Peter Matussek

Schreiben im Medienwechsel.
Ein kulturhistorischer Vergleich

 


Vortrag mit Multimedia-Präsentation, 11. 1.2002, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

 

     
 

Hinweis: Die fettgedruckten, durchnumerierten Beamer-Anweisungen im Text beziehen sich auf die medialen Präsentationen, die mit dem nachstehenden Link aufgerufen werden können:

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1. Tabelle analog vs. digital

 

Wenn wir heute von "Medienwechsel" sprechen, dann ist damit meist der Übergang von den sogenannten "analogen" zu den sogenannten "digitalen" Medien gemeint.
Was aber sind die Merkmale analoger und digitaler Medien?
Hinsichtlich des Feldes der Schrift kursieren hierzu v.a. diese drei Unterschiedungsmerkmale:
Die "analoge" Schrift wird als
- statisch
- passiv und
- linear

charakterisiert, die "digitale "Schrift dagegen als
- prozeßhaft
- interaktiv und
- verzweigt
Wer sich nur ein bißchen mit Literaturgeschichte beschäftigt hat, wird keine Mühe haben, diese Begriffsoppositionen zu dekonstruieren, um im Alten das Neue und im Neuen das Alte zu erkennen:

 

Klick auf "Aspektwechsel"

 

So spricht in der Tat einiges dafür, konträre Zurodnungen vorzunehmen und zu argumentieren, daß
– der vermeintlich statische Text der prädigitalen Ära eine höhere Dynamik aufweisen kann als der vermeintlich prozeßhafte Hypertext,
– die vermeintliche Passivität der analogen Schrift weit mehr Interaktivität veranlassen kann als ihre elektronischen Spielarten
– und die vermeintliche Linearität des herkömmlichen Textes (der schon vom Wort her ein Netz ist) an polyperspektivischer Komplexität noch die outriertesten hypertextuellen Vernetzungsvarianten zu übersteigen vermag.
Es bringt die Debatte aber nicht weiter, wenn man, wie es häufig geschieht, derart dichotomisch argumentiert. Konfrontationen wie die hier angedeutete beruhen m.E. auf einem Kategorienfehler: nämlich der mangelnden Unterscheidung zwischen der technischen und ästhetischen Funktionalität von Schrift. Die Art der Rezeption eines Textes – daran muß heute offenbar wieder erinnert werden – läßt sich nicht deduktiv aus der Art seiner Aufzeichnungstechnik ableiten; meist steht sie sogar in einer Gegenbewegung hierzu. Der technologische Ansatz der Medientheorie bedarf daher der Ergänzung durch einen phänomenologischen. Erst die Interferenzen beider Perspektiven ergeben ein stimmiges Bild. Eine Kulturgeschichte der Schrift muß beide umfassen, andernfalls kommt es zu reziproken Verkürzungen.
Um die Fruchtbarkeit einer Kombination von Medientechnologie und Medienphänomenologie im Bereich der Schrift zu demonstrieren, beschränke ich mich angesichts der gebotenen Kürze auf ein Theorem, das beide berührt. Ich hoffe, daß Sie es mir in Düsseldorf nicht übel nehmen, daß dieses Theorem Konstanzer Provenienz ist, was aber schon dadurch einigermaßen ausbalanciert wird, daß es eigentlich Krakauer Wurzeln hat:

 

2. Litliste zu Iser

 

Ich meine das von Wolfgang Iser im Anschluß an Roman Ingardens "Unbestimmtheitsstellen" entwickelte Konzept der "Leerstellen". Ich werde mich aber nicht in Iser-Orthodoxie üben, sondern diesen Ansatz über das an ort und Stelle Gemeinte hinaus erweitern. Mit diesem Anliegen stehe ich nicht allein. Isers "Leerstellen" erfahren im aktuellen Diskurs über nichtliterarische Gegenstände, insbesondere im Hinblick auf neue Medien
– hier einige der impliziten und expliziten Bezugnahmen – eine nachholende Rezeption. Aber auch die Debatten um Intertextualität und Hypertextualität sowie ihre hsitorischen Vorformen können, wie ich zeigen möchte, von diesem Modell profitieren.

