Peter Matussek

Zug ist ein Ort in der Schweiz.

Modena ja, Maschine nein: Gero von Wilperts Goethe-Lexikon

 


Erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.10.1998, S. 34.

 

     
 

"Es soll ein Lexikon sein und nur ein Lexikon." Als Wolfgang Schadewaldt 1946 diese Maxime für das Goethe-Wörterbuch ausgab, galt ideologische Abstinenz als Gebot der sogenannten Stunde Null. Man wollte nicht durch ein Exempel deuterischer Freiheit zur Wiederholung des Klassikermißbrauchs ermutigen. So wurde ein homöopathisches Mittel gegen weltanschauliche Virulenz wiederentdeckt: die "Interpretation Goethes aus Goethe".
Aber hatte nicht gerade Goethe seine Leser aufgefordert, im Auslegen "frisch und munter" den eigenen Verstand, die eigene Phantasie zu gebrauchen? Es dauerte rund zwei Jahrzehnte, bis die neugegründete Rezeptionsgeschichte mit der Erkenntnis provozierte, daß jede Lektüre bewußt oder unbewußt durch das Interesse des Tages bestimmt ist, auch und besonders bei den selbsternannten Erbehütern, deren vermeintliche Ideologiefreiheit sie nun erst recht verdächtig machte. Auch die Achtundsechziger-Germanistik freilich hatte ihren blinden Fleck. Im Aktualisierungsdrang legte sie bisweilen nicht mehr aus, sondern nur noch unter.
Man muß sich diese doppelte Gefahr der falschen Vereinnahmung, die antiquarische wie die aktualistische, vor Augen führen, um zu erkennen, daß ein so unverfänglich scheinendes Unternehmen wie ein Goethe-Lexikon in Wirklichkeit einer prekären Passage gleicht. Die bisherigen Versuche sind denn auch zwischen Skylla und Charybdis kaum unbeschadet durch die Informationsflut der Goetheliteratur hindurchgekommen. Zeitlers dreibändiges Handbuch, zwischen 1916 und 1918 erschienen, ist heute nur noch als Dokument spätwilhelminischer Klassikerverehrung interessant; Zastraus Versuch einer philologisch ausgenüchterten Neubearbeitung blieb vierzig Jahre danach beim Stichwort "Farbenlehre" im Faktenwust stecken. Inzwischen allerdings, wiederum vierzig Jahre später und zeitig Goethes 250. Geburtstag im kommenden Jahr, hat der Metzler Verlag sein neues Goethe-Handbuch erfolgreich abgeschlossen, dtv kündigt ein "Who's who bei Goethe" an, und Reclam vertreibt bereits ein amüsantes "Goethe-ABC". Nun legt der Kröner Verlag Gero von Wilperts "Goethe-Lexikon" vor.
Gero von Wilpert, 1933 in Estland geboren und seit einem Vierteljahrhundert im fernen Australien beheimatet, ist ein bewährter Lexikograph. Sein "Sachwörterbuch der deutschen Literatur" gilt als Standardwerk, im Einmannbetrieb hat er unter anderem ein "Lexikon der Weltliteratur", ein "Deutsches Dichterlexikon" und eine "Schiller-Chronik" erarbeitet. Ein Goethe-Lexikon mußte da irgendwann kommen. Daß er dabei das Anecken vermeiden würde, war vorhersehbar. Programmatisch wirkt denn auch das Umschlagmotiv: Tischbein, Goethe in der Campagna, kanonischer geht es nicht.
Für eine gewisse Überraschung sorgt dann doch das Vorwort. Das erwartbare Bekenntnis zur Interpretation Goethes aus Goethe ("aus den Quellen selbst erarbeitet") versteckt sich fast hinter den Beteuerungen des Autors, sein Lexikon wolle "die Goethefreunde und Goetheleser von heute" ansprechen, "den gegenwärtigen Forschungsstand und die wissenschaftliche Diskussion" zumindest "spiegeln", ja als "Surplus" dem Leser mitunter auch "neue Perspektiven" eröffnen.
