihn sogleich eine erfahrene Netzpartnerin: "Es wird ganz natürlich mit der Zeit" (www.emedia.net/-feed). So ist es. Wer sich an die Streu-Effekte eines Web-Chats gewöhnt hat, wird ganz selbstverständlich anderen ins geschriebene Wort fallen, noch ehe die – viel zu beschäftigt mit der eigenen Selbstzernetzung – überhaupt formuliert haben, was sie sagen wollten.
Die Kunst nimmt hier, wie stets, künftige Entwicklungen vorweg. Aus der postmodernen Dezentrierung des Subjekts zieht die Hypertext-Avantgarde ihre Konsequenzen. Shelley Jackson etwa verstreut als Patchwork Girl ihre Frühstückseinfälle – nach dem Motto: "Ich bin viele" – über einen Story Space von 462 Verzweigungen. Gegen dieses Autorsubjekt nimmt sich das Multiple Personality Syndrom wie eine bloße Konzentrationsschwäche aus. Was in der digitalen Dissoziationswüste an Erinnerungsspuren bleibt, wird durch den orientierungslos herumklickenden Leser vollends zerstäubt. Restloser kann Selbstauflösung nicht sein. Und lehrten nicht schon unsere Vorfahren, daß die höchste Wunscherfüllung in der Selbstvergessenheit liegt?
Der Mensch, berichtet Nietzsche, fragte einmal das Tier: "Warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Thier will auch antworten und sagen, das kommt daher, dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergass es aber auch schon diese Antwort…."