Iser beschrieb die Struktur der literarischen Leerstelle als "Besetzbarkeit einer bestimmten Systemstelle im Text durch die Vorstellung des Lesers". Damit vollzog er bereits die von mir vorhin auch für die Debatte um den Medienwechsel eingeforderte Kombination von technologischer und phänomenologischer Perspektive: Die Technik der Schrift nimmt er als "Systemstelle im Text" in den Blick, die ein bestimmtes Merkmal aufweisen muß: nämlich "besetzbar" zu sein durch die "Vorstellung des Lesers". Ich möchte diese Doppelperspektive im folgenden sowohl in systematischer als auch historischer Hinsicht erweitern:
In systematischer Hinsicht ist "Besetzbarkeit" einer Schriftstelle nicht erst durch ihre Literarizität gegeben, sondern bereits auf der Ebene der schieren Buchstabenerkennung.

 

3. Phyiologie des Lesevorgangs

 

Daß Texte uns zur Ergänzung von Leerstellen veranlassen, liegt schon in der Natur des Lesevorgangs begründet. Das ist nicht immer klar gewesen. An den Tachistoskop-Experimenten des frühen 20. Jahrhunderts hatte Friedrich Kittler
Klick auf Kittler
gezeigt, daß es die Versuchsanordnungen selbst waren, die zu der Fehlannahme vom seriellen Erfassen der Buchstaben führten – eine Fehlannahme freilich, die der technikgeschichtlichen Realität des maschinellen Schreibens entsprach. Allerdings läßt sich die physiologische Natur des Lesevorgangs auch 100 Jahre später nicht in dieses Schema pressen. Neuere Verfahren der Blickaufzeichnung

 

4. Augenbewegungen beim Lesen

 

machen deutlich, daß unsere Augen von einer Textstelle zur nächsten springen, wobei die Zwischenräume spontan mit Erinnerungsbildern ausgefüllt werden. Diese Ergänzungsleistungen können deshalb je nach persönlicher Situation des Rezipienten zu signifikanten Lesefehlern führen – so etwa, wenn eine studentische Hilfskraft beim Eintrag einer Warburg-Monografie in unsere Literaturdatenbank statt "Nachleben" der Antike "Nachtleben" tippt – und damit verrät, wo ihre Gedanken sind.

 

5. Klick auf "Versuche von Goldscheider und Müller

 

Zu ähnlichen Befunden führten schon die Versuche von Goldscheider und Müller 1893 –
Klick auf Lit
und zwar ebenfalls in Tachistoskop-Experimenten: Je nach dem Grad der Ähnlichkeit der kurz präsentierten Zeichengruppen
Klick auf drei Beispiele
war die Wiedererkennungsrate der Probanden höher oder niedriger.
Klick auf Ergebnisse
Henri Bergson hat daraus weitreichende Konsequenzen für seinen Begriff einer imaginativen Erinnerung gezogen.

 

6. Bergson

 

Klick auf Bergson-Lit.
Er folgert – und ich verändere das Zitat einmal entsprechend –:
Klick ins Zitat
"daß fließendes Lesen in Wahrheit ein Erahnen ist: unser Geist erfaßt da und dort schnell ein paar charakteristische Züge; den ganzen Zwischenraum füllt er mit Erinnerungsbildern aus, die er auf das Papier projiziert, wo sie die wirklichen gedruckten Buchstaben verdrängen, ersetzen, ja zu sein scheinen. So sind wir unaufhörlich schaffend oder rekonstruierend tätig".