Was aber dieser risikofreudigen Captatio auf gut zwölfhundert Seiten in rund 4000 Artikeln folgt, bleibt auf sicherem Terrain. Da wird kaum eine Schweizer Ortschaft ausgelassen, die Goethe einmal durchreiste, und dafür jeder Hinweis auf die Orte vermieden, an denen Goethe gegenwärtig zu finden ist, etwa in der Digitalisierung der Weimarer Ausgabe und der Biedermannschen Gespräche, die ein weites Feld eingeweihten Gelehrtentums zur virtuellen Spielwiese deklassiert. Interlaken statt Internet – die Akzentuierung wäre plausibel, wenn sie einem Prinzip, dem der Konzentration auf den Horizont der Goethe-Zeit, entspräche. Doch das ist offenbar nicht von Wilperts Absicht. Posthume literarische Bearbeitungen Goethescher Motive und Figuren finden bei ihm ebenso Eingang wie Instrumentarien der Forschung, vor allem das Goethe-Wörterbuch, das die Herausforderung der neuen Medien inzwischen anzunehmen gelernt hat und bis zu seiner Fertigstellung (man ist jetzt beim Buchstaben G), noch viel Zukunft vor sich hat. Von solcher Dynamik freilich steht nichts in von Wilperts Artikel, der als Referenz nur Schadewaldt erwähnt. Allein der alphabetische Kontext, in dem das Goethe-Wörterbuch bei ihm steht, macht deutlich, welcher Blickwinkel sein Lexikon bestimmt: Goethe-Nationalmuseum, Goethe- und Schiller-Archiv, Goethe- und Schiller-Denkmal, Goethe- und Schiller-Gruft, Goethevereine – Verwahranstalten des 19. Jahrhunderts.
Nun ist unbestreitbar, daß die musealisierenden Bemühungen dieser Epoche noch heute weitgehend die Methoden der Goethephilologie bestimmen. Auf ihnen zu beharren, ist in den Zeiten des Medienwechsels fast schon wieder subversiv. Respekt verdient überdies, daß von Wilpert es offenbar nicht nötig hat, die Ferne vom aktuellen Betrieb mit naserümpfender Gestik zu nobilitieren. Hat man sich erst einmal klargemacht, welchem Interesse sein Lexikon folgt, läßt sich damit umgehen. Es handelt sich dabei um das rückwärtsgewandte Interesse einer Kompensation von Modernisierungsschäden, bei der all das ausgeblendet wird, was Goethe als unseren Zeitgenossen kenntlich machen würde: Statt "Moderne" finden wir "Modena", statt Vaucanson und Watt allein Watteau, statt "Experiment" "Externsteine". Zentrale Vokabeln des Alterswerks wie "Maschinenwesen" oder "veloziferisch" fehlen auf dem Index; es gibt in Gero von Wilperts Goethe-Welt keine Stichworte für den Telegraphen, die Dampfmaschine und die Eisenbahn (für "Zug" wohl, aber das ist hier wieder nur eine Ortschaft in der Schweiz). Erkennbar soll Goethe in die gute alte Zeit zurückgeführt werden. So ist nicht zufällig der Artikel über Technik, der sich dann doch noch findet, kürzer als der über Goethes Landgut Oberroßla.
Doch wäre ein Tor, wer von einem Lexikon ausgewogene Information erwartete. Jedes ist ein Kind seines Schöpfers, und wer sich das auch im Falle dieses schon ob seiner Emsigkeit imponierenden Unternehmens bewußt macht, mag dessen redlich biederen Charakter schätzen lernen. Seine generationsspezifischen Akzente dokumentieren gut, was der immer noch mächtige Mainstream einer konservativ-liberalen Goethe-Verehrung für wissenswert hält und zu meinen pflegt. Das Wissen wird hier, sieht man von kleineren Irrtümern ab, mit weiterführenden Literaturhinweisen sorgsam zusammengetragen. Und das Meinen ist von gutwilliger Art. So konnte etwa der erst 1828 eingedeutschte Begriff Sport die Modernitätsschranke passieren, freilich mit einem an das Vorbild mahnenden Fingerzeig auf unsere Jogging-Kultur: "Sicher lag G. nichts ferner als anstrengende Leibesübungen zur körperlichen Ertüchtigung". Dieser Hang zum Gemütlichen, der auch Kurioses nicht ausklammert, verleiht dem Buch seinen Charakter.
Und es ist dank seines bequemen Formats ohne anstrengende Leibesübung konsultierbar. Buchstäblich ein Hand-Buch für den Hausgebrauch, wird es seinen Platz im Griffbereich manchen Goethefreundes finden. Da steht dann "der Wilpert" womöglich neben "dem Büchmann". Für beide gilt: In der Wiedergabe des Landläufigen besteht ihre Stärke. Das ist in Ordnung, solange der Nutzer bedenkt, daß kein Lexikon nur ein Lexikon sein kann.

Gero von Wilpert: "Goethe-Lexikon". Kröner Verlag, Stuttgart 1998. 1227 S., Ln., 72 DM.