Freilich ist das nur eine Analogie zu dem Modell von Iser. Seine "Leerstellen" beziehen sich nicht auf das buchstäbliche Schriftbild, nicht auf physiologische, sondern interpretatorische Vakuolen, die hermeneutische Kombinations- und Ergänzungsleistungen veranlassen. Daß diese aber nicht erst mit der Polyperspektivik des modernen Romans auftauchen, sondern zu den ältesten literarischen Verfahren überhaupt gehören, möchte ich an einem Autor zeigen, den der Altphilologe Wilamowitz-Moellendorff als "ersten echten Schriftsteller der griechischen Antike" bezeichnete, der aber zugleich immer wieder als radikaler Schriftgegener herangezogen wird: nämlich Platon.

 

7. Kommentare zu Platons Schriftkritk

 

Platons Dialog Phaidros fehlt in kaum einer Abhandlung zum Thema Schrift und Medienwechsel, und das hat seinen guten Grund: Hier finden wir alle Argumente zu den Vor- und Nachteilen von Aufzeichnungstechniken versammelt; und an der Rezptionsgeschichte dieses Dialogs läßt sich ablesen, wie unterschiedliche kulturhistorische Epochen das von Platon angesprochene Problem in Bezug auf die jeweils aktuellen Aufschreibesysteme zu verarbeiten gesucht haben.

 

8. Synopse

 

Der Dialog reflektiert den in Griechenland gerade erst vollzogenen Übergang von der Oralität zur Literalität.
zeigen: Schulunterricht
Milman Parry
Anklicken
war es bereits in den zwanziger Jahren des vorigen Jh. gelungen, den empirischen Nachweis für eine These zu erbringen, die seit August Wilhelm Schlegel ;immer wieder nur als Vermutung vorgebracht werden konnte: daß die homerischen Epen urspünglich kein schriftstellerisches Werk seien, sondern dazu bestimmt waren, gesungen, also mündlich überliefert zu werden. Anhand von Feldstudien bei den jugoslawischen Guslaren, die seinerzeit als letzte lebenden Epensänger galten, zeigte Parry;, daß charakteristische Stilmerkmale der homerischen Epen (formelhafte Wiederholungen, Rhythmik etc.) primär die Funktion hatten, besser im Gedächtnis behalten werden zu können, also nicht auf literarischen Formwillen, sondern die Erfordernisse einer oralen Mnemotechnik zurückgingen.
Parrys Beobachtungen sind vor allem durch die Veröffentlichung seines Schülers Albert B. Lord

 

Anklicken
aus dem Jahre 1960 bekannt geworden. Geradezu schlagartig erschienen in den folgenden Jahren eine Reihe bedeutender Untersuchungen zur Medienabhängigkeit von kulturellen Äußerungsformen, insbesondere zum Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit.
Die wichtigsten sind hier aufgelistet:
MacLuhan anklicken
Eric A. Havelock anklicken
An Platon freilich scheiden sich bis heute die Geister. Wenn er im Phaidros die Schrift kritisieren läßt, so tut er dies m.E. nicht, wie insbesondere von Havelock und Ong behauptet wird, indem er die herkömmliche Oralität gegen die neue Literalität ausspielt, sondern indem er das neue Medium selbstreferentiell macht und mit ihm die Aufmerksamkeit des Lesers für dessen Mängel weckt, so daß diese im Prozeß der Leküre transzendiert werden.
Es handelt sich hierbei um eine Frühform von Intertextualität – Jan Assmann nennt sie "Hypolepse" –, die den von der Schrift bewirkten Verlust an situativer Erfahrung, die die mündliche Rede mit sich bringt, durch literarische Strategien zu kompensieren sucht.
Der vermeintliche Schriftgegner Platon ist für dieses hypoleptische Verfahren m.E. repräsentativer als jeder andere antike Autor. Ich kann dies hier nur ausschnitthaft und in schematisch verkürzter Form darstellen:

 

9. Schema

 

Sokrates spricht in Platons Dialog mit Phaidros. Dieses Gespäch ist aber nur der Rahmen für ein anderes Gespräch:
Oral
dem zwischen Theut und Thamus.
Das sind der ägyptische Gott der Weisheit und der Schrift (den die Griechen Hermes nannten) und ein sagenhafter altägyptischer Gottkönig. Das Szenario hat Sokrates sich ausgedacht – er fingiert einen Mythos über die Erfindung der Schrift,
literal
der in kaum einer Abhandlung zum neuesten Medienwechsel fehlt:
Sokrates' Erzählung zufolge

 

9a. Klick oben auf "Kontext": Mythenbild mit Textstelle

 

soll Theuth seine Erfindung dem König gegenüber mit dem Verkaufsargument angepriesen haben, sie werde die Ägypter "gedächtnisreicher" machen. Thamus aber soll laut Sokrates geantwortet haben, daß das Gegenteil der Fall sein werde: Die Schrift, sagt er, "wird den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen mittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden." Theuth alias Hermes habe ein zweifelhaftes Mittel gefunden, das die "Mneme" gerade dadurch schwächt, daß sie sie stützt:

 

9b. Klick in Text Übersetzungen

 

Okoun mnemes alla hypomneseos pharmakon heures.

Schon die zahlreichen Übersetzungsversuche zu dieser Stelle machen deutlich, daß sich hinter der vermeintlich klaren Aussage hermeneutische Abgründe verbergen: So übersetzt eine Übersetzergruppe den Satz mit
Klick auf "Gruppieren"
"Nicht für das Gedächtnis, sondern für die Erinnerung hast Du ein Mittel gefunden"
während die andere genau das Gegenteil sagt:
"Nicht für die Erinnerung, sondern für das Gedächtnis".
Klick auf "verteilt"
Noch komplizierter wird die Sache dadurch, daß Platon

 

9. Fenster schließen: zurück auf Schema

 

seine im Gespräch über das Gespräch
oral'(zeigen)
enthaltene Schriftkritik
oral (zeigen)
seinerseuts schriftlich festgehalten hat:
literal (zeigen)
Dieser Selbstwiderspruch ist viel diskutiert worden. Ich glaube nicht, daß Platon sich seines literarischen Tuns in einem just davon handelnden Text unbewußt war. Ich glaube vielmehr, daß er ein Verfahren vorführen will, wie mit Schrift über die im Dialog herausgestellten Begrenzungen der Schrift hinauszugehen ist. Dieses Verfahren operiert mit wiederholten Spiegelungen von Literalität und Oralität. Systemtheoretisch gesprochen: Beide Formen der Medialität werden jeweils in sich und in ihrem Verhältnis zueinander auf die Ebene eines Beobachters zweiter Ordnung gehoben. Platon vollzieht damit eine Verschachtelung von Textebenen, die sich gegenseitig durch Rahmengebung relativieren und so jeweils als situativ bedingte Darstellungsebenen kenntlich machen. Die innere Verschachtelung des Textes setzt dabei eine Dynamik in Gang, die über ihn hinaus fortgesetzt wird: Es ist schlechterdings nicht möglich, den Platonschen Dialog zu lesen, ohne daß der Leser dieses schriftkritischen Werks daran erinnert wird, daß er selbst gerade Leser einer Schrift ist.
literal'''
Die Lektüre wird als situativer Akt erlebt – als "ich lese", das die Rezeption der Schrift aufgrund ihrer selbstreflexiven Struktur zwangsläufig begleitet und somit die literarisch fixierte Dialogizität im Verhältnis Buch-Leser re-performiert.

Was geschieht nun – und hier vollziehe ich den angekündigten konstrastiven Epochensprung – mit solchen literarischen Erinnerungstechniken, wenn Sie auf digitale Medien übertragen werden? Bietet sich die Hypertextstruktur nicht geradezu an, um derartige Verschachtelungen zu realisieren?

 

10. Platon-Amplifikationen

 

In der Tat gibt es zahlreiche derartige Adaptions- und Überbietungsversuche Platons.

 

11. auf Bolter:

 

Das Argument ist dabei immer wieder, daß der Hypertext die Lösung für die von Platon aufgezeigten Probleme der Schrift sei, weil er noch besser als Platons Dialoge Interaktivität ermögliche.

 

12. auf kolb:

 

Durch die Eingriffsmöglichkeiten in die Struktur von Texten
Klick Lit Kolb
entstehe eine zweite Oralität, die die erste an situativer Anpassungsfähigkeit noch übertreffe.
Das Argument geht zurück auf Walter Ong, den Freund und Schüler McLuhans, der im Anschluß an Havelocks Charakterisierungen der mündlichen Kultur der Griechen seine Prognose vom Anbruch eines Zeitalters der "sekundären Oralität" abgeleitet hatte: Die elektronischen Medien dementierten demzufolgedie von der Schrift bewirkte Distanzierung zwischen Autor und Leser; denn das globale Dorf biete Partizipationsmöglichkeiten, die die Merkmale der primären Oralität, Situations- und Adressatenbezogenheit, auf höherer Stufe erneuerten (1982, S. 136).
Wenn überhaupt, kann dieses Argument aber nur für andere als die bisher gezeigten Beispiele geltend gemacht werden, da diese keine Partizipations-, sondern nur a priori festgelegte Navigationsmöglichkeiten bieten.
Anders verhält es sich beim kollaborativen Hypertext, bei dem der Leser sich aktiv einschreiben kann.

 

13. rechts: auf Sherrin:

 

Hier ein Beispiel, das das an der University of Texas realisiert wurde:
Klick ins Bild
Der User kann in die Rolle von Sokrates' Gesyprächspartnern schlüpfen – z.B. Gorgias:
Choose persona – Gorgias wählen
Und nun entweder der vorgegebenen Dialogstruktur folgen
Klick auf: "Rhetoric is my Art"
oder eigene Antworten per Email-Formular eingeben:
"I'll tell you what a rhetorician is"
Klick auf Send
Die eingebauten Userantworten erscheinen dann wiederum als vorgegebene Alternativantworten.
Alternativantworten zeigen (Meanwhile...)
So verzweigt sich der Dialog dann gemäß der Dynamik der Leser-Zuschriften.

Was aber ist mit einer solchen Ermächtigung des Lesers literarisch gewonnen?
Nicht mehr und nicht weniger als eine faktische Besetzung der Leerstellen, die in der Auseinandersetzung mit einem vorgegebenen Text der kontrafaktischen Imagination vorbehalten waren. Sobald man anfängt, den Dialog interagierend umzuschreiben, wird man feststellen, daß er gar kein Gespräch war, sondern ein schriftlich komponiertes Gefüge von Fragen und Antworten, die gemeinsam teilhaben an einer wohlkalkulierten Dynamik, die zerstört wird, wenn man von der Dramaturgie abweicht.
Die Kombinationsoffenheit literarischer Leerstellen, die der Hypertext durch Verknüpfungen zu perfektionieren scheint, wird tatsächlich durch ihn nivelliert. Gerade weil die platonischen Dialoge invariant und nicht interaktiv sind, baut sich die Komplexität, die ich in meinem Schema angedeutet habe, in der Vorstellung des Lesers auf. Dagegen vollzieht die Nachgiebigkeit des Hypertextes gegenüber jedem Ebenenwechsel eine permanente Komplexitätsreduktion. Für enzyklopädische Anwendungen ist das – wie insbesondere Eco klar differenziert hat – ein enormer Vorteil, nicht aber unbedingt für ästhetische. Es ist also kein Zufall, daß bisher trotz angestrengter Initiativen zur Förderung der Hypertext-Poesie kein einziger Versuch wirklich überzeugen konnte. Schon macht das böse Wort von der "Klickeratur" die Runde. Denn dasjenige, was den Appellcharakter der Lektüre sonst ermöglicht: das Absehen vom Schriftbild, das wird hier durch Funktionsaufladung der Oberfläche behindert. Der Hypertext funktioniert nur als "Clickable Map", die als grafisches Objekt rezipiert werden muß.

 

Mit der Maus über Sherrins Layout fahren

Das heißt nun nicht, daß der Hypertext nicht auch Leerstellen aufbieten könnte, die eine ästhetische Transzendierung seines enzyklopädischen Charakters veranlassen. Doch hierfür sind Operationen vonnöten, die das vermeintlich Nebensächliche, das Erscheinungsbild der Schrift, betreffen: An der graphischen Oberfläche vollziehen sich alle maßgeblichen kreativen Innovationen des elektronischen Textes.
Während ein Leser von den Eigentümlichkeiten des Schriftbildes in der Regel absehen muß, um Texte zu verstehen – Aleida Assmann unterscheidet diesbezüglich das "reading" vom "gazing" –, muß sich ein Betrachter in die Oberflächengestalt versenken.

Sherrin-Fenster schließen


Spätestens seit Lessing, der sich wiederum auf Simonides' Formel "ut pictura poiesis" beruft, wurde diese Beobachtung immer wieder zur systematischen Differenzbestimmung von Schrift und Bild herangezogen. Im Laokoon versucht Lessing zudem, das Moment der Veranalssung von imaginativen Ergänzungsleistungen, das der Poesie aufgrund ihrer Nichtanschaulichkeit eo ipso eignet, auf die bildende Kunst zu übertragen, indem er den "fruchtbaren Moment" als den ergänzungsbedürftigen deklariert. Goethe erweitert diesen Befund dadurch, daß er davor warnt, literarische Leerstellen durch Bilder und umgekehrt piktorale Leerstellen durch Texte zu füllen: "Kupfer und Poesie parodieren sich gewöhnlich wechselweise", schreibt er seinem Verleger.

 

14. Toepffer

 

Dies hat ihn freilich nicht davon abgehalten, die "littérature-en-estampes" eines Rodolphe Töpffer – Vorläufer des Comic Strip – begeistert zu akklamieren. Auch hier aber ist es nicht die Zunahme an Bestimmtheit durch Addition der Medien, die sein Lob erntet, sondern gerade die Unbestimmtheit, die sich zwischen Bild und Text auftut und dadurch die Imagination des Rezipienten in Anspruch nimmt:
"Avec un texte moins frivole, Töpffer, … serait capable d'imaginer des choses qui seraient au-dessus de nos conceptions" notiert Soret.

 

15. Hypertext-Schriftbild

 

Wenn nun im Hypertext bildliche Elemente wieder zur Geltung gebracht werden – und zwar nicht nur durch die Einbindung von Illustrationen, sondern auch als Schriftbild, als Typographie, so ist dies ein Merkmal, das in der bisherigen Hypertexttheorie kaum Beachtung gefunden hat: Schon der von Ted Nelson geprägte Begriff "Hypertext" betont die Struktur gegenüber der Form: Die Hypotaxis, die Tiefenschachtelung, ist es, die als technische Besonderheit hervorgehoben und in strukturalistischen und poststrukturalistischen Modellen erörtert wird. Was dabei aus dem Blick zu geraten droht, ist die Parataxis, die gleichzeitige Anordnung verschiedener Textelemente auf einer visuellen Ebene. Hierin liegt m.E. das bislang kaum beachtete Innovationspotential des elektronsichen Textes. Seine Neuigkeit erweist sich gerade da, wo er vergleichbares Altes herbeizitiert.


16. Randglosse

 

Dem parataktischen Nebeneinander verschiedener Textebenen verdankte etwa die Marginalie in frühen Drucken ihre Inspirationskraft.
Solche Paratexte entfalten Ihre Potentiale erst, wenn Sie mit einer Sensibilität für das Erscheinungsbild der Texte einhergehen
Scroll
Dezidierte Ansätze einer "visuellen Poesie", die permutative Lektüren veranlassen, gab es freilich schon sehr viel früher:

 

17. Bsp. ägypt. Kreuzwort

 

Hier das Beispiel eines Kreuzwirthymnus aus der Zeit Ramses VI, der nach einer beigefügten Leseanweisung sowohl horizontal als auch vertikal und spiralförmig zu lesen ist.
Folgt man der These von Ulrich Ernst, dann vollzieht sich die Tendenz zur Ikonisierung von Texten mediengeschichtlich immer just da, wo die Evolution der Schrift soeben eine höhere Abstraktionsebene erreicht hat –

 

18. Beispiel Spieß: Gedächtnispforte

 

so findet zum Beispiel im Gefolge des Buchdrucks, die grundsätzlich eine Tendenz zur Gleichförmigkeit des Schriftbildes einleitet, als Gegenbewegung ein deutlicher Aufschwung der Verbildlichung von Texten statt
– hier als Bsp. die Gedächtnispforte von Spieß, die an ein Internet-Portal erinnert.
Und auf die Einführung der Schreibmaschine

 

19. Bsp. Panther

 

 

reagiert die konkrete Poesie mit figurativen Schriftbildern, die nach Ulrich Ernst das Desktop-Publishing mit seiner Amalgamierung von Autor und Layouter vorwegnehmen.
Ernsts These, daß die zunehmende Entkörperlichung der Schrift eine Re-Konkretisierung des Schriftkörpers nach sich zieht, ließe sich mit Verweis auf die neuesten Entwicklungen im Screendesign durchaus stützen:

 

20. Aufruf 3-D-Shockwave

 

Diese Entwicklungen verleihen durch 3-D-Visulaisierung dem Textbild eine neue Plasitzität.
Swing
Der Text wird hier buchstäblich zum "Clickable Object", dessen räumliche Dimensioniertheit nicht in der Flächigkeit der nächsten Hypertextebene verschwindet, sondern als räumliche ansichtig bleibt.
Walking: Tron einstellen
Dabei tendiert die Alphabetschrift zur vollständigen Autonomsetzung ihrer visuellen über die semantischen Aspekte: der Schriftkörper ist nicht mehr nur (wenn überhaupt noch) Übermittler von Botschaften, sondern performiert sich selbst.
Jump

Es bleibt abzuwarten, ob sich aus solchen Verräumlichungstechniken eine neue Entwicklungsstufe visueller Poesie ergibt.
Aus der bloß korrelativen Verknüpfung von Text und Bild jedenfalls, wie wir Sie derzeit meist vorfinden, geht sie gewiß nicht schon hervor – im Gegenteil: Unter dem Mandat der "User prompts" verschmelzen Lesen und Sehen zu einem reflexionslosen Reiz-Reaktionsprozeß.
Es gibt aber durchaus Ansätze, die eben diese Tendenz ästhetisch konterkarieren.

 

21. Legible City

 

Jeffrey Shaw etwa hat bereits 1988 mit "Legible City" visuelle Interaktivität und literale Reflexivität ästhetisch vermittelt. Seine Installation – der Besucher fährt mit einem Fahrrad durch virtuelle Standtlandschaften aus Worten und organisiert so seine individuelle Lektüre – greift die aktuelle Umstellung unserer Wahrnehmungsgewohnheiten auf, die zunehmend durch die Parallelität von Bild- und Textpräsentationen geprägt sind. Dabei zeigen neurologische Experimente, daß beim schnellen Wort-Bild-Wechsel der Tele-Medien unser Gehirn zwischen beiden Präsentationsformen manchmal gar nicht mehr umschaltet, sondern im Modus Wortverarbeitung Bilder analysiert. Die Architekturwerdung der Schrift trägt dem Rechnung.

 

22. Gopher

 

Gerade die Unschärfe und Unbestimmtheit, die auftritt, wenn Texte figurativen Charakter annehmen, kann angeischts einer Rezeptionsgewohnheit, bei der sich das Gazing vor das Reading schiebt, neue Leerstellen eröffnen, und Assoziationen stiften, die vom Konkretismus der Bilder normalerweise zugedeckt werden. Das Schriftbild wird so zum Fenster in Bereiche, die sich der positiven Darstellung entziehen.